Von Anfang an hatte Urs Graf sein Projekt «Ins Unbekannte der Musik» auf drei Teile angelegt und hat in den Jahren seit 2002 mit zwei zeitgenössischen Komponisten und einer Komponistin je einen Film realisiert – mit Urs Peter Schneider, Jürg Frey, Annette Schmucki. Die Komponistin, die Komponisten haben ihre je eigene musikalische Ausrichtung, gehören unterschiedlichen Generationen an.
Motivation für die jahrelange Konzentration auf dieses eine Projekt war Urs Grafs grundsätzliches Interesse für Neue Musik, wie es sich schon in dem mit Elisabeth Wandeler-Deck und Alfred Zimmerlin erarbeiteten experimentellen Musikfilm Die Farbe des Klangs der Bilder der Stadt (1993) manifestiert hat. Danach hat Urs Graf eine junge Frau während ihrer gesamten Schauspielausbildung begleitet: Die Zeit mit Kathrin (1999). Der Autor verfolgt das Fragen nach Identität und Rollenspiel, auch dem gesellschaftlichen, und reflektiert seine eigenen, im Laufe der Arbeit gemachten Erfahrungen.
«Ins Unbekannte der Musik»: Im Kern ging es hier um ein «Schaffen, das über die Grenzen der ästhetischen Konventionen hinaus zu gelangen versucht», auch der eigenen Konventionen. Dreimal begleitet Urs Graf mit seiner Kamera und ohne Begleitteam den Entstehungsprozess eines Musikstückes. Das dauert ein Jahr oder länger. Jeder der drei Filme mündet in die Uraufführung des Stückes, in voller Länge wiedergegeben.
Urs Peter Schneider : 36 Exiszenzen
Am Anfang ist alles offen. Der Blick in ein Fenster, der Nachtfalter, die gespiegelte Kerze, der Blick auf eine angeregt sich unterhaltende Runde von Gästen in einer Wohnküche: Fast beiläufig wirken die ersten Bilder des Films und so, als seien sie im Vorbeigehen aufgenommen worden. Die Offenheit ist eine Grundbedingung. Sie bestimmt die Arbeit des Komponisten ebenso wie die des Filmautors, der den Einblick sucht «in ein künstlerisches Schaffen, das als Inbegriff des Unzugänglichen gilt».
Im Bedürfnis, noch nicht Bekanntes zu erkunden und Grenzen des Bekannten zu überschreiten, trifft sich der Filmautor mit seinem Gegenüber U. P. Schneider. Der in Biel lebende Komponist und Improvisator ist auch als Interpret tätig, war bis zum Frühling 2002 Professor an der Hochschule für Musik und Theater Bern und hat 1968 das bis heute von ihm geleitete «Ensemble Neue Horizonte Bern» mitbegründet.
Die Arbeit, deren Entstehen Urs Graf von August 2002 bis Herbst 2003 verfolgt hat, geht von minimalen, noch vage gefassten Vorgaben aus. «Er schreibt mir», so Urs Graf im Film: «Manchmal träume er von einem ein- bis vierstimmigen Stück, das aus ganz verschiedenartigen kleinsten Teilchen bestehe, die aber alle miteinander vernetzt seien; aber er träume erst davon.» Wenig später, wenn U. P. Schneider ein Konzertpublikum in John Cages Stück «Ryoanji» einführt, konkretisieren sich für uns Aspekte zeitgenössischer Musik. Und: «Nach dem Konzert … habe ich mich praktisch entschieden, ein Stück zu probieren, das mehr von äusseren Einflüssen bestimmt ist, wie zum Beispiel: Für wen will ich schreiben …?» Auch der Gedanke, auf der strukturalen Ebene mit Namen zu arbeiten, ist bereits da. Aber die Vorgaben sind das eine, das andere ist die Sehnsucht, «soweit wie möglich zu formalisieren, so dass es sich … gerade wieder meiner Kontrolle entzieht.»
Eine Vielzahl von Motivsträngen legt Urs Graf von Anfang an ineinander, zu einer Film-Struktur, die zeitliche Abläufe erfahrbar macht – die Dauer vom Beginn der Zusammenarbeit an, das Warten auf eine nächste, mitteilbare Entwicklung im Kompositionsprozess, die nach etwa einer ersten halben Filmstunde in ein langes Erklären im Gespräch zwischen Musiker und Filmautor mündet: Es sind zwei, die den Film tragen. So sind die Bilder Fragmente auch aus der Geschichte und dem Erleben des Autors. Sie erzählen etwas davon, wie Urs Graf in dem Haus, das Wohn- und Arbeitsort ist, umhergeht, aus den Fenstern schaut, auf das Nahe hinter den Scheiben – den Garten, eine Böschung, die Katze. Im Sommer bewegt er sich vor dem Haus. Oder der Blick geht in die Weite, über den See. Die Selbstverständlichkeit des Alltags, gefasst in immer wieder variierten Kamera-Blickwinkeln, wirkt hier ebenso intensiv wie das Arbeiten. Marion Leyh ist Teil dieses Alltags, Urs Peter Schneiders Lebenspartnerin, Künstlerin und Gestalterin auch sie. Nach Schauspiel und Bühnenbildnerei befasst sie sich mit Installation und szenischer Performance, was dem Musiker U. P . Schneider und seinen Überlegungen, wie Musik darzubieten sei, wesentliche Impulse gegeben hat.
