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Gessner dreh un milliard dans uns billard

«Ich bin ein sehr drehbuchgläubiger Regisseur»

«Das Wichtigste der Regie ist nicht zu sagen: Die Kamera kommt hierher, Brennweite 50, und du, der Schauspieler, du kratzt dich am linken Ohr, sondern eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Kamera wie traumwandlerisch an den richtigen Ort kommt, mit der richtigen Brenn­weite, und der Schauspieler von sich aus am richtigen Ohr kratzt. Ein guter Regisseur verbreitet auf seinem Set eine Atmosphäre, in der alle von sich aus das Beste und Richtige machen.»

Text: Walt R. Vian / 01. Dez. 2001

FILMBULLETIN Orson Welles, Anthony Perkins, Charles Bronson, Sharon Tate, Jodie Foster, Vittorio de Sica, Jean Seberg, Edward G. Robinson, Mireille Darc, Vittorio Gassman, Ben Gazzara, Rod Steiger – wenn man sich Ihre Filmographie ansieht, fällt auf, dass Sie mit vielen Stars gedreht haben.

NICOLAS GESSNER Ja, jaja, möglichst. Dass die Schauspieler die wichtigsten Emotionsträger sind, ist zwar ein Klischee, aber ich bestehe darauf: Die interessanteste Landschaft ist eben das menschliche Antlitz.

Der interessanteste Moment beim Drehen ist – wenn man zur Grossaufnahme kommt, wo der Held etwas erfährt, was der Zuschauer bereits weiss. Der Held erfährt es jetzt – und jetzt will ich seine Augen sehen. Wozu entschliesst er sich? Meistens entschliesst er sich zum Falschen, aber das setzt die Story wieder in Gang. Für solche Augenblicke sind Stars natürlich wie geschaffen. Manchmal heisst es ja, der Gessner nimmt einfach Stars. Aber so einfach ist das nicht, man muss ihnen auch gute Rollen anbieten.

FILMBULLETIN Was ist ein Star?

NICOLAS GESSNER Wahrscheinlich gibt es so viele Definitionen von Stars wie es Filmemacher gibt. Man sagt sogar, es gebe Stars, die keine guten Schauspieler sind. Für mich sind Stars Schauspieler oder Schauspielerinnen für die man sich automatisch schon interessiert. Stars haben das mysteriöse Talent – und deshalb sind sie Stars –, dass man sich automatisch, a priori für sie interessiert.

Alles, was wir machen – Drehbuch, Regie, Fotografie, Kostüm, Licht –, alles zielt darauf, Interesse dafür zu wecken, was diesem Mann oder dieser Frau passiert. Darauf, dass der Zuschauer für die Helden hoffen oder um sie fürchten kann.

Die star-quality kann sozusagen mathe­matisch nachgewiesen werden. Bei einem Star können Sie am Schneidetisch, oder jetzt auf dem Avid, einfach zufällig auf den Stopp-Knopf drücken, wo Sie wollen, Sie haben 24-mal pro Sekunde die volle Wucht seines Ausdrucks. Wenn Sie bei einem Schauspieler ohne star-quality zufällig stoppen, dann ist er, je nachdem, ganz da, aber vielleicht macht er die Augen halb auf, atmet gerade und der Mund ist ein wenig verzogen. Der Star ist 24-mal pro Sekunde präsent. Sie könnten aus jedem einzelnen Fotogramm ein Poster machen. Das ist der Star. Im Gegensatz zu einem sehr guten Schauspieler, der sehr sensibel ist, der Ihnen eine tolle Performance liefert.

In It Rained All Night the Day I Left hatte ich einen Star, Tony Curtis, und den glänzenden Lou Gossett jr., ein schwarzer Schauspieler, der ein Jahr später für An Officer and a Gentleman den Oscar gewonnen hat. Ein hervorragender Schauspieler und ein netter und lieber Kerl. Daneben wirkte Tony Curtis ein wenig kitschig, ein wenig has been, ein wenig stoned und ein wenig drogiert. Aber ein Star. Er war einfach immer präsent. In den Proben war er öfters etwas à profil perdu. Bei der Aufnahme war er aber vorn und hat Lou Gossett die Show gestohlen. Das merkte ich in einer Szene in plan séquence, also eine ganze Szene in einer einzigen Einstellung, in einer Bar. Lou Gossett musste einen Cocktail mixen, mit einem Mixer, in dem Eiswürfel waren. Das machte natürlich Lärm. Ganz ohne dies­bezügliche Regieanweisung und ohne dass es so geprobt worden wäre, hat sich Tony Curtis «durchgeschlängelt» und alle seine Sätze in die Lärmpausen plaziert, Lou Gossett musste immer im Lärm seines eigenen Shakers sprechen. Alle Dialoge des Stars waren voller Wucht präsent, sauber und percutant, während man den armen Lou Gossett nachher synchronisieren musste.

FILMBULLETIN Wussten Sie das bereits, als Sie sich die ersten Stars suchten?

NICOLAS GESSNER Nein, aber ich habe von Anfang an eine Strategie verfolgt. Ich sagte nicht: Bitte, ich möchte meinen ersten Film machen, das kostet gar nichts, und ich mach dann auch ganz schnell. Ich hatte schon Dokumentarfilme gemacht und wusste deshalb bereits, dass es gewisse Dinge einfach braucht. Meine Strategie war also: Das ist mein erster Film. Ich bin Anfänger. Gebt mir solide Hilfe. I need all the help I can get.

