Frederick Wiseman ist unbestritten ein Meister seines Fachs; er hat in seinem vierzigjährigen Filmschaffen verschiedenste Meilensteine des Direct Cinema gesetzt. Mit gnadenlos genau beobachtendem Blick nahm er so manche Einrichtung ins Visier, drang ins Innerste von Institutionen und Menschen vor und scheute sich trotz seines vermeintlich unschuldigen «fly on the wall»-Stils nicht, das Gefilmte in Einstellungsgrössen und Schnitt zu kommentieren, ihm seine ganz persönliche emotionale Handschrift zu geben. Unvergesslich, wie er in high school den heftig artikulierenden Mund der Spanischlehrerin rahmt, um deren strengen Eifer zu entlarven. Doch sein Blick ist stets auch ein liebevoller, überaus menschlicher, der die schwer pubertierenden Kids in High School, die mental Kranken in Titicut Follies oder die Sterbenden in Near Death respektvoll beobachtet.
Mit La danse – Le ballet de l’opéra de paris schafft es endlich wieder einmal ein Werk Wisemans hierzulande bis zur Auswertung im Kino. Voll Staunen und Bewunderung dringt Wiseman in seinem neusten Opus tief in das komplexe Uhrwerk der prominenten Institution vor und geht mit gewohnter Geduld kleinsten Mechanismen des elitären Kulturapparatus nach. Die 158-minütige Dokumentation beginnt mit -einer schnell geschnittenen Sequenz, die uns vom panoramischen Ausblick, hoch über den Dächern von Paris, vorbei an der gewaltigen pittoresken Fassade des Opernhauses bis tief hin-unter in die labyrinthischen Katakomben der Kanalisation führt. Die Prämisse ist klar gesetzt: Wiseman wird das Wesen des Pariser Opernballets wie ein gut geschütztes Geheimnis ergründen und in seinem innersten Kern erfassen.
In den dicht verspiegelten Proberäumen herrscht knallharte Disziplin. Weltberühmte Choreografen trainieren hier unermüdlich mit den Tänzern, die in fast unheimlichem Gehorsam quasi im Moment der Äusserung präzise die feinsten Korrekturen in minutiös geplante Bewegungsabläufe umsetzen; immer und immer wieder schrauben sich die Körper zur Pirouette hoch, um dann scheinbar fliegend wieder in sich zusammenzusinken. Die minimen Veränderungen sind für das ungeübte Auge kaum nachvollziehbar. Der Umgangston ist überraschend sanft, oft nur gehaucht; von feiner Exotik auch die französische Terminologie – «plié, jeté, ballotté, arabesque, glissade» –, in der die Tänzer mal mit englischem, mal mit russischem Akzent angewiesen werden. Fallen ist nicht gleich Fallen – neben der körperlichen Präzision auf Spitzensportlerniveau wird den Tänzern auch eine grosse emotionale Sensibilität abverlangt. Wenn die tanzende Medea zitternd ihre Kinder mit deren Blut bestreicht und danach rasend, -einer wildgewordenen Löwin gleich, ihren roten Mantel mit dem Mund ergreift und ihn über die Bühne schleppt, schimmert in ihren weitaufgerissenen Augen der ganze kindermordende Wahnsinn durch, der dieser Rolle gebührt.
Die Ausschnitte von Trainingsabläufen und Aufführungen zeugen vom vielfältigen Repertoire mit modernen und klassischen Stücken, deren Inhalte sich nur bruchstückartig erahnen lassen – der Schnitt bemüht sich weniger um Chronologie der Handlungsabläufe als vielmehr um einen ebenfalls tänzerisch anmutenden Rhythmus. Schwebend, einem unruhigen Hausgeist gleich, schleicht die Kamera von John Davey durch die engen Korridore, windet sich aus dem Kellergeschoss über geschwungene Treppen hoch in die Proberäume des Dachgeschosses mit der grossartigen Aussicht, um dort atemlos einer Art stummem Monolog beizuwohnen, den eine junge Tänzerin mit schmerzverzerrtem Gesicht dem Spiegel vortanzt.
Wiseman wäre nicht Wiseman, würde er nicht auch mit der Neugierde eines Anatomen den Ballet-Tempel in all seinen Teilstrukturen durchleuchten. Er führt uns in Garderoben, Kantine, Verwaltungsbüros, Technikräume und Kostümateliers und wird Zeuge der magischen Konzentration, welche die eifrigen Arbeiter an den Tag legen. Wunderschöne Detailaufnahmen zeigen, wie Stofflaken in ätzende Farbmasse getaucht und Goldpailletten zusammengekniffenen Auges angenäht werden – das Surren der Nähmaschine steht im Wettstreit mit den leise hörbaren Klavierklängen aus den Proberäumen.
Verblüffend authentisch gibt sich auch die ambitionierte künstlerische Leiterin Brigitte Lefèvre – von einer Star Ballerina ehrfürchtig als «Gott» betitelt –, wenn sie mit rhetorisch begabtem Redeschwall am Telefon verhandelt, ihre Stars wie «Rennwagen mit unterschiedlicher PS» verkauft und nebenbei ein Gala Dinner für die grossen amerikanischen Sponsoren organisiert.
Auf das Stimmengewirr der Premiere folgt dann wieder poetische Stille auf dem Dach, wo ein Bienenzüchter mit graziösen Bewegungen sein summendes Völkchen kontrolliert. Auch das Einsammeln des Abfalls zwischen den rotgepolsterten Sitzreihen wird zum Ballet, das Staubsaugen zur kunstvollen Kür. Traumwandlerisch verknüpft die Montage die stimmungsvollen Details mit den Aufnahmen der Proben; die Kamera antizipiert die Bewegungen der tanzenden Körper, filmt sie in langen, grossen Einstellungen, so dass sie in ihrer Ganzheit erfasst werden können. Die Dramaturgie des Staunens überträgt sich ungefiltert auf den Zuschauer: Wenn am Ende einer schwierigen Ballettsequenz die Tänzer nebeneinander am Boden liegen, die verschwitzten Brustkörbe sich senken und heben wie nach einem Liebesakt, atmen auch wir erleichtert auf. Eine kurze Verschnaufpause sei den Körpern gegönnt, bis Sekunden später ein beharrliches «encore une fois» sie zur nächsten Runde bittet.