Lazzaro felice beginnt in der Vergangenheit, in einer abgelegenen Bergregion, wo der Wolf mit nächtlichem Geheul seine Präsenz markiert. Hier befindet sich die Tabakplantage «Inviolata», die dank einer wohl vor langer Zeit zusammengebrochenen Brücke vom Rest der Welt abgeschnitten und beinahe unberührt ist. So wähnt man sich zu Beginn in den Vierzigerjahren, bis Walkman und Handy verraten, dass die Handlung in den Neunzigern spielen muss. Die Bauerngesellschaft, die hier einen heruntergewirtschafteten Betrieb aufrechterhält, lebt wie vor hundert Jahren, mit all ihren Traditionen und Geheimnissen, aber auch in Armut – und sogar in Leibeigenschaft. Die Marquesa de Luna versucht, in der lottrigen Villa den Ruin mit illegalen Mitteln abzuwenden, und verheimlicht den Menschen, die für sie umsonst schuften, dass sie eigentlich schon lange frei sind.
Die Art und Weise, wie Alice Rohrwacher ([art:126], [art:27]) und die Kamerafrau Hélène Louvart dies auf Super-16-mm-Film bannen, wirkt zugleich zauberhaft und dokumentarisch. Louvart lässt die karge Berglandschaft als unberührtes Paradies erscheinen. Und doch erinnert der erste Teil des Films auch entfernt an Lucchino Viscontis neorealistisches Meisterwerk La terra trema; denn auch hier spielen echte Bäuer_innen die Rollen der arbeitenden Bevölkerung. Rohrwacher schafft es, sie uns als Emsemble so unaufgeregt näherzubringen, dass wir sie sofort ins Herz schliessen. Unter ihnen fällt ein junger Mann mit einem liebenswürdigen Gesicht auf, den die anderen gerne für sich arbeiten lassen. Hol dies, bring das. Der naive, grundgute Lazzaro traut niemandem böse Absichten zu. Auch nicht Tancredi, dem verwöhnten und gelangweilten Sohn der Marquesa. Tancredi lügt gerne, um sich Vorteile zu verschaffen oder bloss um sich zu unterhalten. So erzählt er Lazzaro unter anderem, sie seien Halbbrüder, und Lazzaro glaubt ihm alles. Am Ende wird er an seiner Gutgläubigkeit zugrunde gehen – denn, so scheint dieses magisch-realistische Märchen zu suggerieren, in dieser Welt reüssieren nur die Rücksichtslosen, während die guten Menschen unbemerkt bleiben.
Tancredi verursacht mit einer seiner Lügen auch das Ende von «Inviolata»: Die Polizei rettet die Bäuer_innen und führt sie in die Zivilisation. Doch diese Rettung fühlt sich eher als «Vertreibung aus dem Paradies» an, denn Rohrwacher hat uns in dieser ersten Hälfte des Film ein warmes Gefühl der Geborgenheit vermittelt und uns mit grossem Kino verzaubert. Auch retrospektiv erscheint die Befreiung aus der Leibeigenschaft nicht als heroische Tat, denn die Menschen landen wieder am Rand der Gesellschaft, in gleich grosser Armut und darüber hinaus dazu gezwungen, sich durch Kleinkriminalität über Wasser zu halten. Die kalte, winterliche Grossstadt, in der der zweite Teil spielt, wirkt ernüchternd. Eine Szene zeigt die neue Form der Sklaverei in der Jetztzeit: Migrant_innen unterbieten sich beim Stundenlohn bis auf einen Euro herunter, froh, überhaupt eine Arbeit zu haben. Dass der «Sklaventreiber» derselbe ist wie zwanzig Jahre zuvor auf «Inviolata», verdeutlicht nur, dass die schwächsten Glieder der Gesellschaft nach wie vor ausgebeutet werden.
Rohrwacher ist eine gute Brückenbauerin. Stabile Brücken, die sicher von der einen Seite auf die andere führen, sind nicht nur im Strassenbau elementar, sondern auch im Kino. Rohrwacher braucht denn auch eine feste narrative Verbindung, die die beiden räumlich und zeitlich unterschiedlich verankerten Teile ihres Films zusammenhält, uns auf die andere Seite führt, von wo wir zurückblicken können. Sie konstruiert sie, indem sie Realität und Magie, Sozialkritik und religiöse Mythologie zusammenführt. Ganz konkret baut sie eine komplexe Sequenz, in der die asynchrone Tonspur mit der visuellen Ebene eine Einheit bildet: Zum einen hören wir aus dem Off die Geschichte vom Heiligen Franziskus, der vom hungrigen Wolf verschont wird, weil dieser in Franziskus einen grundguten Menschen erkennt. Gleichzeitig sehen wir einen Wolf an Lazzaro schnuppern, der zuvor tödlich verunfallt ist, und ihn aufwecken. Der Auferstandene erkennt in der Folge die Welt nicht wieder, denn es sind Jahrzehnte vergangen. Die Welt ist eine andere – oder eben doch nicht, das ist die Pointe dieser wundersamen Wendung.
Diese zweite Hälfte, in der Lazzaro einst vertraute Menschen nach Jahrzehnten wiederfindet, büsst notwendigerweise etwas von der Magie des Anfangs ein und wirkt weniger geschlossen. Die Brücke in diesem Film hält dennoch. Der Zauber wirkt bis zum tragischen Ende.