Mein Produzent, Raymond Danon, war ganz dafür. Ja, ja, da müssen Stars her. Wir hatten Jean Seberg, die bereits ein Star war. Claude Rich, der doch einen Namen hatte. Auch bei der Motiv­suche sagte der Produzent: Je veux voir des choses cossues – ich will brillante, reiche Dekors sehen. Ich wollte Diamantenbillard schwarzweiss drehen. Nein, nein, nichts da, das muss farbig werden. Es müssen schöne Dekors und Stars her.

Ich habe das natürlich alles gerne angenommen. Jean Seberg sagte, sie schenke mir Ver­trauen, weil sie glaube, die Regisseure seien bei ihren ersten Filmen am besten. Deshalb spielte sie wohl in so vielen ersten Filmen. Jedenfalls ist der Star mir da entgegengekommen.

FILMBULLETIN Wie haben Sie damals den Produzenten überzeugt?

NICOLAS GESSNER Ich habe erst später verstanden, dass ich ihm ein glänzendes Geschäft vor­schlug, weil ich die Hälfte der Finanzierung aus Deutschland mitbrachte, und zwar Cash. Das reichte bereits, um den Film zu machen. Die andere Hälfte der Finanzierung bestand aus Studio-, Laborkrediten und Subventionen. Trotz­dem bin ich ihm dankbar, dass er mir Vertrauen schenkte. Natürlich war auch das Drehbuch wirklich gut, das ich mit Charles Spaak zusammen ge­schrieben hatte. Bitte, auch ein Star.

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(Bild: Un milliard dans un billard)

FILMBULLETIN Wie sind Sie auf Charles Spaak gekommen?

NICOLAS GESSNER Es war meine Story, ich hatte sie zu Faden geschlagen und die Atlas-Film in Deutschland hat sich für mich so irgendwie, aber eigentlich eher unverbindlich interessiert. Von Anfang an sagte ich ihnen, nicht wahr, dies wird ein französischer Film. Ja, warum? Das ist eine Komödie. Gut, aber weshalb nicht in Deutsch? Nun, ich bin ein Schüler von Leopold Lindtberg und Oskar Wälterlin, war lange Assistent am Schauspielhaus Zürich und hatte ein gewisses Miss­trauen gegenüber den deutschen Schauspielern, obschon sie ja glänzend sind. Denn die deutschen Schauspieler lernen eben, wie man Gefühle zeigt, während die angelsächsischen Schauspieler lernen, wie man Gefühle ausdrückt, indem man sie versteckt. Die Franzosen liegen vielleicht auf halbem Weg dazwischen. England und Holly­wood waren noch etwas zu weit weg, aber Frank­reich war gleich die Türe nebenan.

Da ich ja niemanden kannte, besuchte ich die Drehbuchautoren von Filmen, die mir in den letzten Jahren gefallen hatten: Jean-Charles Tacchella, die Gebrüder Tabé und viele andere. Ich fand offene Türen, einige sagten sogar: Ist ja toll, lass uns gleich mit der Arbeit beginnen.

Charles Spaak war nicht mehr in Paris, hatte sich schon etwas zurückgezogen und lebte in Vence, in Südfrankreich. Ich schickte ihm das Treatment, wir machten einen Termin und ich besuchte ihn. Er sass da: Was wollen Sie mit diesem Film? Erzählen Sie mir mal die Geschichte, cher Nicolas. Ich fragte: Ja, haben Sie denn das Treatment nicht gelesen? Er: Doch, doch, aber ich habe es viel lieber, wenn Sie mir die Geschichte erzählen. Spaak übte Kritik und stellte Fragen, die andere nicht gestellt hatten, äusserte auch die meisten Bedenken. Deshalb dachte ich: Das ist mein Mann. Ich will ja nicht, dass man mir nur auf die Schultern klopft. Nicht wahr: I need all the help I can get. Mit Spaak bin ich glänzend ausgekommen – und ich verdanke ihm sehr viel.

Im Grunde genommen habe ich die Art von Zusammenarbeit, wie ich sie bei Spaak gelernt habe, mit allen guten Drehbuchautoren, mit denen ich nachher gearbeitet habe, praktiziert – nach ungefähr dem gleichen Zeitplan: etwa einen Monat reden, fast ohne zu schreiben. Einen Monat schreiben, er schreibt und ich schreibe hinterher – ich nehme mir jeden Tag die vier oder fünf Seiten, die er schreibt, und schreib sie neu, etwas näher zu meiner Vision. Aber ich störe ihn möglichst wenig, höchstens, wenn Dinge wirklich schief laufen. Dann folgt noch ein Monat Revision.

Bei Richard Schweizer, der noch den klassischen Schweizerfilm mitgeschrieben und miterfunden hat, unter der Ägide des genialen Tyrannen Lazar Wechsler, hatte ich schon eine Art kleiner Vorschulung. Schweizer brauchte immer einen intellektuellen Laufburschen, der ihm die Bälle zurückwarf, einen Yes-Man, wie Leopold Lindtberg das nannte. Dazu wurde ich erkoren, das war mein erster Job bei Richard Schweizer. Das war eine gute Vorstufe.

Wirklich dramaturgisch hieb- und stichfest, ohne dass er sich dessen bewusst war, war Charles Spaak. Er hatte dramatische Strukturen «in sich», ohne sie zu rationalisieren, wir schrieben Diamantenbillard in seinem Land­haus in Vence, er in seinem Büro, ich auf der Veranda. Als ich wiedereinmal die neuen Blätter holen wollte, sah ich, dass er weinte: Er war echt zu Tränen gerührt durch die Szene, die er eben geschrieben hatte. Bei Spaak konnten Dramatik, Romantik und Poesie nebeneinander gedeihen. Das machte ihn zum grossen, klassischen Drehbuchautor.

