«If Beale Street could talk» ist eine Zeile aus W.C. Handys «Beale Street Blues» von 1917. Darin besingt der stilbildende Songwriter jene Strasse in Memphis, die gemeinhin als Heimat des Blues gilt und in der man «pretty browns in beautiful gowns, tailor-mades and hand-me-downs, honest men and pick-pockets skilled», also Afroamerikanern jedweder Couleur begegnen kann. Genau diese Vielfalt afroamerikanischer Erfahrungen ist ein zentrales Thema des Romans "If Beale Street Could Talk", mit dem James Baldwin 1974 unter anderem das damals propagierte Narrativ der zerrütteten schwarzen Familie korrigieren wollte.
Konkret erzählt er die Geschichte der schwangeren Tish Rivers, die mithilfe ihrer Familie um die Freilassung ihres unschuldig eingesperrten Partners Fonny Hunt kämpft. Die Beale Street im Titel dient Baldwin als Metapher für all jene Quartiere, in denen sich eine spezifisch afroamerikanische Kultur entwickeln konnte, wie beispielsweise im New Yorker Stadtteil Harlem, wo If Beale Street Could Talk angesiedelt ist.
Barry Jenkins hat Baldwins Milieustudie nun als üppig orchestrierte Ode an die Kraft der Liebe verfilmt, wobei diese Liebe nicht nur in Form von Seelenverwandtschaft, sondern auch als Freundschaft und Familienbande ein Leuchtturm innerhalb eines ungerechten Gesellschaftssystems ist. Damit erscheint If Beale Street Could Talk wie ein sinfonisches Gegenstück zur poetischen Coming-of-Age-Geschichte Moonlight (2016): dort das Fehlen familiärer Strukturen, hier der bedingungslose Familienzusammenhalt. Anders als Chiron, der sich in Moonlight auf der vergeblichen Suche nach Liebe einen muskulösen Panzer zulegt, kann Fonny seine Sensibilität als Kunsthandwerker in der Bildhauerei ausleben.
In der Tat hat Barry Jenkins beide Drehbücher innerhalb der gleichen sechs Wochen geschrieben. Und wie in Moonlight unterminiert er auch in If Beale Street Could Talk das dramatische Potenzial der Handlung zugunsten differenzierter Beobachtungen. Anders als im Vorgänger, wo drei zeitlich klar begrenzte Momentaufnahmen aus dem Leben des Protagonisten nebeneinanderstanden, unterscheiden sich die vier durch Schwarzblenden voneinander getrennten Akte diesmal nur bezüglich ihrer Grundstimmung. Die relativ langen Szenen werden über den ganzen Film hinweg parallel und verschachtelt erzählt, wobei Jenkins konsequent auf spannungsfördernde Cliffhanger verzichtet.
Mit dieser schon im Buch angelegten Erzählstruktur sind die Filmemacher im Schnitt sehr frei umgegangen. Weil die Rückblenden immer über das Gesicht der Protagonistin Tish eingeleitet werden, liesse sich die Chronologie zwar problemlos rekonstruieren. Doch ist das gar nicht nötig. Die Qualität der Montage von Joi McMillan und Nat Sanders liegt gerade im assoziativen Fluss von Stimmungsbildern, deren Status zwischen Erinnerung und Vorstellung bisweilen in der Schwebe bleibt. Die Tonspur unterstützt diesen Stream of Consciousness mit weichen Szenenübergängen und einem intimen Score aus Streicherteppich und Bläsersolisten, der vermeintlich nahtlos in diegetische Plattenaufnahmen von Nina Simone oder Miles Davis übergehen.
Überhaupt funktioniert If Beale Street Could Talk wie ein Jazzstück. Zuerst werden die Themen in einer zugespitzten Dialogszene klar artikuliert. Anschliessend nimmt Jenkins Tempo raus und lässt einzelne Figuren als Solisten ihre eigene Geschichte erzählen. Wie Schlagzeugbreaks wirken jene essayistischen Sequenzen, in denen Tish anhand von Schwarzweissfotos energisch die gesellschaftlichen Hintergründe beschreibt, die zu Fonnys Verhaftung geführt haben.
In der Gegenüberstellung von Fiktion und historischen Bildern wie «Ellen Crying» von Gordon Parks ruft uns Jenkins neben dem einfühlsamen Romanautor auch den Aktivisten Baldwin in Erinnerung. Das wahre Verdienst von Jenkins' Leinwandadaption besteht allerdings gerade darin, dass sie das Gewicht nicht auf die Anklage, sondern auf die für den Bürgerrechtler ebenso wichtige Empathie legt. Während die Anteilnahme an der Ungerechtigkeit gegenüber Afroamerikanern im Kino immer noch viel zu oft auf drastisch dargestelltem Leid oder aber altruistischen Taten von weissen Protagonist_innen gründet, verzichtet Jenkins ganz auf die Darstellung stereotyper Brutalität oder Drogenprobleme.
