FILMBULLETIN Woher stammt die Idee, die Faszination für eine Geschichte, wie Sie sie in Sister erzählen?
URSULA MEIER Daran sind mehrere Dinge beteiligt: Zum einen gab es mehrere Ideen gleichzeitig. Ganz wichtig war, dass ich unbedingt wieder mit Kacey Mottet Klein zusammenarbeiten wollte, der schon in Home mitgespielt hatte. Mit jenem Film wurde er praktisch an das Schauspielermetier herangeführt: Das heisst, ich habe nicht mit ihm ein Drehbuch besprochen, sondern ihn im realen Leben beobachtet und mit ihm gearbeitet: Wie er sprach, in welchem Ton und mit welcher Melodie. Das war eine sehr intensive Arbeit. Aber just zu Drehbeginn machte es klick!, und er, der vorher eher rezitiert hatte, konnte plötzlich irgendeinen Dialog sprechen – und es stimmte. Deshalb wollte ich unbedingt wieder mit ihm arbeiten, versuchen, mit ihm noch weiter zu gehen – und einen Film explizit für ihn, diesen jungen Schauspieler, schreiben.
Hinzu kam gleichzeitig die Idee, in dieser Schweizer Region, im Wallis, zu drehen, die meine Neugier geweckt hatte, weil ich häufig dort vorbeifuhr. Allerdings sollte es sich nicht um eine reale Gegend, einen realen Ort handeln, sondern vielmehr um eine Kartografie meiner Vorstellungswelt. Was ich sehr spannend fand, war, dass unten eine vorwiegend industriell geprägte Landschaft vorherrscht – blickt man aber nach oben, sind da die Berge und die megateuren Skistationen, zu denen die Leute aus allen Winkeln der Erde anreisen. Gleichzeitig wohnen unten in der Ebene Menschen, die noch nie oben waren, denen auch das Geld dazu fehlt. Und diese Topografie sagt meiner Meinung nach sehr viel über die Welt heutzutage aus – mit einem ausgesprochen einfachen Dekor: die Ebene, das Hochhaus, die Seilbahn – und dann die Skipiste oben. Mit sehr wenigen filmischen Mitteln war schon alles da.
Wiederum gleichzeitig kam die Idee, sich jemanden auszudenken, der von unten nach oben geht, dort Dinge klaut, um sie unten zu verkaufen. Als ich dann zu schreiben begann – vielleicht fünf Monate später –, dämmerte mir plötzlich, dass das gar nicht erfunden war, sondern eine Erinnerung, die ich bis dahin ganz vergessen hatte: Ich bin ja am Fuss des Juras aufgewachsen – und wir gingen häufig Ski fahren, mit der Schule oder mit den Eltern. Und da gab es diesen Jungen in meinem Alter etwa – also elf, zwölf Jahre alt –, von dem uns gesagt wurde, dass er ein Dieb sei. Man warnte uns, auf unsere Sachen aufzupassen. Er wiederum wurde zu einem Eindringling in dieser Welt. Um Ski zu fahren, braucht man immerhin gewisse finanzielle Mittel – es ist ja alles andere als billig –, und nun gab es da eine Art Paria, der nicht zu dieser gesellschaftlichen Schicht gehörte. Er beging also eine Art Verrat – schliesslich beruht auf der Piste vieles auf Vertrauen: Man lässt seine Skis – die bald mal so viel wie ein Laptop kosten – unbeaufsichtigt stehen. Zu jener Zeit also beschäftigte mich das ungeheuer: Woher kam dieser Junge? Wieso machte er das? Wie ging er dabei vor? Aber daran erinnerte ich mich erst wieder, als ich das Drehbuch schon geschrieben hatte. Grundsätzlich ist also gar nichts erfunden.
FILMBULLETIN Wie haben Sie dann konkret mit Kacey gearbeitet: Haben Sie ihm die Idee hinter der Figur vermittelt – oder mit geschriebenen Dialogen gearbeitet?
URSULA MEIER Ich habe ihm die Rolle auf den Leib geschrieben. Und was so faszinierend ist: Er kann sich wunderbar in ein Kind verwandeln, das sich ein Leben für da oben erfindet: als Kind reicher Hoteliers – und gleichzeitig kämpft Simon ja in seinem Alltag mit grossen finanziellen Schwierigkeiten. Ich glaube, dass Kacey grundsätzlich alles spielen kann – er hat eine unglaubliche Palette an darstellerischen Möglichkeiten. Und so habe ich mit ihm wie mit einem Profischauspieler gearbeitet: mit dem Drehbuch habe ich jede Szene gemeinsam mit Kacey erarbeitet – wer welche Szene “gewinnt”, was er als Simon durchlebt et cetera. Und er hat jeweils auch gleich begriffen – etwa wenn er sagte: Aber ich bin ja wie sein Vater! Und er hat recht: Genau das war es! Natürlich haben wir auch viel Körperarbeit gemacht. Für das Stehlen war das sehr wichtig. Das ist schon in einer der ersten Szenen von grosser Bedeutung: da, wo er sich in der Toilette befindet, wo ein richtiges Kuddelmuddel herrscht und doch alles sehr präzis sein muss. Da musste ich inszenieren wie bei einer Choreografie. Ich gab dabei den Rhythmus vor – zuerst das, dann das, dann das, um so die Gesten zu zergliedern. Das war zugleich sehr psychologisch, aber auch sehr physisch.
