Thierry Taugourdeau, 51, gelernter Maschinist und seit Monaten arbeitslos, hat nur einen Wunsch: weitermachen. Sich mit anderen gefeuerten Kollegen zusammentun, die Kündigung durch die Firma anfechten, Klage erheben? Interessiert ihn nicht mehr. Er wolle zu etwas anderem übergehen, erklärt er, das Alte hinter sich lassen, einen neuen Job finden. Warum? Weil sich für ihn persönlich etwas ändern müsse und er keine Lust mehr habe, die Kämpfe mit dem alten Arbeitgeber noch einmal durchzumachen.
Was will er dann? Die persönliche Seite kommt nicht besonders stark zur Geltung. Man denkt bei Thierry, der Ehemann ist und Vater eines behinderten Sohns, zwar an den gleichaltrigen Walter White aus Breaking Bad (Vincent Lindon ist ein ebenso grossartiger Schauspieler wie Bryan Cranston), der sein graues und erfolgloses Dasein, wie man weiss, durch den Verkauf von Crystal Meth aufgepeppt hatte. Von einem solchen Egorausch ist hier aber nichts zu spüren – ebenso wenig wie von der Formung eines politischen Bewusstseins. Denn über dem persönlichen Gesetz, über dem staatlichen Gesetz und über der Gerechtigkeit steht jenes andere Gesetz, dem allein Thierry folgt: La loi du marché, das Gesetz des Markts (den unsinnigen deutschen Phantasie-Verleihtitel Der Wert des Menschen kann man getrost vergessen).
Was will dieses Gesetz? Offensichtlich, so erfahren wir am Anfang, waren die Entlassungen wirtschaftlich nicht gerechtfertigt: Der Firma ging es gut. Das Gesetz, das regiert, ist wesentlich fundamentaler. Es will, dass man eine Lohnarbeit verrichtet und entlassen wird, dass man also immer am Ball bleibt, ohne je an den Ball zu kommen. Das Gesetz will, dass Thierry einen neuen Job sucht und dass er dabei nur scheitern kann. Ein ewig langes und eher positives Vorstellungsgespräch über Skype, während dem Thierry eine eindrucksvolle Demonstration seiner Geduld und seiner fast grenzenlosen Flexibilität abliefert, endet mit einer letzten «sehr wichtigen» Bemerkung von Thierrys Gesprächspartner (den man nie sieht – das Gesetz bleibt stets unsichtbar): «Ich will ehrlich mit Ihnen sein: Ihre Chancen sind sehr gering. Was nicht heisst, dass Sie überhaupt keine Chancen haben. Aber Ihre Chancen sind sehr gering.»
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Das Gesetz des Markts wäre aber kein Gesetz, wenn es nur für den Markt gelten würde. Es gilt für alle anderen Bereiche. Beispielsweise in der Freizeit. Thierry scheitert ebenfalls beim Tanzabend mit seiner Frau, bei dem er zwar sehr engagiert, für den Animateur jedoch zu unbeweglich auftritt. Oder in der Schule, wo der Sohn nach Meinung des Klassenlehrers nicht genügend Leistung erbringt, obwohl es dafür im Film keinen Beweis gibt. In dieser Verschränkung der Arbeitssuche mit dem Privaten und Familiären folgen wir Thierry als Privatmann und Familienmensch.
Da nun Thierry diesem Gesetz folgt, das glei zeitig das permanente Scheitern will, gibt es für ihn nur eine einzige Möglichkeit: Er muss selbst zu diesem Gesetz werden, das er und er allein die ganze Zeit über durch seine Bemühungen und sein Scheitern artikuliert. Das heisst: Er findet einen Job, aber dieser führt wiederum zur Entlassung von anderen. Denn als Detektiv in einem Supermarkt muss Thierry nicht nur die Kundschaft beobachten, sondern vor allem die anderen Mitarbeiter. Was am Ende zu einer Entlassung (Trennung vom Job) und schliesslich zum Selbstmord der betroffenen Person führt (Trennung vom Leben: Das Gesetz geht immer bis zum Äussersten), wonach Thierry selbst kündigt: Das Gesetz des Markts ist das Gesetz der Entlassung, das immer auch jene trifft, die es vertreten.