Zuletzt hören wir nur noch zu. Zwei Kompositionen, «19 Existenzen» und «17 Existenzen», werden am 25. Juni 2004 im Rahmen des Festivals «Zwillinge, zweieiige» in der Dampfzentrale Bern uraufgeführt. Im Bild die Musiker, die Instrumente in einer das Akustische intensivierenden Lichtführung. Nichts stört die Konzentration. Die Kamera hat hier Otmar Schmid geführt.
Am Anfang war alles offen. Arbeitsphasen waren mitzuvollziehen. Die Musik, der wir zum Schluss lauschen, ist dennoch eine ganz frische, neue Erfahrung. Wieder ist alles offen, kann der lange Schlussteil des Films als Anfang genommen werden – eines Wieder- und Wiederhörens, einer Auseinandersetzung mit musikalischen Strukturen.
Jürg Frey : Unhörbare Zeit
Die Musik, die wir im letzten Drittel des mit Jürg Frey gedrehten Films hören, ist eine wunderbare intensive Erfahrung, im Hören ebenso wie im Sehen. Das Stück «Unhörbare Zeit» geht an subtilste Grenzen von Fragilität, wirkt mit der sinnlichen Qualität von Klängen in einer komplexen Struktur. Die Bilder, eine Komposition der Aufnahmen aus vier Kameras, von langsamsten, behutsamen Schwenks, von Nahaufnahmen und Totalen, geben der räumlichen Konzeption des Stückes Ausdruck. Zwar machen wir nicht die Live-Erfahrungen des Publikums im Konzertsaal, aber bekommen mit diesen Bildern Momente und Aspekte der Interpretation so vermittelt, wie es nur dem Medium Film möglich ist.
Im ersten, längeren Teil des Films hat Urs Graf schrittweise das Entstehen des Musikstückes verfolgt. Während des Konzertes erkennt man manches wieder. So vieles, was Jürg Frey im Laufe des Arbeitsprozesses skizziert hatte, ist da, hat sozusagen Gestalt angenommen. Fast, als würden Versprechen eingelöst. Auch deshalb sind Hören und Sehen so eindrücklich.
«Was eigentlich ist Still-Werden … Was geht da vor, wenn es still wird?» fragt der mit Jürg Frey befreundete Komponist und Musiker Antoine Beuger in einer frühen Szene des Films. Tags zuvor hatte Jürg Frey als Klarinettist an der Aufführung eines Stücks von Beuger mitgewirkt. Früh auch spricht er zu Urs Graf von der Vorstellung eines stehenden Klangs in einem Raum, in dem vier Streicher und zwei Schlagzeuger nicht wie üblich eng beieinander spielen, sondern «den ganzen Aufführungsort ausfüllen, also Raum einnehmen … Und gleichzeitig hatte ich die Vorstellung, … der Raum ist da, und es ist ein stehender Klang von diesen Streichern und den zwei Schlagzeugern – das ist quasi die Ausgangssituation …» Der stehende Klang, ein ganzes Stück lang, er wäre perfekt, überlegt Jürg Frey weiter, «aber kompositorisch … kein Wagnis. … diese Situation …, ja, man muss sie zerstören.»
Vierzehn Monate später, Anfang März 2006, als das Stück von dem kanadischen Bozzini-Quartett und den Schlagzeugern Tobias Liebezeit und Lee Ferguson im Kultur- und Kongresshaus Aarau uraufgeführt wird, hören wir eine Spur noch des stehenden Klangs. Hören raumgreifende Stille. Hören Klänge, Geräusche, nach denen Jürg Frey getastet hatte, das Reiben von Stein auf Stein, das Rascheln dürren Laubes. «… je konkreter die Klänge werden, desto grösser ist … die Gefahr … – die Klänge … melden sofort ihre eigenen Bedürfnisse an, von Anwesenheit, von Dauer und von sinnlicher Präsenz»: Immer wieder nimmt Jürg Frey während des Komponierens Distanz, reduziert, wehrt sich gegen das Überhandnehmen von Ideen, die leicht den Weg zu dem Stück, «von dem ich eine gefühlsmässig atmosphärische Vorstellung habe», verstellen könnten.