FILMBULLETIN Sie arbeiten augenscheinlich gerne mit Kontrasten: mit sehr engen Räumen, um dann wieder die Weite zu fokussieren. Oder Sie thematisieren häufig die Familie, um gleichzeitig ihre “Abwesenheit” oder besser Dysfunktionalität aufzuzeigen.
URSULA MEIER Ja, das stimmt. Ich glaube, ich bin selbst als Person sehr widersprüchlich – worin aber meiner Meinung nach sehr viel Kreativität liegt. Ich liebe Kontraste, ich liebe Widersprüche: Wenn man Schwarz und Weiss zusammennimmt, bin ich überzeugt, dass etwas Drittes entsteht. Dazu gehört in meinem Film auch der Ton – oder das Visuelle: Das Oben und Unten kontrastieren enorm.
FILMBULLETIN Das findet sich ja auch auf einer emotionalen Ebene: Einerseits zeigen Sie das Fehlen von Gefühlen auf – etwa von Louise gegenüber Simon –, andererseits tun Sie das auf eine ungeheuer emotionale, intensive Art und Weise, welche die Zuschauer in Bann zieht. Haben Sie dafür Vorbilder?
URSULA MEIER Ich wollte einen Film machen, der gleichzeitig hart, aber auch sehr berührend ist. Wobei die Form dabei sehr wichtig ist: Das Kino besteht aus Bildern und Tönen, und die daraus entstehenden Emotionen vereinigen sich mit den Emotionen aus der Geschichte. Aus dieser Art von Kino “nähre” ich mich auch in einer gewissen Weise. Für Sister habe ich Léa Seydoux etwa La Salamandre von Alain Tanner gezeigt oder insbesondere La Dentellière von Claude Goretta, von dem ich finde, dass er unglaublich modern ist. Wie Isabelle Huppert, die dort die Hauptrolle spielt und sich nicht auszudrücken vermag, um schliesslich verrückt zu werden, betrachte ich meine Figuren als ein in gewisser Weise “behindert”. Louise zum Beispiel hat viel Liebe in sich, aber ihr fehlen die Werkzeuge, sie hat nicht die Fähigkeit, sie weiterzugeben – insbesondere gegenüber Simon. Wie auch Isabelle Huppert in Home: Beide funktionieren im Rahmen eines sozialen Kontexts, verhalten sich aber komplett dysfunktional. Auch Louise könnte sich Hilfe holen – bei sozialen Institutionen –, tut es aber nicht. Deshalb empfinde ich meinen Film auch nicht als Sozialstudie. Louise hat ihren Stolz, ist in gewissem Sinn auch wütend auf diese Gesellschaft – aber sie ist nicht der Typ, der sich Hilfe holt. Sie hält die Emotionen alle zurück, um dann wie ein Vulkan zu explodieren und sie alle aufs Mal rauszulassen.
FILMBULLETIN Nicht nur die Emotionen spielen eine wichtige Rolle in Sister – auch das Geld …
URSULA MEIER Simon glaubt, dass er sich für Geld alles kaufen kann: die Liebe, eine Familie. Etwa wenn er bei der englischen Touristin für Momente die Illusion einer Familie geniesst – und sie dafür im Restaurant einladen will. Er glaubt, dass man immer für alles zahlen muss. Er lebt auch in einer grossen Angst – und das Geld hilft ihm, diese Angst zu vermindern. Deshalb hat er seine Taschen damit vollgestopft, er zählt es die ganze Zeit – es gibt ihm die nötige Ruhe, um einschlafen zu können. Wobei ich grundsätzlich feststelle, dass das Geld heute an die Stelle der Ideale getreten ist. Louise und Simon leben am Rand der Gesellschaft, sie folgen keinem Gesetz, es gibt keine Autorität, die ihre Macht über sie ausübt. Simon ist dabei eigentlich in der Rolle des Opfers.
FILMBULLETIN Nach Home haben Sie wieder mit Agnès Godard an der Kamera gearbeitet. Was schätzen Sie besonders an ihrer Art, Bilder einzufangen, die Kamera zu führen?
