Es gibt Filme, für die man vorbehaltlos Partei ergreifen möchte. Nicht weil sie stilistisch perfekt wären oder eine bestimmte moralische oder politische Haltung einnehmen würden, sondern schlicht deshalb, weil sie einem etwas Wichtiges zu sagen haben. Weil sie einem etwas über den Zustand der Welt erzählen, ohne das Kino als Bildungsanstalt zu verstehen, und weil man in ihnen etwas über sich selbst lernen kann. Solche Filme sind sogar im französischen Autorenkino seltener, als man meinen möchte, denn dazu braucht es schon die Leichtigkeit eines Jacques Rivette wie etwa zuletzt in 36 vues du pic saint loup oder die Schwermut eines Philippe Garrel wie unlängst in la frontière de l’aube. Umso überraschender, dass sich in den Filmen der erst neunundzwanzigjährigen Autorin und Regisseurin Mia Hansen-Løve beides findet: eine kraftvolle Leichtigkeit der Inszenierung und eine hoffnungsvolle Traurigkeit der Erzählung.
Diese Dichotomie beginnt bereits in den Titeln ihrer zwei bisherigen Spielfilme: tout est pardonné heisst ihr erster, vor drei Jahren entstandener Debütfilm, der von einer kleinen Familie erzählt, die den Belastungen des Lebens nicht standhält. Entgegen dem Titel des Films kann die Österreicherin Annette ihrem französischen Mann Victor nicht verzeihen, was er aufgrund seiner Drogensucht ihr und ihrer gemeinsamen kleinen Tochter Pamela angetan hat. Sie lässt Victor allein in Paris zurück und beginnt mit ihrer Tochter ein neues Leben, während das des Vaters tragisch endet. Doch Hansen-Løve geht es nicht um die Dramatik der Beziehung oder die Tragödie der Trennung, sondern darum, wie einfach es ist, jemanden zu verurteilen. Und wie schwierig es sein kann zu verzeihen – vor allem sich selbst.
In ihrem zweiten, aktuellen Spielfilm Le père de mes enfants ist es erneut eine Familie mit Kindern, die mit Trauer und Verzweiflung zurande kommen muss, und auch hier spiegelt bereits der Titel die Ambivalenz der Erzählung wider, indem Nähe und Distanz zusammengeführt werden: Grégoire ist ein liebevoller Vater, der wie Victor – wenngleich auf andere Weise – seine Familie im Stich lässt. Nicht nur, weil er dem finanziellen Druck nicht mehr standhält und freiwillig aus dem Leben scheidet, sondern weil er sein bedrückendes Geheimnis niemandem – auch nicht seiner Frau Sylvia – anvertrauen kann. Sowohl in Tout est pardonné als auch in Le père de mes enfants geht es darum, den Schein zu wahren, die Belastungen des Lebens zu kaschieren. Es könnten somit bittere Filme über das Scheitern und den Verlust sein, wenn Mia Hansen-Løve nicht beide Male eine überraschende, abrupte Zäsur ziehen und den Blick auf die Zurückgelassenen werfen würde. So erwächst in beiden Filmen völlig unsentimental und mit wunderbarer Leichtigkeit aus der Trauer neue Kraft.
Le père de mes enfants beginnt mit Bildern von belebten Pariser Strassen: Während die bunten Buchstaben des Vorspanns eine Fröhlichkeit und Vitalität ausstrahlen, erfasst die Kamera einen Mann mittleren Alters, der geschäftig telefonierend in seinen Wagen steigt und zu seiner Frau und seinen drei Töchtern aufbricht. Bereits zu Beginn genügen Hansen-Løve wenige Minuten, um zu zeigen, wie der Filmproduzent Grégoire Canvel an mehreren Fronten kämpft: seine Firma hat Finanzprobleme, die Dreharbeiten in Schweden geraten ausser Kontrolle, und überdies wird die Heimfahrt von einer Polizeistreife gestoppt. Doch immer wirkt Grégoire, stets im eleganten Anzug, souverän, selbst wenn ihn seine Frau im Kleinwagen von der Wache abholen muss. Seine älteste, siebzehnjährige Tochter sei eine Schwarzseherin, beklagt sich seine Frau abends bei ihm, so pessimistisch wie ihr Vater. Wenn er traurig sei, wisse er aber warum, entgegnet Grégoire, bei der Tochter hingegen sei das metaphysisch. Auch hier, im gediegen schönen Landhaus am Familienwochenende, zeichnen sich zunehmend die Schatten ab, die Grégoire zu verschlucken drohen. Dieser Mann trennt nicht Privates und Berufliches, weil er seinen Beruf als Berufung begreift: das Kino ist seine Passion, koste es, was es wolle. Es wird ihm das Leben kosten.
