Schon der Titel kündigt von Niedergang: Le démantèlement lässt sich übersetzen mit «Zerschlagung», «Zerstörung». Um eine solche geht es vordergründig in diesem Drama: Als seine ältere Tochter sich in finanzieller Not an ihn wendet, entscheidet sich der dreiundsechzigjährige Schafzüchter Gaby, seinen Bauernhof zu veräussern. Das Lebenswerk von Generationen soll also zerstört werden, damit Marie sich Wagen und Haus leisten kann. So zumindest sieht es Gabys Freund und Buchhalter Louis, so sehen es Gabys Exfrau und seine jüngere Tochter Frédérique – die als Bühnenschauspielerin freilich selbst oft auf finanzielle Hilfe angewiesen ist. Bloss Gaby selbst gewinnt dem Ganzen bei aller Trauer auch Gutes ab: Die Demontage der Farm ist gleichzeitig ein Befreiungsschlag. Indem Gaby sein Gut für seine Tochter veräussert, erfindet er sich neu. Ein Leben lang hat er sich um Schafe gekümmert und in seinen Augen wegen seines Hofs Frau und Kinder verloren. Nun kann er sich Neuem widmen. Nachdem er sich zu Hause weigerte, einen geschenkten Computer anzuschliessen, packt er eben diesen in seiner neuen Wohnung als Erstes aus – ein Zeichen, dass er im Rentenalter offen für Veränderung ist.
Der einundvierzigjährige Regisseur und Autor Sébastien Pilote verbindet in seinem zweiten Langspielfilm geschickt verschiedene Themen, von der Bedeutung der Familie bis zu aktuellen wirtschaftlichen Herausforderungen. Können in einer globalisierten Welt Kleinbauern noch überleben? Eine humorvolle Episode zeigt einen vermeintlichen Weg: Louis bringt muslimische Gastarbeiter zu Gaby, die ihm ein Schaf abkaufen, es schächten und danach grillieren. Doch lukrativ sei das nicht, so Gaby. Ebenso wenig ist es der Verkauf seines Hofs: Da er keine Rente habe, bleibe ihm kaum genug zum Leben, rechnet ihm Louis vor. Geld ist allgegenwärtig in Le démantèlement. Bei den Hofversteigerungen – bevor Gaby dran ist, sehen wir mit Gabys Augen, wie ein Kollege von ihm nicht weiterwirtschaften kann und zu dieser Massnahme greift – krächzt ein kurliger Auktionator in schwindelerregender Geschwindigkeit eine Zahl nach der anderen, bis möglichst viel für möglichst viel Geld die Hand wechselt. Nicht nur landwirtschaftliche Werkzeuge, sondern auch Leben hat seinen Preis. Als Gaby es vor seinem Wegzug in die kleine Wohnung nicht übers Herz bringt, seinen Hund selbst zu töten, zahlt er einem Tierarzt fünfundzwanzig Dollar fürs Einschläfern. (Gerade rechtzeitig – so viel sei verraten – erbarmt sich Gaby des Hundes und befreit ihn aus dem Zwinger.)
Gabys Kampf ums wirtschaftliche Weiterleben könnte ebenso in Hinterlunkhofen oder in Huaxi stattfinden. Pilote aber hat die Geschichte klar in seiner Heimat Québec verwurzelt. Wenn Marie mit ihren Kindern Englisch spricht, kommentiert Gaby besorgt, dass die Sprachenvielfalt sie sicher durcheinanderbringe. Hier klingt der Chauvinismus an, der in der östlichen kanadischen Provinz so verbreitet ist. Der tiefere Graben jedoch besteht zwischen Stadt und Land. Die Mädchen sind beide nach Montréal gezogen, was sie laut Marie nicht daran hindert, in verschiedenen Welten zu leben. Auch Gabys Exfrau wurde das Landleben zu eng, und sie verliess ihn – nicht Richtung Grossstadt zwar, aber immerhin in ein Städtchen, weg vom Stallmief. Was soll also Gaby hier noch ohne die Frauen, die er liebt?
Ohne es explizit auszusprechen, kreist der Film um die existenzielle Frage, was einen Menschen ausmacht. Ist es die Arbeit? Ist es der Erfolg? Oder ist es die Liebe? Gaby hat die Antwort immer in sich getragen und verkündet es durch die Versteigerung. «Alle glaubten, mein Leben sei mein Hof gewesen», sagt er zu Frédérique. «Alle haben sich getäuscht. Mein Leben seid ihr, meine Töchter.» Bei allen globalen und lokalen Problemen erzählt Pilote im Grunde eine Geschichte väterlicher Liebe. Am Ende steht Frédérique als Cordelia auf der Bühne, King Lears jüngste, als einzige ehrliche und dem Vater wohlgesinnte Tochter. Wie Shakespeares Lear verzichtet Gaby auf sein Reich. Wie Lear erfährt er Verletzungen von seinen Liebsten, so wenn Marie nicht zur Geldübertragung erscheint. Ungleich Lear aber treibt dies Gaby nicht in den Wahnsinn. Er beginnt ebenso wehmütig wie zuversichtlich ein neues Leben. Nicht umsonst reimt sich sein Nachname Gagnon mit «gagnant» – «Gewinner».
Ein Grossteil der Magie des Films macht seine Unaufgeregtheit aus: wie beiläufig Pilote dies alles erzählt, wie diskret Michel La Veaux’ Kamera einen weinenden Bauern von hinten filmt und bei der Schächtung wegschaut und vor allem wie spröd und zugleich warmherzig Gaby wirkt. Das liegt an der hervorragenden Wahl von Gabriel Arcand als Hauptdarsteller, der bei uns vor allem für seine Rollen in Léa Pools Maman est chez le coiffeur und in Le déclin de l’empire américain unter der Regie seines Bruders Denys bekannt ist. Der einstige kanadische Frauenschwarm wollte die Rolle zunächst nicht annehmen, da er keine Ahnung vom Bauernleben hätte. Zum Glück überzeugten ihn Pilote und das Mentorat zweier Schafhirten. Er wirkt überzeugend als Mann, der sein Leben mit Tieren verbracht hat, aber die Menschen in seinem Leben vermisst. Arcand kann Schweigen spielen, aber als Gaby auch eloquent seine Entscheidung begründen. In seinem gegerbten Gesicht sind die Leiden des Arbeiteralltags eingeschrieben – und die Liebe, die es zum Weiterleben braucht.