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© Filmbulletin/Michael Kuratli

Johannes Binotto: «Ich schaue Filme, als würde ich Farben einkaufen»

In «Wahrnehmung stören» versammelt die edition filmbulletin erstmals die wichtigsten Texte des Autors in einem Band. Im Interview erzählt er, wie sich seine Sicht auf Filme durch die Zeit verändert hat.

Text: Michael Kuratli / 13. Sep. 2024

FB Johannes Binotto, was war deine früheste Filmerfahrung?

JB Das war an einem Sonntag. Mein Vater und mein ältester Bruder schauten einen Film, ich glaube, Das Kabinett des Dr. Caligari, am Fernsehen. Ich kam ins Wohnzimmer und sah genau die Szene, in der Cesare auf den Dächern ist, die beste Szene des Films. Sie hat mich lange in meine Albträume verfolgt.


FB Klassischerweise wird Film als audiovisuelles Medium verstanden. Die Essays, die wir in «Wahrnehmung stören» versammelt haben, proklamieren aber Film vielmehr als multisensorisches Erleben. Kann man das so zusammenfassen?

JB Film macht nicht nur mit Augen und Ohren, sondern mit dem ganzen Körper was. Manchmal sogar, dass einem schlecht wird von einem Film oder man eben Albträume hat. Oder in der Pornografie: Da findet eine physische Erregung durch Film statt, die über das Hören und Sehen hinausgeht.


FB Du schreibst nicht nur Essays, du machst inzwischen auch selbst Filme in Form von (preisgekrönten) Videoessays. Hat sich deine Sicht auf Film dadurch verändert?

JB Meine Sehpraxis hat sich verändert. Oft schaue ich Filme, als würde ich Farben in einem Kunstbedarfsladen einkaufen. Ich suche gezielt Elemente, mit denen ich experimentieren möchte. Ich habe Lust auf bestimmte Bilder und konsumiere die ganz ausgesucht.

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Wahrnehmung stören – Essays zu Film und Kino. Der neuste Band in der edition filmbulletin.

FB Lust ist ein gutes Stichwort. In den meisten Texten im Buch bist du lustvoll in das Sehen involviert. Oft beschreibst du eine Wechselwirkung zwischen dir und dem Gesehenen. Ist Film für dich immer persönlich?

JB So explizit war mir das nicht bewusst. Aber wenn man die Texte gesamthaft anschaut, sieht man schon, dass ich recht komische Obsessionen habe (lacht). Das Wichtigste für mich ist – und deshalb auch der Titel –, dass Film nicht eine Bestätigung der Wahrnehmung ist, die wir bereits haben, sondern eine Erweiterung, eine Störung oder Verunsicherung. Diese Veränderung meiner Gefühlswelt fasziniert mich. Daher kommt auch die Lust.


FB Das kommt in deinem Essay zu Ekel gut zur Geltung. Du beschreibst darin Film als eine Art Diffusion der Gefühle über die Sinne auf den Körper.

JB Genau. Ich glaube, Menschen schauen Filme, weil genau das passiert. Das hat für mich auch mit Diversität und Queerness zu tun. Das meine ich umfassender als nur bezüglich Hautfarbe oder Geschlecht. In dem Sinne, dass andere Lebenszustände existieren, die durch Film erlebbar werden. Es ist ein Kaleidoskop der Existenzweisen, wir erweitern unser Sensorium für das Leben.


FB Interessiert dich heute das klassische Kino noch?

JB Es interessiert mich durchaus, aber ich gehe weniger der Aktualität nach. Ich schreibe kaum mehr Rezensionen und muss drum nicht auf alles reagieren, was gerade im Kino läuft. Auch ein Film von 1920 kann heute relevant sein. Relevanz und Aktualität ist nicht dasselbe, das versuche ich auch meinen Studierenden zu vermitteln.


FB Dein Blick ist in diesem Sinne weiter oder länger geworden.

JB Das klingt jetzt sehr positiv. Mein Blick ist aber einfach auch willkürlicher geworden, mehr random (lacht).


FB Wie schaust du auf die Zukunft des Mediums? Man könnte die These aufstellen, dass sich mit den neuen technischen Möglichkeiten alles immer mehr vermischt.

JB Es ist witzig: Der älteste Text im Buch ist über Kino als Hütte und liest sich wie ein Plädoyer für unvorteilhafte Vorführbedingungen, für improvisierte Projektionen auf Tüchern und Hauswänden. Das war schon immer auch Filmerlebnis. Wir erleben heute die Fortsetzung davon; Bewegtbild durchdringt alles, ist in unseren Händen, im öffentlichen Raum. Wenn jetzt jemand sagt, das sei das Ende des Kinos, dann ist meine Antwort: Du kennst dich nicht aus. Das war schon immer auch Kino; Kino war schon immer Mehreres.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2024 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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