Das Ende einer Ära, das Ende einer Kunstform: im Jahr 1959 hat sich die klassische Music-Hall-Tradition der Kleinkunst als Massenunterhaltung überlebt. Ihre neuste Konkurrenz ist der aufkommende Rock’n’Roll. Der alternde Zauberkünstler, der im Mittelpunkt von l’illusionniste steht, reist von Paris nach London, aber auch dort muss er mit einem Engagement bei einer Gartenparty vorlieb nehmen. Und dass er da von einem angetrunkenen Schotten für einen Auftritt in einem Pub auf einer Insel vor der schottischen Küste verpflichtet wird, ist auch nicht gerade ein Fortschritt. Als wäre der Schmach noch nicht genug, kommt er auf dieser Insel just zu dem Zeitpunkt an, als hier die Elektrizität eingeführt wird. Da mögen die Einheimischen das erste Aufflackern der Glühbirne einen kurzen Moment lang für einen Trick des Zauberers halten, langfristig jedoch eröffnet dies dem Pubbetreiber nur die Möglichkeit, das Live-Entertainment durch eine kostengünstigere Musicbox zu ersetzen.
Die junge Alice, die hier als Mädchen für alles arbeitet, bleibt die einzige, der seine Zaubertricks weiterhin imponieren. Beeindruckt ist sie auch von ihm selber, dem weitgereisten Mann mit dem Flair des Weltmännischen. Sie kümmert sich um sein Wohlbefinden – aus Dankbarkeit ersetzt er dafür eines Tages ihre abgetragenen Schuhe durch ein Paar neue, rote. Was ihren Glauben an seine magischen Kräfte noch bestärkt. So folgt sie ihm schliesslich auch nach Edinburgh, begierig darauf, die Öde der Insel hinter sich zu lassen. In der Künstlerpension, wo sie unterkommen, macht sie ihm den Haushalt, er überhäuft sie dafür mit teuren Geschenken, für die er zusätzliche Jobs annehmen muss, als Maler von Werbeplakaten, als Nachtwächter in einer Garage – in keinem kommt er mit den Anforderungen klar. Schliesslich lernt Alice einen jungen Mann kennen und lieben, der Zauberkünstler geht fort und hinterlässt ihr einen Zettel mit dem Satz «Magicians do not exist».
Es gibt keine Magie? Das Kino beweist immer wieder das Gegenteil, nicht nur mit aufwendigen Special Effects, sondern gerade in kleinen Momenten, die nicht auf Überwältigung zielen, sondern die Imagination des Zuschauers freisetzen. Etwa wenn Alice auf einer nächtlichen Strasse zwei Lichter auf sich zukommen sieht und sie befürchten muss, im nächsten Augenblick von einem Auto überfahren zu werden. Doch handelt es sich dabei nicht um ein Auto, sondern um zwei Motorräder, von denen das eine links, das andere rechts an ihr vorbeifährt. Die Kunst der Illusion funktioniert also ganz wunderbar. l’illusionniste ist voll von solchen Momenten, die die Wahrnehmung des ersten Blicks immer wieder Lügen strafen.
Dem Animationsfilm sind bei der Entfesselung seiner Imagination im Prinzip keine Grenzen gesetzt. Aber darum geht es l’illusionniste nicht, sein Tempo ist getragen, die Geschichte wird gradlinig erzählt, die Bilder wirken wie Tuschezeichnungen, ausgeführt mit feinstem Pinselstrich, aus dem die Liebe zum Detail spricht. Es ist eine vergangene Ära, die heraufbeschworen wird – und doch sind die Parallelen zur Gegenwart unübersehbar. Jemand, der im Jahr 2010 in dieser Manier einen Zeichentrickfilm herstellt, dürfte sich im Zeitalter der computeranimierten 3-D-Filme ähnlich fühlen wie ein Zauberkünstler fünfzig Jahre zuvor. l’illusionniste ist nicht nur eine Hommage an eine vergangene Kunst, sondern auch ein selbstreflexives Werk. Beides fällt in einer Szene zusammen, in der der Protagonist in Edinburgh in ein Kino geht und dort Jacques Tatis Mon oncle sieht. Denn der Protagonist von l’illusionniste trägt nicht nur den Namen Tatischeff (Tatis Geburtsname), er ist auch in seiner schlaksigen Gestalt und seinen Gesten, mit Trenchcoat, Schirm und Pfeife, Tatis Leinwandschöpfung Monsieur Hulot nachempfunden. Im Kinosaal sieht er sich gewissermassen selber zu. So überraschend ist das nicht, denn zum einen stammt das Drehbuch zu l’illusionniste von Tati selber, zum anderen hat Sylvain Chomet auch schon in Les triplettes de belleville diese Wahlverwandtschaft durch Verwendung eines Ausschnitts aus Tatis Jour de fête zum Ausdruck gebracht. Das lag bei einem Film über das Radfahren zwar nahe, aber in der Zeichnung dieser Welt liess Chomet darüber hinaus eine Seelenverwandtschaft erkennen. Und wie in Tatis Filmen ist auch bei ihm der Dialog eine vernachlässigenswerte Grösse.
Warum hat Jacques Tati dieses Drehbuch, das er zwischen 1955 und 1959 schrieb, nicht selber verfilmt? l’illusionniste ist ein schmerzhafter, ein persönlicher Stoff – in mehrerlei Hinsicht, zum einen als Selbstreflexion des Künstlers, zum anderen als ein Brief Tatis an seine Tochter, eine Liebeserklärung, aber auch eine Entschuldigung daür, sie vernachlässigt zu haben.
Aber an welche Tochter? An Sophie Tatischeff (1946–2001), die das Erbe ihres Vaters nach dessen Tod verwaltete und pflegte und die Sylvain Chomet die Verwendung des Ausschnitts für Les triplettes de belleville erlaubte? Oder an Helga Marie-Jeanne Schiel, seine ältere, uneheliche Tochter (geboren 1943, während Tatis Music-Hall-Zeit), deren Mutter Herta Schiel Tatis langjährige Bühnenpartnerin und Lebensgefährtin war? Um diese Frage ist ein heftiger Streit entbrannt.
Chomet vertritt die Auffassung, das Drehbuch beziehe sich auf Sophie Tatischeff (der er den Film gewidmet hat), für ihn spiegle sich in der 6-jährigen Arbeit am Film aber auch sein Verhältnis zu seiner eigenen Tochter (die zu Beginn der Arbeit zwölf Jahre alt war). Das hat den Zorn von Seiten der Familie Helga Marie-Jeanne Schiels hervorgerufen. Das Drehbuch sei Tatis einziges Eingeständnis seiner damaligen Schuld, argumentiert Richard McDonald, Helgas Sohn, in einem offenen Brief. Dass die Geschichte, die im Drehbuch in Prag spielt (wohin Herta Schiel, eine gebürtige Österreicherin, nach dem «Anschluss» zunächst floh), im Film nach Edinburgh verlegt wurde, sei ein zusätzlicher Affront. Chomet dagegen erklärte, er habe Edinburgh (wohin er sein Studio für die Arbeit am Film verlegte) gewählt, nachdem er sich während der Premiere von Les triplettes de belleville in die Stadt verliebt habe, zumal in ihr wechselndes Licht.
Die Verantwortung des Künstlers liesse sich auch in Bezug auf diesen Film problematisieren: Kannte Chomet den Hintergrund des Drehbuches? Wenn ja, hätte er ihn dann in seinen Film einfliessen lassen müssen? Ganz sicher wird man den Film mit dem Wissen um diesen Streit ein wenig anders sehen.