Obwohl sich manches von diesem differenzierten musikalischen Denken nur schwer in Worte fassen lässt, setzen sich viele Ausführungen doch imaginativ-bildhaft fest und lassen einen fasziniert und neugierig diese ungewöhnliche filmische Recherche weiterverfolgen. Mehrere Motiv- und Themenstränge sind ineinandergeknüpft. Zwanglos haben Jürg Frey und seine Familie mit der Tochter, den zwei Söhnen und mit Elisabeth Frey-Bächli, die wir am Clavichord, am Cembalo, am Klavier und an der Orgel hören, an ihrem Alltag teilnehmen lassen. Was als Lebenslandschaft sichtbar wird und das Unspektakulär-Tägliche wirken als grosser Freiraum für eine Kreativität, die über den Rahmen des Vertrauten hinausgehen will.
Blicke ins Draussen, auf Herbstblätter, auf Rauhreif, ins lautlose Schweben weisser Samen im Wind legen die Spur der laufenden Zeit durch den Film hindurch. Urs Graf montiert – mit Marlies Graf Dätwyler – Bilder, die Klängen gleichen. Die nachts aufgenommenen visuellen Notizen – Details, Bücherrücken, Fotos, kleine Gegenstände, Zettelnotate – fassen Stille. Ein Lichtstreifen fährt über das Bild. Zeit, einen Augenblick lang. Unhörbar.
Annette Schmucki: Hagel und Haut
«Die Musik … ist ja immer in der Zeit, so etwas Lineares. Aber eigentlich interessieren mich Räume. … ein Klang, der sich ausdehnt und einfach ist. Keine Entwicklung und kein Fortfliessen …»: Die Komponistin Annette Schmucki, die jüngste der drei von Urs Graf Porträtierten, die radikalste vielleicht auch, hat mit der Arbeit an einer neuen Komposition begonnen und skizziert im Gespräch im Sommer 2007, was ihr vorschwebt und weshalb sie sich in ihrem Atelier zunächst mit grossen weissen Kokon-ähnlichen Blasen beschäftigt. Es sind mit Seidenpapier beklebte Ballons, federleicht aufeinandergetürmt, mit wenigen Worten beschriftet. «Hagel und Haut» wird das Stück schliesslich heissen, das uraufgeführt wird im Dezember 2008 vom Collegium Novum in Zürich.
Zwei Sommer davor aber ist alles Suchen, Tasten, Entwerfen – die Arbeit mit Wörtern, «um Rhythmus, Struktur und Klanglichkeit anzulocken», die Beschäftigung mit Strukturen eines Hagelkorns, das Festhalten am Ziel, der Musik «eine Dichte und nicht eine Dauer» zu geben. Entschieden bricht die Komponistin zu etwas auf, was sie selbst noch nicht kennt. Urs Graf begibt sich sozusagen mit auf diesen Weg, hört zu, schaut zu, dem Arbeiten, dem Leben, im Atelier, in der Familie, mit dem kleinen Sohn Basil, mit Christoph Brunner, dem Partner und Schlagzeug-Musiker, den wir unterrichten hören-sehen, der mit Annette Schmucki an Tönen experimentiert, der auch mitwirkt bei der Uraufführung.
Oft liegen Wochen zwischen den Filmaufnahmen. Oft spiegeln sich Fortgang oder Stillstand der Arbeit in Briefen, in E-mails. Urs Graf zitiert daraus. Zeit wird spürbar, auch in seinen Bildern vom Alltag im Dorf Cormoret, dem Kanal, dem kleinen Fluss, -einer Quelle im Wald, der Berner Jura-Landschaft. Jahreszeiten, wechselnde Farben. Die Montage, ein vielfältiges Geflecht, hat ihre eigene Rhythmik, ihre eigene Musikalität.
Man muss keine musiktheoretischen Kenntnisse mitbringen, um angezogen zu werden von dieser filmischen Recherche und von diesem Suchen der Komponistin nach einer Musik, die über ihr bisheriges Schaffen hinausgeht. Dann, wenn der Film in die Aufführung des Stückes mündet, ist man ganz Ohr. Man hört – vergleichbar intensiv wie Jürg Freys unhörbare Zeit – den Raum, den Klang, «der einfach ist».
Mit Annette Schmucki: Hagel und Haut findet ein aussergewöhnliches Projekt seinen Abschluss. Jeder der drei Filme ist anders geprägt, spiegelt eine andere Lebenslandschaft, unterschiedliche Temperamente, je eigene Ansatzpunkte. Umso faszinierender, wenn Verwandtes anklingt, ähnliche Auseinandersetzungen geführt werden.