Wer dies vorschnell als Schönfärberei abtut, ignoriert die viel relevanteren Hinweise auf alltägliche Diskriminierungen, die unter der romantisierten Oberfläche sehr wohl zum Vorschein kommen. So überlegt sich etwa Tishs Mutter Sharon vor dem Spiegel minutenlang, mit welcher Perrücke sie am ehesten ernstgenommen wird. Und in den unaufgeregten Dialogen kommt zum Ausdruck, wie sich aufgrund eigener Erfahrungen Vorurteile entwickeln - in diesem Fall gegen weisse Männer an den Schalthebeln der Macht. Am deutlichsten wird das in der Mitte des Films, wenn Fonnys Jugendfreund Daniel ausgiebig von seinem traumatisierenden Gefängnisaufenthalt erzählt, während James Laxtons organisch kreisende Kamera sein Gesicht im zunehmend verlöschenden Abendlicht einfängt.
Das einschlägige Personal – von der fanatisch religiösen Mutter über den rassistischen Polizisten bis zum gutherzigen Weissen - ist zwar auch in If Beale Street Could Talk vorhanden. Doch skizziert Jenkins diese Nebenfiguren aus der subjektiven Sicht der jungen Protagonistin bewusst fragmentiert. So sehen wir, wie sich Tish das Unbehagen ihres weissen Anwalts vorstellt, der sich durch sein Engagement langsam von seinen mitleidig lächelnden Kollegen entfremdet. Den Polizisten und die Puerto Ricanerin Victoria, die Fonny zu Unrecht einer Vergewaltigung bezichtigen, sehen wir in Tishs Fantasie wiederum im Stil klassischer Verbrecherbilder, je von vorne und im Profil. Als Sharon dieser Victoria in einer bewegenden Szene tatsächlich begegnet, wird der erste Eindruck nachhaltig korrigiert.
Weil fast alle Bilder durch die Wahrnehmung der verliebten Protagonistin gefiltert sind, ist von Baldwins Schilderung der dreckigen Slums nichts übriggeblieben. Insgesamt hat Jenkins aber eher zuviele Romanpassagen wörtlich in seine Adaption übernommen. Der musikalische Rhythmus der Dialoge klingt denn auch nicht immer nach authentischer Alltagssprache. Dafür kommt Baldwins kraftvolle Prosa in Tishs Erzählstimme voll zur Geltung: Während sie als 19-Jährige innerhalb der Erzählung naiv und zurückhaltend wirkt, entpuppt sie sich im Voice-Over als selbstbewusste, reflektierte Ich-Erzählerin. Da im Bild naturgemäss nur Erstere zu sehen ist, wirkt Tish stellenweise wie eine wunderschöne Dulderin mit gesenktem Blick. Sobald sie ihrem Gegenüber jedoch in die Augen schaut, verleiht ihr KiKi Layne eine geradezu strahlende Entschlossenheit. Stephan James wiederum hat sich bei der Verkörperung von Fonny an Interviews mit Kalief Browder orientiert, der vor wenigen Jahren tatsächlich unschuldig auf Riker's Island inhaftiert worden.
In Jenkins' Filmen offenbart sich das Wesen der Figuren auffallend oft in schauspielerischen und inszenatorischen Details. Im Falle von Tish sind das die langsamen Bewegungen, ihre Finger, die alles streicheln, was sie umfassen, und nicht zuletzt die unbändigen Haare, die ihr Gesicht wie eine Gloriole umgeben. Zudem wird sie auch visuell meist auf Augenhöhe mit Fonny gezeigt. Ähnlich wie Martin Scorsese in Taxi Driver (1976) vermittelt Jenkins die subjektive Wahrnehmung der Hauptfigur mit einer Kombination aus innerem Monolog, exzessiven Zeitlupenaufnahmen und orchestralen Jazzakkorden. Allerdings führt dies gelegentlich zu überflüssiger Bebilderung der Offstimme. Dafür lassen uns Jenkins und Laxton in handlungsleeren Momenten, in denen Tish und Fonny direkt in die Kamera schauen, immer wieder «in die Seelen» der beiden blicken. Am stärksten ist If Beale Street Could Talk ohnehin dort, wo sich Jenkins vom Text löst und eigene Bilder findet, etwa wenn Tish sich in der U-Bahn an eine Liebesnacht erinnert.
Eine zentrale Rolle in der Vermittlung von Tishs Befindlichkeit kommt der stilisierten Ausstattung zu: von den grünen Vorhängen im Elternhaus über das leuchtend rote Diner bis zu den ungewöhnlich gelben Wänden des Gefängnisbesuchsraums. Mit den perfekt darauf abgestimmten Kostümmustern weckt Jenkins wohl bewusst Assoziationen an Wong Kar-wais In The Mood For Love (2000). Inhaltlich unterscheiden sich die beiden sehnsuchtsvollen Werke allerdings entscheidend. Während die isoliert gezeigte, heimliche Liebesbeziehung in In The Mood For Love letztlich an inneren Widerständen scheitert, wird die bedingungslose Liebe zwischen Tish und Fonny von Aussen auf die Probe gestellt.
If Beale Street Could Talk interessiert sich aber sowieso mehr dafür, wie sich diese äussere Bedrohung auf das tägliche Leben des Umfelds auswirkt. Folgerichtig ersetzt Jenkins das melodramatische Finale des Romans durch einen Epilog, der ein Familienleben im Einklang mit den herrschenden Umständen zumindest nicht ausschliesst. So endet der Film eher versöhnlich denn ironisch mit Billy Prestons Soulversion der inoffiziellen amerikanischen Hymne «My Country, 'Tis of Thee», mit deren Freiheitsversprechen «Let freedom ring!» schon Martin Luther King Jr. seine berühmteste Rede vor dem Lincoln Memorial ausklingen liess.