Einer der berühmtesten Filme von Charles Spaak ist La grande illusion, bei dem Jean Renoir die Regie führte. Ich weiss nicht, ob es stimmt, aber ich habe das Gefühl, vielleicht weil ich Spaak so gut und Renoir auch ein bisschen kannte, dass der erste Teil von Spaak und der zweite von Renoir geprägt wurde:

Die Gefangenen, die fliehen wollen, der französische Offizier und Aristokrat, der sich kulpabilisiert, weil er sich dem deutschen Offizier, Erich von Stroheim, näher fühlt als dem eigenen Korporal, Jean Gabin, der aus diesem Dilemma heraus zum Verräter an seinem Freund, Stroheim, wird, damit er seiner Nation die Treue halten kann, Gabin zur Flucht verhilft und dabei selber umkommt. Das ist hervorragende Dramaturgie. Das hat eine dramatische Struktur und die ist von Spaak. Der zweite Teil, die Flucht zu Fuss in einer winterlich geprägten Landschaft, die Zuflucht bei der Bäuerin auf dem abgelegenen Hof, der ist auch grossartig, poetisch, bewegt, hat aber eine narrative, eine epische Erzählform, die typisch französisch ist, und das würde ich Renoir zuschreiben.

François Truffaut ist der Inbegriff des franzö­sischen Genies, des poetisch-narrativ epischen Erzählens, das keine dramatische Struktur hat. Bei Truffaut war das kein Problem, weil er ein gross­artiger Poet war. Das ist aber die grosse Schwäche des französischen Films, jeder denkt: Auch ich bin ein Truffaut, und vernachlässigt das dramaturgische Handwerk, das man haben muss, wenn man kein Genie ist.

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(Bild: Un milliard dans un billard)

FILMBULLETIN Hat sich Charles Spaak noch durch andere Dinge ausgezeichnet als durch klare dramaturgische Strukturen in seinen Drehbüchern?

NICOLAS GESSNER Ja, durch eine – jawoll: eine schöpferische Unlogik.Christian Gottfried Körner – so hat es mir Richard Schweizer vor Jahren erzählt – bat Friedrich Schiller um Rat: Wie soll ich das machen? Schiller: Hören Sie, Ihr Intellekt ist wie eine Festung, die von einer Schar von Ideen und Einfällen bestürmt wird. Sie brauchen keine Angst zu haben, lassen Sie all Ihre Einfälle, all Ihre Ideen in die Festung herein. Wehren Sie sie nicht ab, lassen Sie sie rein. Wenn die Einfälle dann in der Burg drin sind, können Sie sie leicht meistern, klassieren, erledigen oder sogar um­bringen. Aber lassen Sie sie erst mal reinströmen. Zu dieser Art Umgang mit kreativen Ideen hat mir Spaak auch verholfen.

In Diamantenbillard verstecken Claude Rich und sein Freund die gestohlenen Diamanten in einem Billardtisch, Ganoven, als Umzugsleute verkleidet, wollen diesen Billardtisch dann aus dem Haus tragen. Jetzt kommt auch noch die Polizei und fragt: Was ist das? Und öffnet den Billardtisch. Da sagte Spaak: Et les bijoux n’y sont plus! Da sind keine Juwelen mehr drin. Ich: Nein, hören Sie, cher Charles, das geht ja nicht, dann ist der zweite Akt im Eimer. Darauf er: Ja, ent­schuldigen Sie, Nicolas, ich hab das übersehen. Am nächsten Tag kommen wir wieder zu dieser Szene, sie öffnen den Billardtisch und Spaak sagt: Et les bijoux n’y sont plus! Entschuldigen Sie Charles, wir haben das gestern besprochen, das ist leider unmöglich. Ah ja, Entschuldigung. Am dritten Tag noch einmal: Et les bijoux n’y sont plus! Er hatte völlig Recht. Im Film öffnen sie den Billardtisch: Et les bijoux n’y sont plus! Im Gegen­satz zu meiner ersten Annahme, lanciert das sogar den dritten Akt.

Das ist der Beitrag eines genialen Dreh-buchautors: die Unlogik doch logisch werden zu lassen. Spaak hat gesagt: Aber das wäre doch amüsant. Und dann setzte ich mich hin und brachte eine Konstruktion zustande, die funktioniert.

Wenn Sie sich Diamantenbillard jetzt ansehen, ist er zum Teil unerträglich langsam und umständlich, auch altmodisch in der Art der Schauspielerei. Die Charakterdarstellungen, die Charakterzüge der Figuren aber, die stimmen immer noch. Im Nachhinein macht das auch den genialen Beitrag von Spaak aus, dass er eben diese Charaktere so gut gezeichnet hat.

FILMBULLETIN Ein kleines Detail: Walter Roderer spielt einen Tresorknacker und leert später mit derselben Methode einen Parkingmeter. Wessen Idee war das?

NICOLAS GESSNER Das war schon im Drehbuch. Das musste ja vorbereitet werden. Roderer musste die gleiche Geste machen wie beim Öffnen des Tresors, und er brauchte einen Behälter. Man musste begründen, weshalb er einen Papiersack mit sich trägt, sonst würde man sich fragen: Wieso hat er einen Sack, aha, damit die Münzen reinfallen. Also musste da ein Sandwich rein, damit man sah, warum er den Sack mit sich trägt. Und ich erinnere mich noch genau, zuerst war das Sandwich zu klein, es schaute oben nicht raus. Wir hatten keine Zeit, ein neues Sandwich zu holen, und so stopfte ich unten etwas in den Sack, damit das kleine Sandwich doch oben rausschaut. Wie sagte doch Hitchcock: Was ist die Aufgabe des Regisseurs? To suspend disbelief. Auf Französisch würde man sagen: pour faire avaler les choses, oder auf Deutsch, um Dinge plausibel zu machen. Der Gag, wie Roderer die Parkuhr knackt, funktioniert nur, wenn die Aktioner-- staun-lich, aber eben auch plausibel ist. Und das muss man eben vorher pflanzen, wie der Zauberer, der seine Tricks vorbereitet, und wenn der Zauber kommt, ist alles schon da.

