Jule (Ophélia Kolb) parkiert ihre drei Kinder in einer Kneipe und macht sich mit dem Versprechen aus dem Staub, sie bald wieder abzuholen. Aus Minuten werden Stunden, die Sonne nähert sich dem Horizont, und irgendwann fassen die Kinder den Entschluss, auf eigene Faust nach Hause zu wandern – auch wenn dies das Überqueren einer Autobahn bedeutet.
Jasmin Gordons Les Courageux ist ein geradezu herausfordernd empathisches Doppelporträt einer verzweifelten, zwanghaft lügenden Frau und ihrer Kinder, die mit den Widersprüchlichkeiten dieser Situation konfrontiert werden: Wie geht man mit acht, neun, zehn Jahren mit der Tatsache um, dass die Realität, wie Mama sie einem erzählt, sich nicht mit der eigenen – frustrierend begrenzten – Perspektive zu decken scheint?

© Outside the Box
Es ist nicht schwer, mögliche Inspirationen und analoge Werke zu Gordons Langspielfilmdebüt zu finden. Mit ihrer betont naturalistischen Inszenierung, ihrer episodischen Handlung und ihren kalkulierten Momenten, in denen die brodelnden Emotionen überkochen, erinnert diese Geschichte von überforderten Kindern und ihren ebenso überforderten Eltern immer wieder an gewisse Werke von Ursula Meier (L’Enfant d’en haut, La Ligne) und den Dardenne-Brüdern (Le Gamin au vélo, Deux jours, une nuit).
Selbst die thrillerartigen Einschläge – etwa Jules kontinuierlicher, nicht immer legal geführter Kampf, finanziell zu überleben und im Austausch mit Freund:innen, anderen Eltern und Autoritätsfiguren das Gesicht zu wahren – wirken bisweilen wie ein Echo von Éric Gravels Mutter-am-Anschlag-Sozialdrama À plein temps (2021).

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Durch Originalität zeichnet sich Les Courageux also nicht aus. Doch der Film kompensiert diese vielleicht übermässige Genre-Hörigkeit mit seinem Vertrauen in die Auffassungsgabe des Publikums. Weil sie sich 80 Minuten lang in immer haarsträubenderen Lügengebilden verliert, und weil der nötige Kontext ihrer schlechten Entscheidungen aufgrund der kindlichen Erzählsicht oftmals ausbleibt, ist Jule eine Protagonistin, die konstant irritiert.
Und genau in dieser Undurchsichtigkeit findet Gordon die Menschlichkeit der Affiche. Jule für ihr Verhalten partout zu verurteilen, wäre einfach – doch die fein beobachteten Alltagsszenen von Les Courageux helfen den Zuschauer:innen dabei, die emotionalen und narrativen Lücken der Handlung ein Stück weit zu schliessen und zu erkennen, dass Empathie auch dann notwendig ist, wenn sie einem nicht selbstverständlich erscheint.