Bereits im Kindesalter liebte Juliette Riccaboni es, Figuren und Geschichten zu kreieren. Nach ihrem Filmstudium an der HEAD in Genf, das sie nach eigenen Aussagen mit einem «nicht sehr guten Film abschloss», verschlug es sie vorerst in den technischen Bereich der Filmproduktion.
Nach überwundener Krise liess sie sich von ihrer Intuition leiten und nahm das Filmemachen erneut in Angriff. Nicht umsonst; bereits ihr dritter Film Cavales wurde 2021 mit dem Preis für den besten Schweizer Film an den Winterthurer Kurzfilmtagen geehrt. An der diesjährigen Ausgabe des Visions du Réel in Nyon feierte ihr Dokumentarfilmdebüt Le Fils du chasseur Premiere. Der Film erzählt die Geschichte von einer schwierigen Vater-Sohn-Beziehung – aus nächster Distanz.
Was war für Sie der grösste Unterschied zwischen der Arbeit an einem Dokumentarfilm und einem fiktiven Werk?
Es war schön, dass das Team am Set des Dokumentarfilm-Drehs so klein war. Ich bin sehr sensibel und mag die intime Atmosphäre. Mit vielen Menschen am Set bin ich immer etwas überfordert und gestresst, weil ich ständig dafür sorgen möchte, dass sich alle wohlfühlen. Beim Dreh des Dokumentarfilms musst ich wiederum lernen, mit einer gewissen Unsicherheit umzugehen, weil man nie weiss, wie es schlussendlich rauskommt. Man kann nichts planen und muss in den Prozess vertrauen. Ich wusste zum Beispiel bis zur Premiere nicht, dass ich einen lustigen Film gedreht habe (lacht).
Man fühlt sich den Protagonist:innen Samir, Charlot und Samirs Vater in Le Fils du chasseur sehr nah. Wie sind Sie am Set mit dem Thema Nähe/Distanz umgegangen?
Manchmal versteckte ich mich, in anderen Situationen war ich präsenter. Es brauchte viel Feingefühl, um herauszufinden, wie viel Abstand in welchen Momenten nötig war. Ich musste lernen, loszulassen und alles so passieren zu lassen, wie es eben passierte.
Wie viel Inszenierung ist in einem Dokumentarfilm Ihrer Meinung nach legitim?
Das ist eine Frage, die ich mir jeden Tag stelle. Ich hatte eine tolle Produzentin, die zuvor selbst oft Regie in Dokumentarfilmen geführt hatte. Sie sagte mir, dass es so viele Varianten und keine klaren Regeln gibt, einen Dokumentarfilm zu machen. Das Wichtigste sei, dass man hinter dem stehen könne, was man schlussendlich zeigt. Wenn sich etwas falsch anfühlt – auf ethischer oder emotionaler Ebene – dann ist es auch falsch. Es braucht auf jeden Fall viel Respekt und Empathie den Protagonist:innen und der Thematik gegenüber.
Sie hatten über 40 Stunden Material für Le Fils du chasseur. Wie haben Sie selektiert, was schlussendlich in den Film kommt?
Ich habe mir alles angeschaut und ungefähr zehn Stunden rausgeschnitten, weil die Aufnahmen unscharf oder zu wenig gut waren. Die restlichen habe ich dann mit meinem Team geteilt und wir haben diskutiert, was wir im Film genau erzählen möchten. Denn der Dreh lief nicht ganz nach Plan; Samirs Vater kam eine Woche zu spät. Das hat den Inhalt des Films komplett verändert. Die letzte Szene zum Beispiel, in der Charlot und Samir fischen, war so nicht geplant. Aber schlussendlich ist dadurch ein magischer Moment entstanden, der wichtig wurde für den Film.
Bei Ihrem letzten Kurzfilm Cavales gibt es sie kaum; Le Fils du chasseur wiederum lebt von den Dialogen. Welche Rolle spielen Dialoge in Ihren Filmen?
Ich erzähle Geschichten gerne, ohne Worte dafür zu brauchen. Ich gebe kaum Dialoge vor. Wenn ich mit Schauspieler:innen arbeite, lasse ich sie sprechen, wie und wann sie möchten. Das höchste Ziel für mich ist es, Emotionen ohne Worte zu transportieren. Bei Le Fils du chasseur war das Gegenteil der Fall, weil Samir und Charlot sehr gerne und viel sprechen. Das kam ganz natürlich und war wichtig, um ihre Figuren zu zeichnen. Die Soundbearbeitung hingegen war ziemlich hart für mich, weil die drei ständig durcheinanderredeten (lacht).
Was steht für Sie beim Filmemachen im Vordergrund – die Storyline oder das, was Sie durch Bild und Ton in den Zuschauer:innen auslösen möchten?
Ich gebe gerne nur wenig Kontext, weshalb ich immer wieder mit Produzent:innen streiten muss, da diese oft möchten, dass die Zuschauer:innen alles verstehen. Ich bin anderer Meinung. Ich will, dass Menschen etwas fühlen, und wenn sie nicht den gesamten Inhalt begreifen, ist das egal. Menschen sind intelligent, ich will ihnen die Möglichkeit und den Platz bieten, eine Geschichte individuell zu interpretieren. Wenn etwas zu explizit erzählt wird, raubt das den Zuschauer:innen ihre ganze Imagination.
Regisseurin Juliette Riccaboni
Der Beitrag entstand im Rahmen einer Exkursion des MA Kulturpublizistik der ZHdK ans Filmfestival Visions du Réel in Nyon.