FILMBULLETIN In welchem Stadium des Schreibens haben Sie dies erfunden?

NICOLAS GESSNER Ziemlich früh. Im ersten Stadium redet man ja nur, man entwickelt die Story. In der zweiten Phase schreibt man während eines Monats – das ist gar nicht so lang. Ein Film hat normalerweise zwanzig bis fünfundzwanzig Szenen, da muss man immerhin jeden Tag eine Szene erfinden, und es gibt Tage, an denen einem nichts einfällt, an denen die Probleme unlösbar erscheinen. Da muss man schon tüchtig konzentriert sein. Vielleicht ist der Parkuhr-Gag in dieser Phase reingekommen. Vielleicht auch erst in der dritten Phase, bei der Revision.

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(Bild: 12+1)

FILMBULLETIN Diente die Skizze von der «Flugplatz-Szene» zur Überprüfung des Drehbuchs?

NICOLAS GESSNER Ja: Eine Art Check-List, ob wir am Schluss, im dritten Akt, auch wirklich alle loose ends zusammengeknüpft haben, Haupt­figuren und Nebenfiguren, Emotion und Witz, Romantik und Mechanik, die im Uhrwerk einer «gut geölten» Komödie nahtlos und turbulent ineinander verwoben sein müssen.

FILMBULLETIN Mit den Schauplätzen hat die Skizze ja wenig zu tun.

NICOLAS GESSNER Aber mit den Beziehungen, durch die Personen miteinander verbunden sind, und das ist das Aller-aller-Wichtigste.

FILMBULLETIN Entwickeln Sie Figuren beim Schreiben bereits im Hinblick auf einen bestimmten Darsteller?

NICOLAS GESSNER Ja, aber im Film war’s dann jedes Mal ein anderer.

FILMBULLETIN Wie wählen Sie Ihre Stars?

NICOLAS GESSNER Bei den Stars ist es ja um­gekehrt. Der Star wählt Sie, denn er hat dreissig Angebote pro Tag. Ich hoffe, dass der Star, den ich gern hätte, mein Angebot annimmt. Das ist Fleiss­arbeit und Glückssache. Man muss im richtigen Moment kommen und eine Rolle anbieten, worauf er Lust hat, in der er etwas to sink his teeth into, wo er etwas zu beissen hat.

Ich kenne aber keine Stars, die nicht auch perfekte, seriöse Handwerker wären. Edward G. Robinson ist drei Wochen vor Drehbeginn an­ge­kommen, wusste seinen Dialog bereits auswendig, kannte alle Szenen. Bei den Kostümen meinte er, in dieser Szene könnte er einen Hut tragen, weil er ihn dann bei einer bestimmten Dialog­stelle abnehmen würde. Er hatte sich alles bereits ausgedacht, war aber trotzdem offen für meine Vorstellungen.

Vittorio de Sica ist der präziseste Schauspieler, mit dem ich je arbeitete. In 12+1 hatte ich auch noch den Virtuosen Vittorio Gassman und Sharon Tate. Alles perfekte Handwerker. Das war auch der Film, bei dem ich am wenigsten Filmmaterial verbrauchte.

De Sica sass zwischen den Takes immer in seinem Stuhl und hat geschlafen, während ich jemand bin, der immer umherrennt. Mit einem Augenzwinkern: Nicola, vieni, voglio dirti una cosa. Ich kannte noch den alten John Ford. – Sie müssen sich vorstellen, wie de Sica das erzählt: Ich kam bei Ford auf den Set und sah Pferde galoppieren, Indianer angreifen. Ford war über siebzig, deshalb fragte ich: Wie machen Sie das? Ford: I’ve got a trade secret. I’m gonna tell you. De Sica mit seinem italienischen Akzent: How do you do it? Ford: I sit. Von da an hatte ich auch einen Regiestuhl, und mein Assistent hatte den Auftrag: Sag mir immer, ich soll sitzen. Ein Rat von John Ford, den ich indirekt von de Sica erhielt. Bei jedem hat man etwas gelernt.

FILMBULLETIN Orson Welles war bei 12+1 auch dabei.

NICOLAS GESSNER Der Film war bereits zu lang. Der Produzent war in Hollywood und wir drehten in Rom. Am Abend sagte der Produzent: Nein, diese Szene wird gestrichen, und telefonierte Orson Welles. Tut mir leid, wir brauchen Sie nicht mehr. Nachts, nach Drehschluss, telefonierte auch ich mit Orson Welles: Nein, nein, kommen Sie ruhig. Sie kennen mich zwar nicht. Aber, kommen Sie, hören Sie nicht auf den Produzenten. Sie werden sehen, alles wird wunderbar werden. Orson Welles hatte ja immer Konflikte mit seinen Produzenten, und er fand wohl, das ist lustig, dem Gessner geht es ähnlich wie mir. Eine Woche lang ging das hin und her. Der Produzent fluchte: Weshalb hast du wieder mit Welles tele­foniert, wir können doch nicht, das geht doch nicht. Doch, doch, du wirst sehen, das wird die beste Szene des Films. Alle hatten Angst, denn Welles hatte eben erst die Produktion catch 22 von Mike Nichols um drei Wochen verlängert, weil er zum Mittagessen ging und dann nicht mehr zur Arbeit kam. Schlussendlich kam Orson Welles, es war wunderbar, und es wurde wirklich die beste Szene des Films.

