Mit einer Panoramaaufnahme eines Städtchens zwischen wolkenverhangenen Bergen beginnt La ragazza del lago. Die Kamera folgt einem kleinen Mädchen auf dem Nachhauseweg, es grüsst jemanden auf der Strasse. Ein roter Lieferwagen nähert sich langsam der Kleinen, hält neben ihr. Ein Wortwechsel, dann steigt sie ein. Die Kamera fährt langsam auf das Auto zu. Der Lieferwagen fährt aus dem Bild. Ein älterer distinguierter Herr mit Glatze und grauen Haaren steigt aus einem dunklen Auto aus und verabschiedet sich vom Chauffeur des Wagens mit «Ciao». Er öffnet die Haustüre und entnimmt dem mit «Sanzio» angeschriebenen Briefkasten die Post. In der Wohnung öffnet er noch im Mantel einen Brief, der mit den Worten «Amore mio» beginnt. Nachdenklich schaut er ins Leere.
So verschränken sich gleich zu Beginn ein Kriminalfall mit der privaten Geschichte des ermittelnden Kommissars. Sanzio wird in das Städtchen im Friaul gerufen, wo das Mädchen vermisst wird. Es taucht zwar wieder auf, erzählt aber von etwas Seltsamem, was es an einem nahegelegenen See gesehen habe. Sanzio und sein Begleiter fahren zum Schlangensee und entdecken dort eine Leiche, eine junge Frau, nackt, nur mit einer blauen Jacke bedeckt. Es sind keine Spuren äusserer Gewaltanwendung zu bemerken. Ein blauer Fleck am Hals könnte allerdings von einer Hand herrühren, die die junge Frau unter Wasser gedrückt hat. Sie scheint sich nicht gewehrt zu haben und liegt hier wie sorgfältig drapiert vor der glatten Oberfläche des Sees. Ein Hauch von Twin Peak liegt in der Luft.
Doch was sich als «Mystery-Thriller» ankündigt, entpuppt sich bald als ruhige, sorgsam entwickelte psychologische Studie, zu der die Suche nach dem Täter für den Kommissar wird. Verdächtig sind viele: der von seiner Tochter besessene Vater, der unzählige Videoaufnahmen nur von ihr gemacht hat, ihre Halbschwester, der seltsam verschlossene jugendliche Freund, der CDs von ihr aufbewahrt und, als ihr Rucksack bei ihm gefunden wird, davonrennt, der Coach ihrer Eishockeymannschaft, der verschiedentlich Annäherungsversuche gemacht hat, der verrückte Mario und sein behinderter Vater. Aber auch Corrado und Chiara Canali, deren behinderter Sohn Angelo die Tote des öftern gehütet hatte. Die beiden leben seit dem Tod ihres Sohnes (Angelo ist dreijährig an einem Stückchen Biskuit erstickt) getrennt, das Handy der Toten weist zahlreiche Anrufe an Corrado nach.
Das Zentrum der Ermittlung ist Kommissar Sanzio, die Kamera folgt, meist in Halbtotalen, ruhig seinen Gängen durch das Städtchen, seinen melancholischen Blicken auf Landschaft oder Personen; in Nahaufnahmen fasst sie ihn und sein Gegenüber in Gesprächen, die meist nüchtern und ruhig verlaufen, hin und wieder aber von unwilligen Ausbrüchen akzentuiert werden. Der Film schafft in seinen breitformatigen Bildern viel Raum, die Aufnahmen wirken oft wie innere Bilder des Kommissars, in denen seine Introspektion wie nachhallt.
La ragazza del lago zeichnet ein melancholisch stimmendes Bild eines Provinzstädtchens voller Geheimnisse und dunkler Geschichten von Unvermögen, Einsamkeit und Verzweiflung. Wie ein roter Faden zieht sich das Thema der schwierigen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern durch den Film. «Non lo so», entgegnet die jugendliche Tochter wütend dem Kommissar, als er sie befragt, weshalb sie plötzlich das Klavierspiel aufgegeben habe. Keiner, nicht einmal der Kommissar (auch wenn der Fall gelöst wird) weiss, weshalb sich andere so verhalten, wie sie es tun; und schon gar niemand weiss, weshalb er selbst sich so verhält.