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La Muraille
© Visions du Réel/Alva Film

La Muraille: Wenn eine Mauer in zwei Welten trennt

Callisto Mc Nulty erzählt eine leise, vielschichtige Geschichte über Ausgrenzung, Erinnerung und die Nachwirkungen gesellschaftlicher Isolation.

Text: Jonas Rippstein / 15. Apr. 2025
  • Regie, Buch

    Callisto Mc Nulty

  • Kamera

    Frederico Lobo

  • Schnitt

    Yaël Bitton, Marton Tarkövi

  • Musik

    Francisco Ferro

Drei Meter. So hoch ist ungefähr die Mauer, die das Sanatorium von Fontilles in der spanischen Region Alicante umgibt. Sie schlängelt sich selbst über Hügelketten um den Komplex, um zu trennen in «Innen» und «Aussen». In dieser Trennung erschafft sie zwei Welten: Das «Innen», wo sich das Sanatorium mit seinen Leprakranken befindet, und das «Aussen», die «gesunde» Welt, die sich viel zu lange vor den Leuten im Sanatorium fürchtete. Heute weiss man: Die Ansteckungsgefahr von Lepra ist sehr gering – und mithilfe von Antibiotika ist sie sogar heilbar. Die Krankheit verschwindet nach und nach aus der Gesellschaft. Der Ort, den sie so sehr geprägt hat, bleibt jedoch.

La Muraille, der jüngste Film der schweizerisch-französischen Regisseurin Callisto Mc Nulty, der am diesjährigen Vision du Réel Premiere feierte, begibt sich auf eine Spurensuche auf beiden Seiten der Mauer, um der Geschichte dieses aufgeladenen Ortes nachzufühlen. Der rote Faden dieser Spurensuche ist die Schrift eines Mönchs aus den Zehnerjahren des letzten Jahrhunderts, kurz nachdem das Sanatorium gegründet wurde. Er beschreibt die Anlage und ihren Zweck. Eine Stimme aus dem Off liest auf Französisch seine Eindrücke vor, wie er nach Fontilles fährt: «Es ist nur noch eine Kurve zu nehmen, und die Strasse lädt uns ein in diese andere Welt. Glauben Sie mir, es ist unmöglich, hierherzukommen, ohne Herzklopfen zu bekommen. Beim ersten Mal schlägt es, weil uns diese Welt unbekannt ist, und bei den nächsten Malen schlägt es, im Gegenteil, weil wir gefesselt sind.»

La Muraille 1

© Visions du Réel/Alva Film

Diesen roten Faden untermalen die verschiedenen Zeitzeug:innen, die selbst in Fontilles oder im Umland ihr Leben verbracht haben, mit ihren Erzählungen zum Sanatorium. Sie sprechen dabei über die strikte Trennung von Männern und Frauen, von den Regeln, die drinnen galten, und den ambivalenten Gefühlen, die sie gegenüber der Mauer hatten: Zum einen ist sie die Abtrennung zur Aussenwelt, eine Absperrung, die keinen Kontakt zulässt. Zum anderen ist sie jedoch ein Schutzraum, eine kleine Welt, in der sich die Leprakranken bewegen konnten, ohne Angst haben zu müssen, ausgestossen zu werden.

Das Storytelling in La Muraille entfaltet sich dabei schichtweise und feinfühlig – es setzt weniger auf einen grossen Spannungsbogen als auf ein stetiges, behutsames Annähern. Der Film lässt dabei verschiedene Stimmen und Perspektiven nebeneinander laufen und schafft so eine komplexe Erzählstruktur, die eher andeutet als ausformuliert. Die Montage wirkt dabei sehr organisch: Vergangenes und Gegenwärtiges greifen ineinander, persönliche Erinnerungen werden mit der kollektiven Geschichte verwoben. Gerade in dieser Offenheit und Vielstimmigkeit liegt die Stärke des Films – das Erzählen wird zur Annäherung, nicht zur Erklärung. Das tiefe, fast meditative Tempo des Films spiegelt diesen Ansatz wider: Nichts drängt, das Erzählte darf sich Zeit nehmen.

La Muraille 2

© Visions du Réel/Alva Film

Die Bildsprache des Films unterstreicht subtil dieses kraftvolle Erzählen, indem sie es um eine zusätzliche Ebene erweitert. Durch sie wird die Atmosphäre an diesem speziellen Ort für das Kinopublikum erst greifbar: Die inneren und äusseren Grenzen werden sichtbar gemacht, selbst das Unsichtbare, die Isolation und die Einsamkeit, wird durch die visuelle Gestaltung spürbar. Die Kamera bleibt dabei stets ruhig, fast kontemplativ, und gibt den Bildern Zeit, sich zu entfalten – wodurch ein ästhetisches Gesamtbild entsteht, das leise wirkt, aber lange nachhallt. Zusätzlich wurde Archivmaterial in den Film hineingearbeitet, was La Muraille noch mehr emotionale Tiefe verleiht, ohne dabei ins Pathetische zu rutschen. Mc Nulty bleibt dabei ihrer filmischen Handschrift treu: Sie vertraut der Kraft der Montage und dem Material selbst, statt es mit erklärenden Kommentaren zu überformen.

La Muraille ist ein Paradebeispiel für gutes dokumentarisches Storytelling: Mit einer gelungenen, präzisen Dramaturgie und einer vielstimmigen Erzählung, die das Publikum an der Hand nimmt, führt der Film durch die Schicksale unzähliger Menschen im und um das Sanatorium. In einer abgerundeten, kurzweiligen Narration wird erzählt, ohne Lücken zu lassen oder zu überfrachten. Der Film macht erfahrbar, wie tief sich gesellschaftliche Ausgrenzung in persönliche Biografien einschreibt – und wie lange sich die Nachwirkungen einer solchen Isolation halten können, auch wenn die Krankheit längst heilbar ist. Dabei gelingt es Mc Nulty, die Geschichte dieses Ortes nicht nur als vergangenes Kapitel zu erzählen, sondern auch als Spiegel aktueller Fragen von Stigmatisierung, Schutz und Abgrenzung. La Muraille ist sowohl eine filmische Annäherung an das Sanatorium von Fontilles als auch eine eindrucksvolle Reflexion über Mauern, die bleiben – sichtbar oder unsichtbar.

 

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