Nur Vittorio Gassman ertrug nicht, dass man vor Orson Welles so viele Verbeugungen machte. Er sagte: Schau Nicolas, ich mach keine Schwierigkeiten, aber trenne uns wenn immer möglich. Schnitt und Gegenschnitt. Das wurde gemacht, aber trotzdem war er so frustriert, dass er krank geworden ist. Die komplizierteste und bewegteste Szene des ganzen Films, mit Statisten und Kostümen – ein ganzes Theaterdekor fällt zusammen, Orson Welles fällt in den Orchestergraben und alles geht drunter und drüber – musste ich ohne Gassman drehen. Die Gegenschüsse auf Gassman haben wir sechs Wochen später nachgedreht.

Das gibt es auch, wenn die Stars zusammenkommen – den Clash der Stars.

Oder Tony Curtis vis-à-vis Sally Kellerman, eine tolle Altman-Schauspielerin, die es gewohnt ist zu improvisieren und immer neue Ideen ent­wickelt. Tony Curtis wurde beinahe verrückt, weil Sally Kellerman immer wieder etwas anderes machte. Curtis war immer im ersten, zweiten oder dritten Take bereit, haargenau und präzis. Wenn Sally Kellerman schliesslich so weit war, war Tony Curtis längst nicht mehr in Top-Form. Drehen, das ist wie bei einem Koch, wo alle Töpfe gleich­zeitig fertig gekocht sein sollten.

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(Bild: 12+1)

FILMBULLETIN Bleibt für den Regisseur, nach der Besetzung, auf dem Set eben doch noch etwas zu tun.

NICOLAS GESSNER So ist es. Jodie Foster war zwar damals noch kein Star, aber bereits umwerfend an Präzision. Das ganze Kino hatte sie mit drei-zehn Jahren schon verstanden. Wir hatten eine kompli­zierte Einstellung in The Little Girl Who Lives Down the Lane. Sie musste die Treppe runter kommen, zur Türe gehen und lauschen, wer draussen sein könnte. Es war eine ziemlich komplizierte Sache, mit Fahrten und Kamera­bewegungen. Sie trat ein bisschen neben ihre Mar-ke, so dass ihr Schatten auf die Türe fiel. Es war so wenig, dass ich es nicht korrigieren wollte. So sagte ich: Komm, wir machen es noch einmal, das Travelling war nicht so gut. Sie schaute mich an und machte mir ein Clin d’œil: Woher denn, mein Schatten war auf der Türe. Alles hat sie ge-sehen, alles.

FILMBULLETIN Haben Sie Jodie Foster besetzt, bevor sie Taxi Driver machte?

NICOLAS GESSNER Ja, ich habe sie bereits nach Alice Doesn’t Live Here Anymore ausgesucht.

FILMBULLETIN Nach welchen Kriterien wählen Sie Schauspieler aus?

NICOLAS GESSNER Da zitierte ich gerne Truffaut: «La direction d’acteur s’arrête avec le choix des acteurs.» Dass die Schauspielerführung mit der Schauspielerauswahl aufhört, ist zwar etwas übertrieben, aber es ist eine richtige boutade, weil jemand ja für das gewählt wird, was er repräsentiert. Man kann dann nicht sagen, ich hätte dich lieber so statt so. Trotzdem muss er natürlich spuren und in die Story reingehen.

Mein Lehrmeister Oskar Wälterlin am Schau­spielhaus sagte einem Schauspieler nie Nein, nie. Er liess die Schauspieler irgendwie selbst dahinter kommen, was richtig war. Das hat den Vorteil, dass der Schauspieler sein Persönlichstes in die Rolle einbringt. Jodie Foster ent-sprach überhaupt nicht der Figur im Roman, die ganz zart ist und elegant. Jodie Foster war fast so etwas wie ein garçon manqué. Aber weil sie eine geniale Schauspielerin ist,hat sie sich zu eigen gemacht, was im Drehbuch stand, und wertete es auf mit dem, was sie selber reinprojizierte. Es ist eine Bereicherung geworden.

Rod Steiger hatte bei Tennessee Nights nur eine Szene als Richter im Prozess, aber er kam schon eine Woche vorher – das zeigt auch wieder seine Professionalität. Er wollte die Equipe und mich kennen lernen. Am Tag, bevor wir mit ihm drehten, ass ich mit ihm zu Mittag: My dear Nicolas, I feel so depressed, I feel so depressed. Ich klopfe ihm auf die Schulter: Ja, das höre ich gern. Er schaut mich an, wieso? Look Rod, that’s what makes you tick. Er: You think so? Ja? – Du hast mich richtig erkannt, wie kaum jemand. I’m gonna make you a present. Er packt sein Haar und zieht, im Restaurant, vor allen Leuten, sein Toupet weg, und mit seiner rötlichen Glatze sagt er: Nicolas, because you have seen me as I am, I will play the judge naked. Rod Steiger spielte dann effektiv die Rolle ohne Perücke, brachte seine Wahrheit in den Film – auch das ist die Aufgabe des Regisseurs: nicht einfach einen Star zu engagieren, sondern dessen Star-quality wirk-lich auf die Leinwand zu bringen.

Es ist eine Freude mit Stars zu arbeiten. Zugegeben, es gibt auch welche, die sperrig sind, Charles Bronson war ein schwieriger Mitarbeiter. Aber geliefert hat er.

