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Grandes ondes 05

Radio auf Abwegen: Les grandes ondes (à l’ouest)

Lionel Baiers Komödie ist eine poppig-charmante Collage, angesiedelt in den vom Aufbruch geprägten Nach-Achtundsechzigern mit Schlaghosen und Wollpullundern, mit Frauenemanzipation und freier Liebe, mit revolutionären Parolen und poetischen Visionen.

Text: Doris Senn / 06. Nov. 2013

Wir schreiben das Jahr 1974. Der junge Chef des Westschweizer Radios wird ins Büro eines der Bundesräte in Bern zitiert, und der liest ihm salbungsvoll die Leviten: Zu viel Kritisches sei auf seinem Sender zu hören. Dabei wollten die Leute doch nur eines: Unterhaltung! Und das möglichst volkstümlich! Der junge Radiochef will seinen Job behalten und zeigt sich einsichtig. Er glättet in der Folge die Inhalte der Sendungen und schickt ein Trüppchen nach Portugal, um die guten Taten der Schweiz im Ausland aufzuzeigen. Zum Reportageteam gehören zwei angegraute Männer – Reisereporter und Radiolegende Cauvin und Tontechniker Bob – und die frauenbewegte Julie. Zum ungleichen Trio stösst der junge Portugiese Pele als Übersetzer: Er ist ein Fan von Marcel Pagnol und möchte Filmemacher werden.

Zu viert reisen sie in der Folge mit ihrem SSR-stahlblauen VW-Bus quer durch die weite Landschaft Portugals – an Korkeichen vorbei und durch Pinienwälder – auf der Suche nach den Spuren schweizerischer «Entwicklungshilfe». Was sie finden, macht sie jedoch nicht glücklich: Die Unterstützung für eine Schule etwa entpuppt sich als läppische Uhr. Das vollmundig beworbene Siedlungsprojekt ist hoffnungslos versandet, und die von den Eidgenossen mitfinanzierte Kläranlage wird von einem Rassisten geführt, der vor laufender Kamera gegen die «Neger» poltert. Gerade wollen sich die vier unverrichteter Dinge wieder auf den Heimweg machen, als sie auf ein paar wirblige Kollegen des belgischen Radios treffen (Lionel Baier, Ursula Meier und Frédéric Mermoud in einem Cameo-Auftritt). Diese erzählen den ahnungslosen Schweizern von einem Aufruhr in der Hauptstadt – und die können gerade noch rechtzeitig kehrtmachen, um sich vom Trubel der «Nelkenrevolution» mitreissen zu lassen …

Les grandes ondes (à l’ouest) ist eine poppig-charmante Collage, angesiedelt in den vom Aufbruch geprägten Nach-Achtundsechzigern mit Schlaghosen und Wollpullundern, mit Frauenemanzipation und freier Liebe, mit revolutionären Parolen und poetischen Visionen. Leichtfüssig und beschwingt verbindet der Westschweizer Regisseur Lionel Baier Politsatire mit Komödie, Zeitporträt mit Roadmovie und Gershwins «Porgy and Bess» mit Pussy Riot. Dabei trifft die Schweiz mit ihrem muffigen Zeitgeist auf ein Portugal im Zeichen der Revolution – ein nostalgisch gefärbter Culture Clash.

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Der achtunddreissigjährige Regisseur Lionel Baier gehört zu den wohl umtriebigsten Filmemachern zurzeit in der Schweiz. Zusammen mit seinen «cinécopains» Ursula Meier (Home, Sister), Jean-Stéphane Bron (Mais im Bundeshuus, L’expérience Blocher – und hier in der Rolle des SSR-Radiochefs zu sehen) sowie Frédéric Mermoud (Complices), mit denen er die Produktionsfirma Bande à part gegründet hat, hat sich die “Viererbande” innert kurzer Zeit zu einem eigentlichen “Brand” des Westschweizer Autorenfilms gemausert und sorgt mit ihren Filmen auch für internationales Renommee: in Frankreich, Belgien (wo Ursula Meier lebt), aber auch in den USA, wo Baiers Garçon stupide einen Verleih fand.

1999 schuf Lionel Baier als Autodidakt seinen ersten Kurzfilm, Mignon à croquer, und reiht seither erfolgreich Film an Film. Zu Beginn waren es insbesondere Dokumentarfilme, in denen er Autobiografisches auslotete. Etwa sein Aufwachsen als Sohn eines protestantischen Pfarrers und seine (homosexuelle) Identität mit Celui au pasteur (2000) oder La Parade (notre histoire) (2001) über die umstrittene Queer Pride im Wallis 2001 – oder auch 2006 im Spielfilm Comme des voleurs (à l’est), in dem Baier die Hauptrolle innehatte und den polnischen Wurzeln seiner Familie nachspürte. Doch auch sein Wissen um Film und cineastische Vorläufer – etwa seine Hochschätzung der Westschweizer «Groupe 5» – prägen immer wieder sein Schaffen. So schuf er mit Garçon stupide (2004) eine postmoderne Version von Alain Tanners La salamandre mit schwulem «twist», mit Toulouse (2010) ein an Michel Soutter erinnerndes Roadmovie oder – als charmante Hommage an den Westschweizer Filmemacher – das Porträt Bon vent, Claude Goretta (2011).

Mit Les grandes ondes (à l’ouest) realisierte das Regietalent sein bislang wohl heiterstes Œuvre – eine schwungvolle Komödie und eine Schatzkiste voller humorvoller Gags. Cinephil mit Haut und Haar, frönt Lionel Baier seinem Flair für das Spiel mit filmischen (Selbst-)Referenzen und kreiert so mit seinem jüngsten Spielfilm ein unbekümmert leichtes Roadmovie zwischen Swissness und Saudade.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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