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Samir: «Versuche, die Welt simpler zu machen, sind fake»

Zwischen Sprachen, Kulturen und Identitäten: Samir über Babylon II, die Schweiz als Schnittpunkt Europas und die Rolle von Exilierten als Vermittler.

Text: Michael Sennhauser / 01. Aug. 1993

Im Projektbeschrieb und in der Planungsphase hiess dein neuer Film noch «Das grosse Mitte-Land». Mittlerweile ist der Titel aber Babylon II.

Eigentlich ergänzen sich beide. Der ursprüngliche ist jetzt sozusagen der Untertitel. Das «grosse Mitte-Land» ist ja nichts weiter als die etwas euphemistische Beschreibung unserer Situation in der Schweiz, im Schnittpunkt Europas. Hier trifft man sich, redet in allen möglichen Sprachen durcheinander. Babylon II verdichtet diese Idee und ist als Titel einfacher und besser verständlich. Aber beim Betrachten einer Landkarte ging mir dann auch noch auf, dass ich selbst ja eigentlich von «dort» komme, dass sich die Bedeutung also auf verschiedene Ebenen erstreckt, und das hat mir gefallen.

Im Film nimmt Debbie Dee die Bedeutung des Wortes auf, wenn sie lachend erzählt, dass ihre Mutter sie «hier in Babylon» hätte sitzen lassen, und damit die Schweiz meint.

Das hat auch einen eigenen Reiz, denn für sie als Jamaicanerin ist der Begriff natürlich noch einmal doppelt aufgeladen.

Mit Boris Lehmarms Riesenwerk Babel, der letztes Jahr in Locarno im Rahmen der «semaine de la critique» zu sehen war, hat dein Film aber nichts zu tun?

Nein, gar nicht. Ich weiss, im Moment erfährt der Begriff eine eigentliche Inflation. Aber erst nachdem ich mich anfangs dieses Jahres – das Projekt ist gut anderthalb Jahre alt – zu dem Titel entschlossen hatte, begann ich allenthalben auf das Wort «Babylon» zu stossen.

Insgesamt sind es ja auch Stichworte wie «multi-kulturell», die in der Diskussion immer wieder auftauchen. Saida Keller-Mesali erklärt im Film diese Art des Lebens im globalen Exil zur «Lebensform der Zukunft» und Miklos Gimes geht so weit, die interkulturelle Vermittlung als die eigentliche Aufgabe der «Exilierten» zu sehen.

Das war einer der Anreize für das Projekt. Es ist meine These – im Film wird ihr von Sergio widersprochen – dass all die seltsamen Vögel, die seit rund zwanzig Jahren auf diesem Kontinent aufwachsen, ohne recht zu wissen, wo sie hingehören, eben prädestiniert sein müssten, die Rolle des Vermittlers zu übernehmen. Ich wünsche mir für meine filmische Zukunft, dass sich meine Kenntnisse von Europa und dem Nahen Osten als fruchtbar erweisen. Das lässt sich nicht auseinanderdividieren, auch wenn manchen Kreisen der Sinn offenbar genau danach steht.

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Deutlich spürbar ist gerade in Babylon II auch der kritische Bezug zu den Vermittlungstechniken. Du selbst produzierst zur Vermittlung einen grossangelegten eigentlichen Medienmix, bemühst dich aber um eine erstaunlich vielfältige Disziplinierung deines Mediums. Dabei besteht natürlich dauernd die Gefahr, dass das unvermittelte Chaos einbricht, dass sich die versuchte Vermittlung in Beliebigkeit verliert.

Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass meine filmischen Formen und Versuche, die mir persönlich verständlich und klar erschienen, auf Verständnisschwierigkeiten gestossen sind. Da stellt sich dann jeweils die Frage, wie weit ich für mich arbeite, meine Technik weiter entwickle, und wie weit ich einem Publikum verpflichtet bin. Aber meine Filme sollen ja auch eine Widerspiegelung des jetzigen Zustandes sein. Ich denke, all die Versuche, die Welt noch einfacher zu erklären, noch simpler zu machen sind «fake», «Bschiss». Wichtig ist, dass man auch seine eigene Arbeit dauernd in Frage stellt.

Ich habe nicht den Eindruck, dass du die Welt einfacher zu machen suchst, als sie uns in der Regel erscheint. Aber die grundsätzliche Frage stellt sich: Ist Film, wie du das Medium einsetzst, eher ordnend, strukturierend, oder eher aufbrechend, wirksam gegen die vorhandenen fixierten Strukturen?