Die Idealbesetzung bei Someone Behind the Door wäre Charles Bronson und Robert Shaw gewesen. Shaw hatte auch einen etwas eckigen Kopf wie Bronson, und in Young Winston, als Vater von Churchill, hatte er sogar einen dünnen Schnauz wie Bronson. Aber im Gegensatz zu Bronson, dessen Stärke die Schwere ist und die Primitivität, war Robert Shaw ein blitzgescheiter und grossartiger Mensch. Doch keiner wollte mit dem anderen zusammenarbeiten. Shaw sagte, Bronson sei so ein Spaghetti-Western, und Bronson meinte, Shaw sei doch ein has been. Die Rolle übernahm dann Anthony Perkins mit seiner einmaligen Mischung von Intelligenz, Sensibilität und Bedrohlichkeit.

Die Struktur der Story von Someone Behind the Door kann als doppeltes Dreieck gesehen werden. Auf der einen Seite ein «reales» Dreieck: Perkins, seine Frau und ihr Liebhaber. Perkins, der Neurochirurg, projiziert nun auf den amnesi­schen Bronson eine Art virtuelles Dreieck. Er sagt Bronson: Deine Frau betrügt dich mit dem Lieb­haber, damit Bronson den Liebhaber umbringt und Perkins von seinem Rivalen befreit. Bronson muss in seiner Rolle misstrauisch sein, was macht Perkins, dieser Frankenstein, da wieder mit mir. Das Grösste aber war, dass wir auf dem Set das gleiche Verhältnis hatten wie in der Story: Bronson war immer misstrauisch, was haben Gessner und Perkins wieder miteinander – wir waren die Schnellen, er der Langsame – was zetteln die wieder an gegen mich. Und so was kann dem Film nur helfen.

FILMBULLETIN Sind Kameramänner wie Claude Lecomte, Pierre Lhomme auch Stars?

NICOLAS GESSNER Der Kameramann ist mein wichtigster Mitarbeiter, das ist klar. Wenn ich mit einem neuen Kameramann arbeite, sage ich: Schau, du kannst tun, was du willst, dunkel oder hell, du machst, was du willst, aber die Augen will ich sehen. Kamera in Augenhöhe also, dabei ist Augenhöhe natürlich nur eine Annäherung – in der Praxis ist das subtiler und wechselt ständig. Aber in meinen Spielfilmen habe ich nur ein Mal, und zwar in einer Traumszene, den Kran benutzt. Ich mache Kino in Augenhöhe, so wie Ihre Zeit­schrift im Untertitel heisst, weil ich die Augen des Schauspielers sehen und auf der Höhe des Zuschauers sein will. Das ist doch ziemlich kennzeichnend, denn in meinen Dokumentar­filmen habe ich Helikopteraufnahmen noch und noch, für Pastorale Schweiz haben wir sechs Wochen lang aus dem Helikopter gedreht, oder etwa im letzten «Tous sur orbite/Spaceship Earth/Raumschiff Erde» gehe ich ja mit Kranauf­nahmen bis in den Weltraum hinaus, von oben und von unten.

FILMBULLETIN Ob man ständig mit dem Helikopter eine Szene eröffnet oder …

NICOLAS GESSNER … eröffnet ja, das ist ja häufig, aber irgendwann il faut se mettre à table.

Ich darf doch meine Aufgabe nicht darin sehen, mich selber zu inszenieren, meine Aufgabe ist es, ein Werk zu inszenieren. Da spielt wohl auch der Einfluss meines Lehrmeisters Leopold Lindtberg mit.

FILMBULLETIN Waren Sie nur im Theater sein Assistent?

NICOLAS GESSNER Lindtberg hatte aufgehört, Filme zu drehen. Es wurde ihm zu dumm, zwei Jahre darauf zu warten, bis man drehen kann. Und beim Theater war er ja wirklich von allen verehrt und begehrt und voll ausgelastet.

Vielleicht war er aber gerade deshalb mein Lehrmeister, weil mir das irgendwie entsprochen hat, dass man sich in den Dienst eines Werks stellt. Auch Edmond de Stutz vom Zürcher Kammerorchester, einer meiner Lieblingsmit­arbeiter, pochte immer darauf, dass man sich nicht selber in Szene setzt und möglichst wenig Mätzchen macht.

Das Resultat dieser Haltung ist natürlich zum Teil auch, dass es keinen Gessner-Stil gibt. Und das findet sich dann auch in den Echos: Für The Little Girl Who Lives Down the Lane hat Jodie Foster den Preis als «Beste Darstellerin» gewonnen, Laird Koenig hat die Auszeichnung für das «Beste Drehbuch» erhalten, der Produzent hat den «Besten Film» gewonnen, aber ich habe nicht «Beste Regie» gewonnen. (lacht) Genau das Gleiche in der Fernsehserie «Le château des oliviers». Da hatten wir Le sept d’or für Brigitte Fossey als «Beste Darstellerin», «Beste Serie» für den Produzenten und «Bester Schnitt». Ich eigne mir die Preise der andern jeweils auch an, denn ich war ja auch dabei.

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(Bild: The Little Girl Who Lives Down the Lane)

FILMBULLETIN Welche Qualitäten schätzen Sie bei einem Kameramann?

NICOLAS GESSNER Vor zwanzig, dreissig Jahren war das Beleuchten ja eine Geheimwissenschaft. Das brauchte Zeit, und keiner durfte dreinreden. Mir ging es immer darum, dass ich einen schnellen Kameramann hatte, der mir meine Zeit nicht stiehlt. Es nützt mir ja nichts, wenn jedes Gegenlicht und Spitzenlicht sitzt, alle Schatten und Schättchen perfekt sind, ich aber pro Tag statt zwölf Einstellungen nur vier drehen kann. Die sind zwar wunderschön, aber im Schneideraum stellt sich dann heraus, dass meine Szene im Eimer ist.