URSULA MEIER Ich glaube, ich mag rundum alles an ihrer Vorgehensweise. Insbesondere aber mag ich sie als Person – uns verbindet eine grosse Freundschaft. Und ich habe das Gefühl, auf einer filmischen Ebene enorm viel von ihr zu lernen. Als wir für Home zusammenarbeiteten, bereiteten wir uns minutiös vor: Ich kam mit einer klaren Vorstellung eines Universums, das ich kreieren wollte – ich zeigte Fotos, ich wusste schon, wie der Film werden sollte. Während wir nun für Sister vermehrt zu zweit arbeiteten, die Dinge sich viel freier, viel organischer zusammenfügten. Wie für mich war es auch für sie ihr erster Film in High Definition – und unser Vorsatz war, nicht die Ästhetik eines 35-Millimeter-Films nachzuahmen. Und so gab es viele Diskussionen darüber, wie man sich von einem gewissen Naturalismus loslösen könnte. Wir wollten auch dem Dekor unten, in seiner ganzen Düsterkeit, etwas Lichtes geben. So hatte beispielsweise jede Phase der filmischen Zeit – an Weihnachten, im Februar und an Ostern – eine eigene, bestimmte Farbe. So steht etwa die Farbe Blau am Anfang – die dem Film fast etwas Märchenhaftes gibt. Das ermöglicht uns auch, den Film etwas von der Realität einer Gesellschaftsstudie zu lösen, um eine Geschichte im Hier und Jetzt zu erzählen. Grundsätzlich stand die Intuition über einem filmischen Konzept. So haben wir auch bei den Aufnahmen weniger darauf geachtet, den Film auf den Schnitt hin zu drehen, freier zu sein. Wie auch in der Zusammenarbeit mit Kacey ging es auch bei Agnès darum, einen Schritt weiterzugehen – basierend auf dem grossen gegenseitigen Vertrauen, das bei Home entstanden war.
FILMBULLETIN Sie haben das Ende des Films sehr offen gelassen. Eigentlich könnte man am Ende des Films neu ansetzen und die Geschichte neu beginnen lassen …
URSULA MEIER Ja, es ist sehr offen. Und doch gleichzeitig sehr positiv: weil beide sich aus der Wohnung wegbewegen, wegbewegt haben. Die letzte Szene beinhaltet auch in gewissem Sinne Erleichterung: Zum ersten Mal leistet Louise einen Beweis ihrer Liebe zu Simon. Und das überrascht Simon – und er ist gleichzeitig wie erlöst. Noch nicht glücklich, aber doch irgendwie erlöst. Und das ist der Anfang für etwas Neues.
FILMBULLETIN Auch bei der Entwicklung der Figuren gehen Sie eher unkonventionelle Wege …
URSULA MEIER Der Film wartet mit ein paar Überraschungen auf, die sich wie eine Art effektvolle Wendungen ausnehmen – fast schon wie bei Shakespeare –, um die Geschichte plötzlich in eine ganz andere Richtung laufen zu lassen. Ich mag das sehr. So entsteht auch eine Art erzählerische Klimax: Der Film beginnt wie eine Art Sozialstudie, um dann plötzlich zu etwas ganz Anderem zu werden. Das soll den Zuschauer verblüffen, ihn unerwartet in eine ganz neue Richtung mitnehmen. Das war schon in Home so: Zu Beginn vermutet man einen etwas burlesken Film, der dann unvermittelt und zunehmend fast zu einem Horrorfilm wird. Ich wechsle das Genre innerhalb des Films. Und dasselbe wollte ich auch in Sister. Zu Beginn wähnt man sich beinahe in einem Film à la Dardennes – um dann unversehens zu einem Film über die Liebe zu werden: über den Wunsch, zu lieben und geliebt zu werden.
FILMBULLETIN Die Familie spielt in vielen Ihrer Filme eine wichtige Rolle. Was bedeutet «Familie» für Sie?
URSULA MEIER Familie ist nicht zuletzt ein Ort der Neurosen (schmunzelt). Doch die Familie ist heute so wichtig wie selten – die ganze Gesellschaft scheint sich an die Familie zu klammern. Während gleichzeitig «Familie» auch «Explosion» bedeutet, «Neuzusammenstellung». Nicht zuletzt besteht da ein grosser Widerspruch: Zum einen wird die Familie idealisiert – als ultimativer Rückzugsort –, und gleichzeitig gab es noch nie so viele Scheidungen, so viele Familien, die auseinanderbrechen und sich neu konstituieren. Louise und Simon leben nicht zuletzt eine Utopie: diejenige, Familie anders zu leben. Die beiden haben sich letztendlich ihre eigene Welt mit ihren eigenen Gesetzen geschaffen.
Das Gespräch mit Ursula Meier führte Doris Senn
(Bild: Ursula Meier)