Ich glaube, als Künstler muss ich mir bewusst sein, wen ich erreichen möchte, für wen ich arbeite. Damit gerät man automatisch in einen Clinch. Ich habe formale Vorlieben, die ich am liebsten durchsetzen würde, ohne danach zu fragen, ob das die Leute auch verstehen. Aber schliesslich arbeite ich mit diesem Medium, weil ich Menschen erreichen möchte, sonst wäre ich vielleicht ein bildender Künstler. Mich hat immer die Schnittstelle interessiert vom Medium, in dem du dich selbst verwirklichen kannst – erst recht jetzt, mit Hilfe des Computers und der Digitalisierung, da bin ich sehr optimistisch–, und der Art und Weise seiner Rezeption. Babylon II habe ich am Anfang viel weiter gedacht. Aber während der Arbeit wurde mir unter anderem bewusst, dass natürlich die Menschen, die am Projekt beteiligt waren, sich darin auch widerspiegelt sehen möchten. Allein schon der Respekt vor ihnen verbietet es, ihnen einfach wilde Bilder um den Kopf zu schlagen und weiter unten den Ton anzuhängen oder was weiss ich ... Dazu kamen aber auch die grundsätzlichen Überlegungen zum Thema. In dem Moment, da man mir sagte, der Film sei wichtig, das Thema sei wichtig, wuchs auch meine Bereitschaft, mich noch mehr zurückzunehmen und dafür zu sorgen, dass der Film für ein paar Leute mehr zu sehen sein würde als nur für mich und meine Freunde.

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Im Projektbeschrieb gehst du mit den Massenmedien generell ziemlich hart ins Gericht. Eine deiner Thesen, einleuchtend vorgebracht, behauptet, dass erst die Massenmedien die Menschen überhaupt dazu brächten, sich der Lebensform der Vor-Städte, der anonymen Suburbs zu unterwerfen. Im Film nun aber werden die Medien sehr distanziert behandelt. Es entsteht nicht der Eindruck, ihnen würde eine Position zugewiesen, die nicht von den Menschen selbst gefordert oder begrüsst würde. Beispiele wie das des SatellitenSenders, der türkische Fussballspiele in die Schweiz bringt, stehen neutral, verständlich und weitgehend unkommentiert im Raum.

Der Widerspruch, den du ansprichst, zwischen der Rezeption der Medien, der Art, wie die Leute mit den Medien umgehen, und dir selbst als Medienmacher, der lässt sich nicht wegdiskutieren, den muss man leben. In diesem Sinne versuche ich auch, jede Larmoyanz zu vermeiden. Ich wollte etwas Positives zeigen, ohne das Negative auszusparen. Ich verstehe mich politisch immer noch als Linker. Und in diesem Zusammenhang hat mich immer geärgert, dass die Linke stets zehn bis zwanzig Jahre hinter der Entwicklung herhinkte. Die bürgerliche Konzeption des Genius-Künstlers wird immer obsoleter. Die kulturelle Diskussion der Linken befindet sich immer noch auf dem Niveau des neunzehnten Jahrhunderts. Literatur existiert, bildende Kunst, ein bisschen Film vielleicht. Fernsehen gibt's nicht, Video gibt's nicht, Computer gibt's schon gar nicht. Die Auseinandersetzung mit all diesen Dingen tut not. Ich kann mich da nicht ausnehmen, aber ich versuche ja auch, damit zu arbeiten.

Was hat bei dir den Entschluss ausgelöst, wieder ein dokumentarisches Projekt in Angriff zu nehmen, nachdem deine letzten grösseren Arbeiten doch eher der Fiktion verpflichtet waren?

Ich habe eigentlich mit Mischformen angefangen. Meine erste Eingabe bei der Filmförderung in Bern war ein Projekt über eine alte Arbeiterin, die Berti Bünzli heisst und an der «Goldküste» von Zürich wohnt. Beim Aufräumen bin ich kürzlich wieder auf jenes Projekt gestossen und war verblüfft, wie sehr diese Pläne von 1983 in den Strukturen schon meiner jetzigen Arbeit glichen. Vielleicht wäre alles ganz anders geworden, wenn das Geld fr jenes Projekt damals bewilligt worden wäre.

Der Dokumentarfilm durchbricht zurzeit allenthalben seine klassische Form, weist immer stärker auf seine unumgängliche Inszenierung hin. Dein Film stellt in meinen Augen einen ersten Höhepunkt in dieser Entwicklung dar, weil er sozusagen von Anfang an mit allen formalen Elementen darauf hinweist, dass hier mit Material und Leuten gearbeitet wird. Ich warte nun auf das umgekehrte Konzept, den Spielfilm, der seinerseits die Grenzen der inszenierten Fiktionalität verlässt.

Dem Vernehmen nach produzieren jetzt amerikanische Fernseh-Stationen wie ABC oder NBC mit Regisseuren wie Joel Schumacher oder Oliver Stone eine Art umgekehrtes «Reality-TV». Was genau man sich darunter vorzustellen hat, wird sich noch weisen. Für mich war im Fall von Babylon II vor allem das Thema ausschlaggebend, sowie die Lust, Menschen zu finden, zu ihnen zu gehen, mit ihnen zu sprechen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/1993 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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