Von Beginn weg sage ich: Hört zu, ihr dürft nicht die Decke zu euch ziehen, niemand. Der Tonmeister kann nicht einfach Cut rufen, wenn ein Flugzeug vorbeifliegt. Nach dem Take soll er mich informieren, da war ein Flugzeug, willst
du es nochmals machen? Das ist mein Entscheid. Das gilt auch für den Kameramann, den Schärfenzieher, den Kamera-Assistenten und den Schwenker. Das erfordert gegenseitiges Vertrauen. Pierre Lhomme ist jemand, der sich gerne ausbreitet, wenn er das Gefühl hat, er hätte ein grosses Budget. Aber wenn er weiss, dass man sparen muss, streckt er sich nach der Decke.

Someone Behind the Door wollten wir in England in natürlichem Dekor drehen. Da die Co-Produktion wegen den englischen Schauspieler- und Filmtechniker-Gewerkschaften nicht zustande kam, mussten wir nach Paris ins Studio ausweichen und haben nur die Aussenaufnahmen in England gemacht. Die Abmachung zwischen dem Chefkameramann Pierre Lhomme und mir lautete: Wir würden im Studio drehen wie im décor naturel. Zum Beispiel würde nie eine Wand entfernt werden. Wir bauten das Dekor ein bisschen zu gross, nahmen aber längere Brennweiten, um die Räume perspektivisch wieder etwas zusammenzudrücken, und alles, was man draussen sieht, haben wir leicht überexponiert. Den ganzen Film drehten wir mit Blende 2,8. Das setzte den Schärfenzieher natürlich irrsinnig unter Druck, denn wenn bei 2,8 etwas nur wenig daneben geht, wird’s sofort unscharf. Natürlich war der sehr froh, dass wir mit Charles Bronson und Anthony Perkins zwei hyperprofessionelle Stars hatten, die immer genau auf ihren Marken waren.

Charles Bronson brachte Henri Garcin sogar bei, wie er auf seine Marke kommt, hat ihm gezeigt: Du schaust auf deine Marke, aber vorher. Wenn du dann rein kommst, musst du nicht mehr schauen, du weisst, dein linker Schuh ist auf der Marke, und dann fällst du genau an den richtigen Ort. Bronson erteilte solche Lektionen nicht aus Nächstenliebe: Er musste Henri Garcin erschiessen und wollte das nicht x-mal machen.

Es gibt Schauspieler, die ein Gespür für das Licht haben, die automatisch das Licht finden. Man sagt ja immer: Die Kamera liebt sie – Professionals, die einfach immer richtig sind und immer die richtige Geste machen. Das ist auch für den Kameramann eine Erleichterung und spart Zeit. Man kann die knappe Zeit für das Wesentliche einsetzen. Wenn der Kameramann und ich uns einig sind, was das Wesentliche ist, kann man ihn laufen lassen, wie man einen Schauspieler laufen lässt.

FILMBULLETIN Gibt es Präferenzen Aussen oder im Studio zu drehen?

NICOLAS GESSNER Am liebsten drehe ich in einem natürlichen Dekor. Das Studio gibt Ihnen ja nur das zurück, was Sie, mit allem Talent des Dekora­teurs, dem Licht des Kameramannes, meinem Input und dem der Schauspieler, reingesteckt haben. Aber im natürlichen Dekor ist auch alles drin, was seit Jahrhunderten oder Jahrzehnten schon da ist. Eine Steckdose am falschen Ort gibt dem Dekor Wahrheit. Wie Charles Spaak sagte: Et les bijoux n’y sont plus! Etwas, das unlogisch ist, kann produktiv werden. Eine Türe, die dort ist, wo sie nicht sein sollte, oder eine Türe, die zu weit weg ist, so dass der Satz, den der Schauspieler zu sprechen hat, nicht genügt, um von der Türe bis zum Tisch zu kom-men, bewirkt, dass sich der Schauspieler etwas einfallen lassen muss. Solche Fehler, Fehler in Anführungszeichen, die Unvollkommenheiten geben dem Dekor Leben, machen es glaubwürdig und real.

Heute ist das Drehen einfacher. Ich glaube auch sehr an das digitale Bild und an weniger Licht. Da kann man in perfekter Qualität schnell arbeiten.

Die Berühmten sind ja schnell, Sven Nykvist, der Kameramann von Ingmar Bergman etwa. Als ich einmal Produktions-Assistent bei einem deutschen Film war, musste man eine Szene neu ausleuchten, man wartete. Was ist denn? Ja, der Fünftausend-Watt-Scheinwerfer ist zuhinterst im Lastwagen. Nykvist: Dann nehmt doch den Zwei­tausender, der hier steht. Das sind die grossen Kameramänner, die mit dem Zweitausender oder noch weniger Licht auch auskommen. Sie sind wie Virtuosen. Es ist eine Freude, mit ihnen zu arbeiten – so wie jeder Dirigent Freude an einer ersten Geige hat, die das Instrument beherrscht und grossartig spielt.

Gernot Roll ist der schnellste und beste Kameramann, den ich kenne. das andere leben, dieser Fernsehfilm, den ich mit Christiane Hörbiger machte, wurde dank Roll drei Tage schneller fertig. Ich hatte wie wild für genügend Drehtage gekämpft, aber Roll war so schnell, dass wir vorher fertig waren. Dass er schnell ist, das ist nur eine technische Sache, wichtiger ist was anderes: Dank der Einfühlungsgabe von Roll und dem zauberhaften Talent von Christiane Hörbiger und weil es zur Story passte, konnte ich praktisch den ganzen Film in plan séquence drehen.

