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It's a Free World

Ken Loach besitzt ein fast untrügliches Gespür für vernachlässigte, dabei brisante gesellschaftspolitische Themen. Im besten Falle erzählt er davon so zwingend und dringlich, dass man sich wundert, weshalb der Stoff im Kino nicht häufiger thematisiert wird und nicht alle Welt davon spricht. Das gelingt Loach auch in seinem neuen Film.

Text: Kathrin Halter / 05. März 2008

Ken Loach besitzt ein fast untrügliches Gespür für vernachlässigte, dabei brisante gesellschaftspolitische Themen. Im besten Falle erzählt er davon so zwingend und dringlich, dass man sich wundert, weshalb der Stoff im Kino nicht häufiger thematisiert wird und nicht alle Welt davon spricht. Das gelingt Loach auch in seinem neuen Film.

Diesmal geht es um die Ausbeutung von Immigranten durch – legale oder illegale – Arbeitsvermittlungsbüros, die von der Not der Zuwanderer und Sans-Papiers profitieren: Denn diese sehen sich oft gezwungen, in Schwarzarbeit und prekären Temporärjobs ohne Anspruch auf Mindestlohn und minimale Rechte zu schuften. Wobei: Was diese zeitgenössischen britischen Tagelöhner erleben, ist eigentlich nur eine – allerdings extrem verschärfte – Form dessen, was vielen einheimischen Arbeitnehmern vertraut sein dürfte: die Entsicherung von Arbeit durch flexibilisierte Jobs auf Abruf und Zeit. Auch dies klingt bei Loach, dem engagierten Linken, immer mit.

Nun macht der Brite kein Agitprop-Kino. Vielmehr packt er sein Thema erzählerisch so geschickt an, dass wohlfeile Entrüstung nicht leichtfällt, da man als Zuschauer durch eine zunehmend beklemmende Komplizenschaft mit der Hauptfigur immer wieder in ein moralisches Dilemma gerät. Das verunsichert. Der entscheidende Kunstgriff des Drehbuchs von Paul Laverty besteht nämlich darin, dass die Ausbeutungsmechanismen nicht etwa aus der Perspektive eines Opfers gezeigt werden, sondern aus der – konsequent eingehaltenen – Perspektive einer “Täterin”, die aber weder unsympathisch ist noch unverständlich in ihren Motiven. Angie, so heisst die vife Vermittlungsagentin, ist vielmehr eine jener starken Loachschen Figuren, die sich nur schon durch ihre physische Präsenz und ihr heftiges Temperament einprägen: Wenn die wasserstoff-blondierte Angie auf dem schweren Motorrad in den Hinterhof einfährt, um ihre Männer zusammenzutrommeln, ist sie in ihrer energischen Lebendigkeit fast unwiderstehlich: Man könnte sie gar für die Heldin einer aufmunternden Feelgood-Komödie halten. Doch Ken Loach ist es todernst zumute und die Identifikation mit der Hauptfigur wird allmählich zweifelhaft, die Komplizenschaft brüchig.

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Dabei lernt man Angie zunächst selbst als “Opfer” kennen: Als Angestellte einer Jobvermittlungsagentur wird die alleinerziehende Mutter gefeuert, weil sie sich gegen die Anmache eines Vorgesetzten wehrt. Schliesslich hat es Angie satt, dauernd den Job wechseln zu müssen, und versucht, sich im männerdominierten Business der Agenturen selbstständig zu machen. Angie macht sich mit Schwung und Unerschrockenheit an die Arbeit, einmal hilft sie einer iranischen Familie, die in einem unbeheizten Schuppen gestrandet ist. Allmählich jedoch beginnt sich ihr Tonfall im Umgang mit den Arbeitern zu verschärfen, und irgendwann rückt sie vom Prinzip «No paper, no work» ab. Zu stark ist die Versuchung, das schnelle Geld zu machen – zumal höchstens mit einer Verwarnung zu rechnen sei, wenn der Staat dahinter kommen sollte.

In dieser Branche, so zeigt Loach schonungslos, lässt sich nicht mit Anstand erfolgreich werden. Es sind also primär die Verhältnisse, die Schuld tragen. Loach selbst bezeichnet seine Protagonistin in Produktionsnotizen als «product of the Thatcher counter-revolution», als «the spirit of the age. She’d be businesswoman of the year in a few year’s time.» Gerade deshalb ist es bemerkenswert, wieviel Respekt Loach dieser Figur als Regisseur entgegenbringt, wie genau und einfühlsam er ihre Sicht der Dinge vermittelt. Warum denn sollte sich Angie anders als mit der Kraft ihrer Ellbogen durchsetzen können? Hat sie jemals etwas anderes erlebt? Und gibt sie armen Kerlen nicht eine Chance zum Überleben? Wenn Angie mit ihrem Vater, einem alten Gewerkschafter, über solche Fragen disputiert, ist nicht immer klar, inwiefern aus ihr noch die Realistin spricht, und wo sie anfängt, ihr Handeln schönzureden. Kierston Wareing bringt solche Ambivalenzen genau zum Ausdruck; oft glaubt man in ihren Augen im selben Moment noch Mitgefühl zu entdecken, in dem sie bereits knallhart durchgreift. Wareing gelingt in ihrer ersten Filmrolle ein wirklich prägender Auftritt.

Überhaupt geht einen das Geschehen in seiner schnörkellosen Direktheit ganz unmittelbar an. Unnötig sind nur ein paar wenige Zuspitzungen, die mit didaktischem Fingerzeig unterstreichen, was schon deutlich genug ist: So lässt Angie in einer schockierenden Schlüsselszene ein illegales Wohn-Camp räumen, nur weil sie es gerade selbst für “ihre” Arbeiter benötigt. Dass dort auch noch ausgerechnet jene iranische Familie haust, der Angie selbst einmal geholfen hat, ist ein unnötig melodramatischer Zufall. Und während Loach und sein Kameramann Nigel Willoughby sonst einen nüchternen, visuell unaufregenden Realismus pflegen, wird besagte Szene etwas platt symbolisch aufgeladen: Es regnet in Strömen, während in der unmittelbar vorausgehenden Sequenz, einem Glücksmoment für beide Frauen, eine warme Sonne die Szenerie erleuchtet.

Doch das sind Finessen. Die körperliche Intensität, die dramatische Logik, die undogmatische Menschlichkeit und unsentimentale Argumentationskraft dieses Films sind zu stark, als dass solche Details wirklich ins Gewicht fallen könnten. Der alte Brite hat noch einmal bewiesen, wie sehr am Puls der Zeit er sein kann.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2008 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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