Wenn man dieser Tage einer der beliebten Diskussionen über das Verhältnis von Kino und Streamingdiensten beiwohnt, kann man sicher sein, dass bald jemand auf die Vorzüge des seriellen Erzählens zu sprechen kommt. Das liegt in der Natur der Sache. Wie und ob überhaupt sich das Kino gegen die sogenannte TV-Qualitätsserie zur Wehr setzen soll, muss an anderer Stelle besprochen werden. Hier ist die Rede von einer Filmserie, die explizit für das Kino produziert wurde – und die bestens dafür geeignet ist, über das neue, vor allem von der Filmkritik als angespannt betrachtete Verhältnis zwischen den alten Verbündeten Film und Kino nachzudenken.
Die Frage, wie man einen Film erlebt, hängt immer auch damit zusammen, unter welchen Bedingungen man ihn sieht. Es ist ein Unterschied, ob man zu Hause, im Programmkino oder im Multiplex sitzt. Was das Blockbusterkino, seit es vor Jahrzehnten erstmals gegen das Fernsehen zu Felde zog, verspricht, ist der Kinobesuch als Event. Doch es ist genauso ein Unterschied, ob man sich für zwei Stunden ins Programmkino setzt oder – wie im konkreten Fall – für knapp vierzehn. Womit wir bei der Wahrnehmung als Erlebnis in Form der argentinischen Filmserie La Flor angelangt wären. Mit jedem Kapitel, das La Flor aufschlägt, erwartet das Publikum eine neue Überraschung. Aber eine, die das Zuschauen selbst zum Thema macht. Die zur Form der Serie gehörende Erwartungshaltung, wie die Erzählung demnächst weitergehen wird, bekommt bei Mariano Llinás eine völlig neue Ausrichtung.
Serials im Kino hat es schon immer gegeben, von Louis Feuillade bis Jacques Rivette. Im Gegensatz zu den Regisseur_innen der bekannten historischen Kinoserien hat Llinás allerdings zehn Jahre an seinem achtteiligen Epos gearbeitet und dabei einen Erzählbogen quer durch die Filmgeschichte gespannt. Gezeigt wird La Flor gerne in drei Teilen (eine achtteilige Fassung für ebenso viele Tage verstärkt die Wirkung zusätzlich). Doch egal ob drei Blöcke, sechs Episoden oder acht Teile: Llinás’ grosser Trumpf ist ein formidables Quartett, wie man es seit langem nicht mehr auf der Leinwand gesehen hat. Die Schauspielerinnen Elisa Carricajo, Valeria Correa, Pilar Gamboa und Laura Paredes tauchen in jeder der Episoden, die sich jeweils auf ein anderes klassisches Genre beziehen, in einer anderen Rolle auf, was sich als ebenso verstörend wie fantastisch erweist. Eine bestechend einfache Idee mit phänomenaler Wirkung.
La Flor beginnt als Horrorfilm. Der Schrecken, den eine in der argentinischen Wüste ausgegrabene und in ein Labor eingeschleppte Mumie verbreitet, pflanzt sich direkt über die Körper der Menschen fort, als bestialisches Virus. Und auch La Flor erweist sich als ansteckend. Bereits zu Beginn unterwandert Llinás die gängigen Topoi des Genres und macht sie sich für sein eigenes Spiel zunutze: Schwarze Katzen, ein suspekter Archäologe und eine zur Hilfe herbeigezogene Beschwörerin sorgen weniger für Nervenkitzel als für pure Lust an dieser Konstellation und am Wiedererkennen von Verweisen und Zitaten. Kaum hat man sich (un)gemütlich eingerichtet, wird man mit der nächsten Episode in ein Eifersuchtsmelodram katapultiert, das in bestechenden Gesangsnummern das klassische Hollywoodmusical evoziert – und wieder werden erste Spuren für die nächsten Episoden gelegt.
Es wäre an dieser Stelle wenig sinnvoll, die weiteren Erzählungen auszubreiten, nur so viel: ein Entführungsthriller im Kalten Krieg mit Schauplätzen in Europa und Südamerika, eine Grenzüberschreitung im geteilten Berlin, geheimdienstliche Maulwürfe in London und Brüssel, Reverenzen an den französischen Autorenfilm, die Memoiren Casanovas, ein Heimkehrerinnen-Western und nicht zuletzt ein Kostümfilm, in dem die Kostüme selbst zur Enthüllung werden, bilden Wegpunkte des labyrinthischen Pfads, mit dem Llinás’ Landsmann Borges oder Literaten wie Umberto Eco ihre Freude gehabt hätten. Langsam wachsen sich die gelegten Spuren zu ineinander verwobenen Geschichten aus, mit eigens für postmoderne Fährtenleser gemachten Wegen, mit vielen und zugleich keinen Ausgängen. Apropos wachsen: Warum La Flor diesen Titel trägt, zeigt sich, wenn Llinás selbst, an einer verlassenen Raststätte sitzend, die Erzählstränge seines Films in ein kleines Notizbuch kritzelt: Wie bei einer Blume wuchern vier Linien nach oben, rundet sich die fünfte zu einer Art von Knolle und bildet die sechste einen Stängel.
Das serielle Erzählen auf der Kinoleinwand – und eben nicht in Form langweiliger Prequels und Sequels – erlebt mit La Flor eine neue, wenngleich einsam aus der Landschaft ragende Blüte. Ein Glück, dass es noch Möglichkeiten gibt, ein solches Aufblühen zu bestaunen.