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Ich seh 02

Ich seh ich seh

Die eineiigen Zwillingsbrüder Lukas und Elias genies sen alle Freiheiten, die Sommerferien auf dem Land mit sich bringen. Sie verstecken sich im Maisfeld, erkunden dunkle Höhlen und tauchen im kleinen Waldsee. Was sich friedlich anhört, ist in Ich seh ich seh vom ersten Augenblick an von schönster Unheimlichkeit, die in kühlen Farbtönen und Cinemascope ihren gruseligen Sog entwickelt.

Text: Tereza Fischer / 27. Juli 2015

Die eineiigen Zwillingsbrüder Lukas und Elias genies sen alle Freiheiten, die Sommerferien auf dem Land mit sich bringen. Sie verstecken sich im Maisfeld, erkunden dunkle Höhlen und tauchen im kleinen Waldsee. Was sich friedlich anhört, ist in Ich seh ich seh vom ersten Augenblick an von schönster Unheimlichkeit, die in kühlen Farbtönen und Cinemascope ihren gruseligen Sog entwickelt. So wirkt das Maisfeld wie ein endloses Labyrinth, in dem die Kamera von Martin Gschlacht wie in The Shining den Raum instabil werden lässt. Lukas verschwindet des Öfteren im Dunkel einer Unterführung oder unter der spiegelglatten Wasseroberläche. Du siehst mich, du siehst mich nicht.

Zurück im Haus finden die Zwillinge ihre Mutter vor, die mit bandagiertem Kopf heimgekehrt ist und wie ein Gespenst aussieht. Ob es ein Unfall war oder eine Schönheitsoperation, erfahren wir nicht. Eine rationale Erklärung, die das Gespenstische ihres Aussehens aufheben würde, fehlt. Statt einer herzlichen Begrüssung folgen Szenen von sonderlich emotionaler Kälte, harsche Befehle und übertriebene Strafen. Und so wächst in den Brüdern der Verdacht, die Frau mit der «Maske» sei gar nicht ihre Mutter. Vom Vater fehlt jede Spur, die Familie scheint versehrt und die enge Bindung von Mutter und Kind gestört – mit verstörenden Folgen.

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Ähnlich wie kürzlich in Jennifer Kents The Babadook wird auch hier der Horror durch ein familiäres Trauma ausgelöst – eines, das der Film erst in seinem Twist-Ende in Ansätzen enthüllt und das hier nicht verraten werden soll. Auch in Ich seh ich seh entspinnt sich die zerstörerische Dynamik im Innern der Familie, im Innern des abgelegenen Hauses am Waldrand. Darin ist alles perfekt gestylt und unterkühlt, was der Art der Mutter zu entsprechen scheint. Die Kunst an den Wänden zeigt Frauenporträts, unscharf, nicht fassbar, eine Projektionsfläche. Man schaut und schaut, erkennt aber die Wirklichkeit nicht. Diese unheimliche Unbestimmtheit erfasst auch den Innenraum, der sich immer wieder in der Dunkelheit auflöst, was wie in Lynchs Lost Highway weniger eine Gefahr von aussen als vielmehr das beunruhigende Unbekannte der eigenen Identität evoziert. In einer Traumszene wird auch das berühmte Zeitraffer-Kopfschütteln aus Lost Highway zitiert, mit derselben Implikation eines Persönlichkeitswechsels.

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Auf der Suche nach der wahren Identität der Mutter erhält das Muttermal wörtlich den Stellenwert eines Identifikationszeichens. Die Frau soll beweisen, dass sie die Mutter ist, oder gestehen, wo die richtige Mama bleibt. Der ultimative Liebesbeweis aber wäre, wenn sie das Lieblingslied von Lukas nennen könnte. Als die Mutter, bereits von den Söhnen zum Verhör gefesselt und gefoltert, «Guten Abend, gut’ Nacht» stammelt, hat sie verloren. Brahms’ Wiegenlied ertönte schon im Prolog, in einem Ausschnitt aus dem Fünfzigerjahre-Heimatfilm Die Trapp-Familie von Wolfgang Liebeneiner. Dieses Lied singt die Baronin Trapp mit ihren Stiefkindern als vom Nationalsozialismus bedrohte Vorzeigefamilie. Als in der Zeile «Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt» Schlafes Bruder anklingt, wird unheilvoll ins Schwarz ausgeblendet.

