Bilder und Töne wollen partout nicht verschmelzen zu Beginn dieses Films. Gewiss, die Montage fügt sie zusammen. Aber sie besteht darauf, dass sie disparate Elemente bleiben. Eingangs begibt sich die Kamera auf Suchfahrt durch die Gänge eines gediegenen Provinzhotels. Dazu erklingt Musik von gewichtiger, altmodischer Melodramatik. Sie stellt schicksalhafte Ereignisse in Aussicht, die man in einem solch biederen Ambiente nicht erwarten mag. Sodann sind Lustschreie zu hören, der Anblick der Liebenden wird dem Zuschauer aber vorenthalten.
Dieser Anfang legt keine falsche Spur. La chambre bleue wird hinfort dem Stilprinzip treu bleiben, eine Verschiebung zwischen Ort und Handlung vorzunehmen, zwischen akustischer und visueller Präsentation. Der Zuschauer ist angehalten, in jedem Moment andere Situationen mit zu bedenken, die Ursache oder Konsequenz der aktuellen sind. Mathieu Amalrics Film springt zwischen den Zeitebenen, behende streut sein Cutter François Gédigier Erinnerungsblitze wie Stolpersteine aus, die den Fluss der Szenen stocken lassen. Das ist keine blosse Stilübung, wohl aber eine Wahrnehmungsschule. In dieser Verschiebung nimmt die Inkongruenz zweier Gefühlslagen Kontur an: Es geht um eine Leidenschaft, die in unterschiedlichen Siedgraden empfunden wird. Und da dies eine Georges-Simenon-Verfilmung ist, verdichtet sich kraft der Montage auch eine soziale und moralische Atmosphäre.
Unter den Romanen, die dieser zuverlässigste Stofflieferant des 20. Jahrhunderts schrieb, besitzt der 1964 verfasste «La chambre bleue» einen eigentümlichen Status. Er weckte die Begehrlichkeit unterschiedlichster Filmemacher. Maurice Pialat war fasziniert von ihm; Gérard Depardieu wollte, dass Claude Chabrol ihn mit ihm in der Hauptrolle verfilmt; Jacques Fieschi schrieb für André Téchiné ein Drehbuch, und sogar die Brüder Dardenne spielten mit dem Gedanken, ihn zu verfilmen. 2002 entstand eine mexikanische Adaption, die man schon wegen der Hauptdarstellerin Elena Anaya gern einmal sehen würde. Pialat hingegen gelangte nach geraumer Zeit zu der Erkenntnis, der Roman sei unverfilmbar. Dabei war er überzeugt davon, dass sich kein Autor so leicht adaptieren liesse wie Simenon: Man brauche nur die Dialoge aus den Büchern zu übernehmen und dann «Moteur!» zu rufen; der Romancier sei selbst der beste Filmemacher, weil seine Bücher in Kapitel unterteilt sind, die genau der Länge einer Filmrolle entsprächen.
Daran hält sich Amalric. Er vertraut auf den nackten, ohne Gespreiztheiten auskommenden Stil, übersetzt Simenons Prosa in einen rissigen Erzählrhythmus. La chambre bleue ist eine Auftragsarbeit des Produzenten Paolo Branco, eine rasch gestemmte Produktion, bei der Bucharbeit und Dreh nur wenige Wochen dauerten. Amalrics Film besitzt den Elan eines klassischen B-Pictures, dauert gerade einmal 76 Minuten und wurde im alten Normalformat gedreht. Nur schwarzweiss ist sie nicht; vielmehr taucht Kameramann Christophe Beaucarne die Geschichte in das nuancenreiche Helldunkel des Zweifels. Eigentlich sass Amalric seit drei Jahren an einer Adaption von Stendhals «Le Rouge et le Noir», dessen Einfluss nicht nur darin kenntlich wird, dass die Hauptfigur Julien heisst.
Auch La chambre bleue ist die Chronik einer anstössigen Liebesaffäre. Julien Gahyde, ein Händler mit landwirtschaftlichen Maschinen, ist mit Delphine verheiratet und ein glücklicher Familienvater. Zufällig begegnet er jedoch seiner Jugendliebe Esther wieder, die nun mit einem Apotheker verheiratet ist. Einen Spätsommer lang treffen sie sich im Blauen Zimmer des örtlichen Hotels. Während Julien sich bald zurückziehen will, mag sie diese Liebe nicht aufgeben und bestürmt ihn mit Liebesbotschaften, die ihrer beider bürgerliche Existenz bedrohen. Im Winter finden sie sich vor einem Untersuchungsrichter wieder.
Zunächst wird gar nicht klar, welches Verbrechen ihnen zur Last gelegt wird. So geht die juristische Klärung der Schuldfrage einher mit einer moralischen Prüfung. Simenons Maxime – nicht zu urteilen, sondern zu verstehen – interpretiert Amalric auf reizvolle Weise neu: Als Schauspieler wie als Regisseur liegt es ihm, Figuren in der Schwebe zu halten. Die Verhöre vollziehen sich in staunenswerter Nüchternheit. Der Untersuchungsrichter erfragt Fakten, Details und zeitliche Abfolgen mit nachgerade höflicher Sachlichkeit. Nur einmal, als die beiden Beschuldigten, nun zu Widersachern geworden, gemeinsam verhört werden, kommt es zu einem Gewaltausbruch, als Esther abschätzig über Juliens Ehefrau spricht.
Die Pole Ordnung und Chaos, zwischen denen Simenons Welt oszilliert, hebt der Film durch seine Rückblendenstruktur hervor. Amalric inszeniert die Autopsie einer Leidenschaft. Zwar beschwört er schlaglichtartig, wie sie sich erfüllt, vor allem aber nimmt er das Davor und Danach ihrer Vereinigung in den Blick, filmt Stillleben des erwarteten oder gerade vollzogenen erotischen Rauschs. Das Gefühlsdreieck (das eigentlich ein Viereck ist, denn der Untersuchungsrichter besitzt eine bezwingend ruhige Präsenz) hat Amalric glänzend besetzt. Stéphanie Cléau, zugleich Koautorin des Drehbuchs, ist keine gelernte und erst recht keine technisch versierte Schauspielerin, sondern lässt sich ungeschützt auf ihre Rolle ein. Ihre Stimme klingt träumerisch: fast ein Misston, der jedoch Esthers Abgleiten in den Liebeswahn triftig akzentuiert. Dem Blau des Hotelzimmers werden die Angeklagten später auf der Tapete des Gerichtssaals wieder begegnen; die Musik des Anfangs tat recht daran, von Verhängnis zu künden.