Wie die Medizin auf den menschlichen Körper schaut, wie die Menschen auf die Medizin schauen, das hat das Kino schon früh beschäftigt, in Lehrfilmen, Körpererkundungsfantasien, Arbeitsdokumentationen. Im Hospitalfilm erhält der klinische Blick seine geschlossene institutionelle Fassung. Dass Krankenhäuser Schau- und Umschlagplätze nicht nur für hierarchische Ärzt:in-Patient:innenkontakte, für Diagnosen und Operationen und die zwischenmenschlichen Weiss- und Blaukitteldramen sind, sondern dass hier Gesellschaft unters Messer kommt und die Nähte des Sozialen zu besichtigen sind, das zeigt eine ganze Reihe von jüngeren Institutionendokumentationen und -erzählungen. Viele von ihnen sicher nicht nur zufällig aus Frankreich, auch einem gestressten Gesundheitssystem. Sie alle eint, dass sie die Klinik noch einmal anders filmisch vermessen wollen; dass ihre Blicke involvierte, engagierte sind, die ihre eigenen Voraussetzungen, ihren Voraussetzungsreichtum mitdenken und nicht am Empfang abgeben, wie es klassische Institutionenfilme zumindest simuliert hatten. Es geht um Aggregats- und Grenzzustände der Körper und Geister, Phases of Matter und État limite, so auch Titel von zwei Filmen aus den letzten Jahren. Und um Krankenhäuser und Kliniken als Lehr- und Lernorte, Stätten der Marginalisierung, Diskriminierung, der Sorge und Fürsorge, der Diskontinuitäten und Risse, die sich nicht nur durch Gesundheits-, Versorgungs- und Bildungssysteme, sondern auch durch die Filme selbst ziehen, etwa zwischen Bild und Ton, Gesehenem und Gesagtem.
1) De Humani Corporis, Fabrica (2022, Regie: Lucien Castaing-Taylor & Véréna Paravel). Streaming bei Mubi. CH-Verleih: Sisters Distribution.
2) Maddenin Halleri (2020, Regie: Deniz Tortum). Streaming bei Mubi.
3) Notre corps (2023, Regie: Claire Simon). DVD bei Blaq Out.
Besonders extrem, einmal mehr, reissen und zerren die beiden audiovisuell-experimentellen Anthropolog:innen des Harvard Sensory Ethnography Lab, Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel, an Nähten und Sehkonventionen. Ihr Film De Humani Corporis Fabrica (2022) , gedreht in mehreren Krankenhäusern im Grossraum Paris (einem cinephilen Klinikleiter sei Dank), geht nicht nur in die Adern und Gedärme der Spitäler, sondern ins Gekröse, ins Innerste, durch den Schädel, die Harnröhre, die Bauchdecke, ins Hirn, ins Auge, zur Prostata, zum Neugeborenen, invasiv nicht nur für die endoskopierten Patient:innen, sondern auch für die Zuschauenden. Dabei, im OP-Off, sprechen die Operierenden über die Mieten ihrer Anlageobjekte, Arbeitsüberlastung, Morgenerektionen und andere Chefarztsachen. Am Ende gibt es eine Party mit New Order, aber eine neue Ordnung ist nicht in Sicht. Auch nicht in Deniz Tortums Maddenin Halleri (Phases of Matter) (2020) , fast einem Vorläuferfilm, der Istanbuls Cerrahpaşa Hospital von der Pathologie bis ins OP-Theater durchmisst, mit den Arbeiter:innen auf allen Ebenen, involviert, aber auch aussen vor. Und so landet der Film am Ende bei den Präparaten und Übungsdummys, evoziert mit langen subjektlosen Kameratouren durch dunkle leere Gänge mitunter auch andere Genres. Filmkrankenhäuser waren schliesslich immer auch Horroranstalten.
Eine Klinik nach dem Menschen, posthuman, als Ort der Gespenster, wie in Lars von Triers Neuauflage von Riget: undenkbar für den empathischen Blick Claire Simons, die als Patientin und als Dokumentaristin filmt. Notre corps findet in einer Pariser Gynäkologie einen klinischen Kollektivkörper, der spezifischer – und eben nicht nur ökonomisch – unter Druck ist, vollzieht und versammelt das Krankenhaus doch Geburten, Krebs- und Kinderwunschbehandlungen, Hormontherapien für trans Personen, Schwangerschaften und ihre Abbrüche; mithin von Fundamentalist:innen bedrohte Arbeits- und Lebensbereiche. «Unser», also ihr Körper: Das ist auch eine solidarische Versammlung vieler, die in der gynäkologischen Praxis Sorge tragen und für die gesorgt wird, ein Monument gegen misogyne Medizin.