Das österreichische Regieduo Veronika Franz und Severin Fiala lässt in seinem ersten Spielfilm in einer langsamen Steigerung den Schrecken aus dem bürgerlichen Alltag entstehen. Beide sind familiär mit ihrem Produzenten Ulrich Seidl verbunden, der zuletzt in den Kellern der österreichischen Mittelschicht Groteskes an die Oberfläche zerrte. Veronika Franz ist Seidls Lebenspartnerin und seit 1997 enge Mitarbeiterin und Koautorin, Fiala ist sein Neffe. Zusammen haben sie zuvor ein facettenreiches und unterhaltsames Porträt des österreichischen Filmemacher-Anarchisten Peter Kern realisiert.

Diesmal wollen sie mit märchenähnlichem Horror die Zuschauer emotional überwältigen und auch physisch mit den Bildern attackieren. Dabei jonglieren sie bekannte Versatzstücke des Genres. Diese entfalten verankert im filmischen Realismus eine verstörende Kraft. Die Kakerlake als potente Auslöserin von Ekel taucht zuerst als vermeintliches Vorzeichen des Bösen auf und entpuppt sich als geliebtes Haustierchen – um dann aber in Albträumen doch den Körper der Mutter zu befallen. Solche Kippbewegungen zwischen einer harmlosen innerfilmischen Wirklichkeit und den Abgründen des Horrors schaffen produktive Verunsicherung.

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In zwei Szenen gelingt die Gratwanderung besonders eindrucksvoll: Elias versucht vergeblich, die schlafende Mutter zu wecken. Erst als er das Zimmer verlässt, öffnet sie die Augen und macht mit den Zähnen ein unnatürlich krachendes Geräusch, das in übertriebener Lautstärke an das Zermalmen von Knochen erinnert. Im nächsten Augenblick taucht ihre Hand mit einem Zwieback unter der Bettdecke auf. Alles ganz normal. In einer anderen Szene stakt [Susanne Wuest als die über die Flucht ihrer Söhne aufgebrachte Mutter auf ihren hohen Plateau schuhen herum und erinnert beim Treppensteigen an einen Zombie.

Was auf der Mikroebene zwischen Normalität und Horror changiert, verändert sich für die Zwillinge in ihrer Weltsicht. Das Heim, der Ort der Sicherheit und Geborgenheit, wird unheimlich, wenn die vertraute Mutter fehlt und durch ein scheinbar unbekanntes Wesen ersetzt wurde. Es ist der Blick des Kindes, eine halluzinatorische Wahrnehmung des schon immer Dagewesenen, das durch einen trauma tischen Vorfall verzerrt wird.

Vollständig geht die Konstruktion mit der Auflösung und überraschenden Wendung am Ende des Films zwar nicht auf, aber auch wenn man schon früh zu ahnen beginnt, was sich hinter der Veränderung des kindlichen Blickes verbirgt, nimmt es wenig vom ästhetischen und emotionalen Erleben weg. Dieses entwickelt gerade durch das nicht genau bestimmte Trauma und dessen Auswüchse und dadurch, dass sich das unheimliche Element nie richtig einholen lässt, einen intensiven Sog. Das verstörende Moment an Ich seh ich seh ist die Unmöglichkeit, das «Böse» zu lokalisieren, denn es ergreift von beiden Seiten Besitz und entwickelt im Fall der kindlichen Besessenheit erschreckend sadistische Dimensionen. Es ist Antwort auf die eigene Ohnmacht, auf ein überwältigendes Schuldgefühl.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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