Jene spätere Lehr- und Wanderzeit, die mehr zu erbringen hat als die Loslösung vom Elternhaus und das Fussfassen im Beruf, beansprucht bei den meisten Nachwachsenden, einerlei welchen Geschlechts, sechs bis sieben Jahre. Es geht zwischen einundzwanzig und vielleicht siebenundzwanzig darum, die eigene Identität zu umschreiben und namentlich die sexuellen und amourösen Antriebe zu justieren. Liebe und Liebelei, Zuneigung und Freundschaft wollen unterschieden, eine Haltung im Geflecht der persönlichen Beziehungen angeeignet werden. Die ersten wirklich lebensbestimmenden Entscheidungen sind fällig.
Mit Jahrgang 1989 ist Xavier Dolan noch zu wenig abgekämpft, als dass er in all den vielberedeten Fragen rechten oder richten möchte oder könnte. Immerhin reicht die aufgelaufene Erfahrung für eine solide erste Idee davon, worauf Les amours imaginaires sich einlassen will. Leitmotive sind der Mangel an Gemeinschaftsgefühl, Selbstsicherheit und Zielstrebigkeit, das blanke Unwissen während der bewussten Phase des Übergangs und wohl auch die ganz gewöhnliche Wurstigkeit. Dabei scheinen Francis, Marie und Nicolas, die Helden, schon passabel voran
geschritten und wähnen, soweit es sie kümmert, mit allem Praktischen ganz flott zurande zu kommen.
Munter oder jedenfalls demonstrativ und sogar etwas selbstgefällig leben sie zu Dritt in den Tag hinein und gewähren einander halbwegs kameradschaftlich sämtliche Freiheiten, zuvorderst auch die von jeder Verantwortung. Es bleibt zufällig, wer in der Mitte des geteilten Lagers schläft, links und rechts von den beiden andern, und wer einen wärmenden Halt an wem sucht; wer zu wieviel Prozenten gerechnet gleich oder ungleich geschaltet ist oder doppelspurig verkehrt; wer das eine oder andere vorspielt oder keine Blasse davon hat. Ebenso wenig fragt sich, was die selbstauferlegte Ehrlichkeit und unterdrückte Eifersucht auch wieder zu verheimlichen vermag: oder was dadurch ans Licht kommt, dabei bliebe es besser unterm Deckel.
Einsamkeit in Triolenbesetzung
Nach welcher Richtung bewegt sich dann ein jeder von den Dreien, ohne auch nur selber seine Absichten wirklich zu durchschauen? Einer von ihnen wird im dritten Rang enden müssen und einer im zweiten, doch was mit dem Erstplazierten geschehen soll, berührt niemanden. Denn jemand fällt immer aus der engeren Allianz zwischen den beiden andern heraus und kommt abhanden, sicher mal für eine Weile ausser Landes. Einsamkeit in Triolenbesetzung, so könnte der erste Schluss lauten und auch gleich der letzte: am Ende und am Anfang. Irgendwann schleicht sich die Auflösung der Idylle unweigerlich durch die Hintertür herein.
Mit andern Worten, die Lieb- und Freundschaften erweisen sich als imaginär; sie sind so flugs herbeigewünscht und bekräftigt wie ausserterminlich aufgekündigt und handkehrum abgeschmettert. Es gilt auf die Einsicht zu warten, dass wenigstens nachträglich noch ein Verständnis zu finden wäre, nur eben: später, also vielleicht nie. Und jeder ist wieder auf sich zurückgeworfen, aber einstweilen geht’s wei-ter wie bis anhin, allerdings jetzt eingebildet. Was immer subito einzutreffen sich weigert, wird einer ganz und gar unbekannten Zukunft gutgeschrieben. Und alle nennen es Jugend.
Statt einer linearen Logik und schlüssigen Abläufen zu folgen, wie sie in jedem Drehbuchseminar angeordnet werden, summiert der Autor Momente und Situationen zu einem Ganzen. Kaleidoskopisch gliedern sie das Geschehen und Geschehenlassen auf: eine Entwicklung oder einen Stillstand, Zentrales und Beiläufiges, Geratenes und Missglücktes. Gibt es überhaupt so etwas wie Improvisation; und was wäre dann das Gegenteil davon; wann darf zudem von Spontaneität die Rede sein, und wie lange kann die heisserwünschte Frische bestenfalls hinhalten, ehe sie verdirbt? Anhand von Les amours imaginaires liesse sich die alte Diskussion wieder ganz unbeschwert von Anfang an führen.
Falsche Fehler
Routine, wie sie Xavier Dolan abgeht, ist eine zweischneidige Qualität, im Leben und im Film; sie erschliesst gerade so viel, wie sie wiederum verschliesst. Was jemand in ungefestigtem Alter einzig an die Stelle zu setzen hat, sind Dringlichkeit, Unmittelbarkeit
und Regelbruch: das todesverachtende Machenmüssen an allen Schwierigkeiten vorbei, angefangen damit, dass der Wunderknabe sich auch gleich eine der Hauptrollen zuteilt. Sollte schon alles irgendwie scheitern. Gescheiter werden wir morgen.
Provokativ das Verpönte tun gehört ganz vorne dazu. Die mutwilligen Verstösse gegen die Konvention aufzuzählen wäre etwas gar eintönig. Der auffälligste wiederkehrende falsche Fehler ist der ausgelassene Schnitt. Bei der Aufnahme bezeichnet die Kamera mit zartem Bildwink eine denkbare Stelle, doch schlägt dann die Montage das Angebot aus, um die Einstellung unbehelligt weiterlaufen zu lassen: Hüpfer hin, Hüpfer her. Hier, an diesem Punkt hätte die Regie trennen können, an so vielen andern allerdings auch. Unwillkürlich hält der Betrachter inne, augenblicklich irritiert, und schaut dann doch weiter, wenn’s gut geht mit verschärfter Aufmerksamkeit. Eine Gelegenheit hat der Film verpasst, eine dazugewonnen.
Die Methode ist keineswegs geläufig, gefällig und orthodox, aber sie verstärkt nachhaltig den Eindruck, es sei von Planung wenig gehalten worden und viel mehr vom Ungeplanten. Ein Übriges richtet das mundartliche «Québécois» an, das der Film parliert: ein Französisch wie aus dem achtzehnten Jahrhundert, aber gespickt mit amerikanischen Vokabeln. «C’est fun», sagen sie alle paar Minuten und meinen damit, die Sprachgrenzen kühn überspringend, es mache Spass. Sämtliche Mono- und Dialoge zu verstehen, entspricht indessen keiner Notwendigkeit für das europäische Publikum. Alles Mitteilenswerte besagen die Gesten und Gesichter der Darsteller.
«Allez, on y va!»
Wie sein Erstling J’ai tué ma mère unlängst verdeutlicht hat, ist Dolan gewiss ein Nachfahre der «Nouvelle Vague»: der jüngste seiner Art und wohl darum von besonderer Konsequenz. Die Leitfilme von François Truffaut scheinen auch in Les amours imaginaires wieder durch. Indessen hat der Zauberlehrling die Nachfolge wohl so sehr umständehalber wie aus eigenem Entschluss angetreten. Denn es könnte sein, dass jedes Anfangen am Nullpunkt kaum etwas anderes zulässt als einen Rückgriff auf jenes in Jahrzehnten erprobte: «allez, on y va!» Bloss kein langes Fackeln mehr oder störende Zweifel. Auf geht’s, die Geister sind gerufen. Die ersten falschen Fehler werden die letzten sein.