Diesen Kampf verlegt Hansen-Løve auf natürliche Weise in die Schauplätze selbst: Das unablässige Pariser Treiben steht hier der scheinbar idyllischen Provinz gegenüber, so wie in Tout est pardonné das ruhige Leben in Wien der Pariser Hektik entgegensteht. Doch jeder Mensch, so kann man in diesen Filmen erfahren, hat sein eigenes Lebenstempo: Einmal besucht Grégoire mit seiner Familie eine alte Templerkirche und referiert über die Geschichte des Ordens. Es ist eine Geschichte des Aufstiegs und des Falls an einem Ort, an dem die Zeit auch für Grégoire kurz stillsteht. In Tout est pardonné wiederum sieht man die Familie einmal auf der Reichsbrücke stehen, und Victor erzählt seiner sechsjährigen Tochter, wie diese grösste Donaubrücke Wiens einmal eingestürzt sei. Ob das wieder passieren könne? Natürlich nicht, meint die Mutter: «Brücken sind unzerstörbar.» Doch das sind sie natürlich nicht, aber – und darum geht es in Wahrheit – sie können wieder aufgebaut werden.
Mia Hansen-Løve, die Schauspiel und Philosophie studierte und vor ihrem Spielfilmdebüt als Autorin für die «Cahiers du Cinéma» schrieb, hat mit le père de mes enfants natürlich zugleich einen Film über das Kino selbst inszeniert. Doch auch wenn die Plakate an den Wänden des Produktionsbüros von Grégoire aus seinen Lieblingsfilmen wie poto and cabengo stammen oder der die Dreharbeiten zum Stillstand bringende Regisseur an Bela Tarr erinnert – Hansen-Løve liegt es fern, eine vorbehaltlos cinephile Innenansicht zu entwickeln. Obwohl dieser Film sehr viel mit dem Tod des Produzenten und Mentors Humbert Balsan zu tun hat, der – bevor er sich im Februar 2005 das Leben nahm – Filme von Youssef Chahine, Claire Denis oder Lars von Trier produzierte und auch für Hansen-Løves Debütfilm massgeblich verantwortlich war, reicht Le père de mes enfants weit über die tragische Biografie eines Kinobesessenen hinaus.
Tout est pardonné und Le père de mes enfants sind Filme, die, weil sie der inneren Bewegung ihrer Figuren nachspüren, selbst immer in Bewegung bleiben und deshalb auch mit einem physischen Aufbruch enden: In Tout est pardonné flaniert die mittlerweile jugendliche Pamela, die den Vater wieder gefunden und erneut verloren hat, über -eine grüne Wiese dem Wald entgegen. In Le père de mes enfants fahren Mutter und Töchter zu «Que sera, sera» von Doris Day aus Paris hinaus in Sylvias italienische Heimat – ein Lied, das vom Akzeptieren des Schicksals erzählt und von der Vergänglichkeit der Zeit.
Es mag Zufall sein, dass die Filme von Mia Hansen-Løve in gewisser Weise an jene von Sandrine Veysset (y aura-t-il de la neige a noël?) erinnern, eine im deutschsprachigen Raum mittlerweile beinahe vergessene Filmemacherin, die ebenfalls von Humbert Balsan gefördert wurde. Auch Hansen-Løves Filme sind voller dunkler Flecken und doch – gerade am Ende – von überraschender Helligkeit. Das mag an ihrer Sensibilität liegen und daran, wie sie die innere Zeit der Figuren mit der Erzählzeit des Geschehens in Verbindung setzen; vielleicht aber auch an ihrer schönen Traurigkeit. «Warum sprichst du immer über Dinge, als ob du sie nicht ändern könntest?», möchte Annette in Tout est pardonné von Victor wissen – ohne zu erkennen, dass alle Dinge, die man ändern möchte, ihre Zeit brauchen. «Werde nicht wie er», meint die älteste Tochter in Le père de mes enfants zu ihrer Mutter, als diese den aussichtslosen Kampf um den Erhalt der Firma beginnt. «Sein Tod macht sein -Leben nicht sinnlos», antwortet diese, «der Tod ist nur eine Sache von vielen, die einem passieren.» – «Wie kannst du so etwas sagen?» – «Das hat er gesagt.»