Aus dem Atem geht unser Leben hervor. Wir füllen unsere Lungen, wir halten inne und blasen die Luft langsam durch unseren Körper wieder hinaus. Er ist ein essenzieller Teil des Menschseins, und doch ist er nicht einfach nur ein mechanischer Vorgang, sondern ein profunder Teil unserer Kulturen.
Die Tessiner Filmemacherin Simona Canonica, Autorin der Dokumentarfilme Con la licencia de Dios (2011) und Jugando con los pajaros (2014), verzichtet in ihrem neuen Werk auf eine lineare Erzählung. Es bewegt sich stattdessen wellenartig zwischen mehreren Ebenen: Es zeigt zwei Gruppen von Schüler:innen beim Erlernen des traditionellen Khöömeii-Gesangs in der Mongolei sowie einen Didgeridoo-Spieler mit seinem Sohn in Australien. Ihre Geschichten werden behutsam und assoziativ in den Film getragen, alternierend mit Szenen in einem winterlichen Wald in Italien, einer tauchenden Frau und dem Bau einer Geige. Die Erzählwellen kommen und gehen. Mitunter überschneiden sie sich und kreieren in ihrer Wiederkehr eine Zirkularität, die der des Atmens ähnelt.
Die Khöömeii-Schüler:innen durchlaufen eine Suche nach ihrem Atem, indem sie die Frequenzen für den Gesang in ihren Körpern zu finden lernen. So offenbart sich die Körperlichkeit dieses Prozesses, der sie einerseits an ihre Grenzen bringt. Anderseits finden sie zurück: zur Natur, zu sich selbst als Resonanzkörper und zum Ursprung ihrer Kultur, was ihre Sehnsucht nach Verbindung zur Tradition und Lebenswelt stillt. Dasselbe gilt für den Didgeridoo-Spieler in Australien, der sich durch das Spielen des Instruments nicht nur mit seiner Heimat, sondern ebenso mit Verstorbenen in Verbindung setzen kann.

© Visions du Réel/Amka Films Productions SA
Obschon keine Erzählung im klassischen Sinne erfolgt, erzählt Il canto del respiro ohne viele Worte vor allem von einer Suche nach Ruhe. Die poetische Bild- und Tonsprache lässt überraschende Überlappungen der unterschiedlichen Erzählebenen zu. Dadurch ist Il canto del respiro weniger Dokumentarfilm als meditativer Erfahrungsraum und erinnert darin an kontemplative Werke wie etwa Viktor Kossakovskys Aquarela (2018).
In einer Zeit der lauten globalen Krisen erinnert Il canto del respiro daran, dass Verbundenheit auch im Unsichtbaren liegt: im Atem, im Klang, im Innehalten. Der Film nimmt sich Zeit, bleibt beständig in seinen ruhigen Bewegungen, orientiert seine Intensität an leisen Momenten, Lücken und stillen Übergängen. Wer sich darauf einlässt, kommt in Genuss eines immersiven Kinos, wie es sich nur selten erleben lässt. An manchen Stellen entsteht der Eindruck, als könne man die Holzspäne beim Geigenbau berühren, sich in den Wellen am Strand auf- und abbewegen, oder als wäre man eine der Ameisen, die sich unter ihresgleichen auf dem Waldboden treiben lässt.
Junge Kritik
Diese Kritik entstand im Rahmen einer Zusammenarbeit mit der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) am Dokumentarfilmfestival Visions du Réel 2025 in Nyon.