So weit die admirable Konsequenz, mit der Stéphane Brizé seinen Film gestaltet und sein Sujet, das «Gesetz des Markts», behandelt. Nun wäre dies alles aber nichts weiter als ein Bravourstück, wenn Brizé nicht auch eine Möglichkeit gefunden hätte, seinen Zuschauer mit diesem Gesetz zu konfrontieren, ihn ebenso wie seine Hauptfigur vor dieses Gesetz zu bringen. Diese Möglichkeit bietet sich in den Ämtern und Institutionen (Arbeitsamt, Bank, Fortbildung), mit denen Thierry zu tun hat.
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Dies ist umso entscheidender, als dass sich im vergangenen französischen Kinojahr ein paar Filme immer wieder um Ämter drehten und darin ebenso eine gewisse politische Neutralität, um nicht zu sagen einen Mangel an einer progressiven Haltung erkennen liessen wie der Film von Brizé. Nehmen wir zwei Beispiele. In Les combattants von Thomas Cailley beteiligen sich ein Mannweib und ein Milchbubi an einem Sommercamp der Armee. Was sich erst nach Emanzipation und Experimentieren mit Geschlechtsrollen anfühlt, proklamiert letztlich, qua Militär, die Sehnsucht nach Leben in völligem Konsens. Und in La tête haute von Emmanuelle Bercot, der ebenso wie Brizés Film 2015 in Cannes lief, spielt Catherine Deneuve eine Jugendrichterin, die mit Engagement und Autorität ein gewalttätiges Problemkind aus schwierigen Verhältnissen wieder auf Vordermann bringt, das am Ende geheilt aus dem Justizpalast spaziert, vor dem die Trikolore im Wind flattert. Diese «amtliche» Realpolitik mit ihren konservativen Werten ist ebenso eine Krise der Politik wie des Kinos: Beiden mangelt es an Fiktion (an Alternativen, an Zukunft).
Dabei reduziert die Frontalität des Schuss-Gegenschuss-Verfahrens, mit der gerade Bercot ihre Figuren vor der Richterin filmt, den Film zum Amt, vor dem der Zuschauer Platz nehmen kann. Und wie man weiss: Es redet sich schlecht mit Ämtern, die gerade aus der Unverständlichkeit ihre Autorität gewinnen. Warum verbreitet La tête haute zwei Stunden lang eine Botschaft, für die man nicht mal eine Minute gebraucht hätte? Um zu suggerieren, am Ende noch immer nicht verstanden worden zu sein.
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Bercots Film ist wie eine einseitige Unterhaltung, bei der nur das Amt / der Film spricht. Antworten ist unmöglich. Bei Brizé hingegen ist der Austausch (mit dem Amt, mit dem Film) nicht unmöglich, sondern absurd, erfolglos, unendlich: Er filmt die Auseinandersetzung mit den Ämtern (ebenso wie jede andere in seinem Film) nie frontal, sondern in einem Hin- und Herschwenken zwischen Thierry und seinen Gesprächspartnern, als endloses, dysfunktionales Gespräch. Weswegen die Institutionen bei ihm stets unsinnige Ratschläge geben.
So zeigt Brizé in der Unverständlichkeit der Institution nicht ihre Autorität, sondern ihre Absurdität und damit ihren Ruin. Mit ihr begegnen Thierry und der Zuschauer schon dem Gesetz des Markts, das sich auch die (staatlichen) Ämter unterworfen hat, und das Amt und Kunden verpflichtet, um beide scheitern zu lassen. Den Beweis liefert gleich die erste Szene. Thierry beklagt sich auf dem Arbeitsamt über eine ihm auferlegte Weiterbildung, die ihm nichts gebracht hat, worauf man ihm entgegnet: «Die Arbeitgeber entscheiden, nicht wir.»