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(Bild: Tennessee Nights)

FILMBULLETIN Mit der Handkamera?

NICOLAS GESSNER Nein, er hatte einen kleinen Mini-Gib, einen Minikran, den Roll von Hand führte, etwas ganz Spezielles, das ich ausser bei ihm noch nie sah. Er hatte damit die Stabilität einer Dolly und gleichzeitig die Sensitivität einer Handkamera. Das wirkte sich in der ganzen Inszenierung aus. Die Story der verlassenen Frau, die Hörbiger (auch eine Lindtberg-Schülerin) spielt, konnte ich mit einer grossen Fluidität und sehr wenigen Schnitten erzählen, so wie es der Geschichte am angemessensten war.

FILMBULLETIN Primär hatten Sie in Frankreich Franzosen, in Italien Italiener hinter der Kamera.

NICOLAS GESSNER Plötzlich finde ich mich als Vagabund – als Ungar mit einem Schweizer Pass, der in Frankreich Englisch dreht – in einem andern Land, wo es dann doch besser ist, wenn der Beleuchter und der Kameramann die gleiche Sprache sprechen und sich kennen.

Meine zusammengewürfelten Equipen brauen keinen unverbindlichen Europudding, sondern sind Realitäten der Co-Produktion, bedingt durch die Stories, die ich wähle. Meine Stories handeln irgendwo immer – nicht von Entwurzelten, aber doch von nicht fest Verwurzelten, Leichtfüssigen, oder Figuren, die durch die Situation in eine gewisse Nicht-Verwurzelung kommen.

Brigitte Fossey in der Fernsehserie «Le châ­teau des oliviers» war von all meinen Figuren die Figur, die am stärksten verwurzelt ist. Die Story dreht sich um den bedrohten Weinberg, die Tradition, das Verwurzeltsein mit le domaine, le terroir, dem Heimatboden. Kein Zufall also, dass ich hier nicht als Co-Autor, sondern nur als Regisseur mitgewirkt habe.

Trotzdem gehört Brigitte Fossey zur Familie meiner bedrohten, aber erfindungsreichen Helden und Anti-Helden: Claude Rich, Möchtegern-Einbrecher in Diamantenbillard; Claudio Brook, Amateur-Spion in The Peking Blonde; Vittorio Gassman, gejagter Erbschaftsjäger in 12+1; Jodie Foster, einsame Kämpferin für Kinderrecht in The Little Girl Who Lives Down the Lane; Rolf Bissegger, Finanz-Jongleur in Herr Herr; Ben Gazzara, verfolgter Zauberer in Quicker Than the Eye; Henri Virlojeu, braver Handwerker, der sich am ungerechten Steueramt rächt im Fernsehfilm Cheque en boite/Diebe unter sich

FILMBULLETIN Für Diamantenbillard haben Sie eine Qualitätsprämie in Bern erhalten.

NICOLAS GESSNER Ich habe sie auch für meine frühen Dokumentarfilme bekommen. Ich hatte häufig Schweizer Co-Produzenten, aber wenn man da in Bern eine Eingabe machte, hat man gesehen, ah, das ist ein Millionenbudget, da wäre der Schweizer Beitrag ja so wenig, dass er nichts nützt. Das Geld geben wir lieber jemandem, der dank diesem Beitrag seinen Film realisieren kann.

Quicker Than the Eye hätte eigentlich Urs Egger machen sollen. Ein paar Jahre zuvor war er mein Assistent beim Fernsehfilm Herr Herr, der die Geschichte des Finanz-Abenteurers Rey und der ausmanövrierten Bally-Aktionäre auf eine Schokoladenfabrik transponiert. Als ich seinen Namen auf dem Drehbuch sah und hinein­gekritzelt seine Besetzungsidee «Ben Gazzara», rief ich ihn an: Warum machst du es nicht? Urs sagte: Ich krieg den Ben Gazzara nie, du schaffst das vielleicht.

La blonde de pekin

(Bild: La Peking Blonde)

FILMBULLETIN Wenn man den Rhythmus Ihrer Produktion betrachtet, werden die Abstände zwischen zwei Spielfilmen doch grösser. Hat dies mit erschwerten Bedingungen zu tun?

NICOLAS GESSNER Vielleicht auch mit den erhöhten Ansprüchen. Dass man eher Nein sagt, von Anfang an Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten genauer sieht – was natürlich gut, aber auch schlecht sein kann.

Was mich persönlich betrifft, verschwimmt die Unterscheidung von Film und Fernsehen immer stärker. Mein letztes Abenteuer «Raumschiff Erde», das zwei Jahre dauerte, konnte nur im Fernsehen verwirklicht werden und war eine unerhörte Chance, weil es noch nie gemacht worden ist. Plötzlich konnte ich wirklich ganz direkt meine Vision von der Welt auf die Lein­wand bringen. Nicht vom Universum, von unserem Sonnensystem, von unserer Erde, ein wirkliches Raumschiff, ein Karussell, das um die Sonne fliegt. Irgendeinen anderen Film hätte Tarantino oder Louis Malle vielleicht besser gemacht als ich; bei «Raumschiff Erde» aber habe ich das Gefühl, dass ich der einzige auf der Welt bin, der das machen konnte.

FILMBULLETIN Was hatten Sie damals für ein Verhältnis zur Nouvelle vague?

NICOLAS GESSNER Ich verdanke viel der Nouvelle vague, weil sie bereits angelaufen war, als ich, der altmodische, etwas kommerzielle, traditionelle Storyteller, Geschichtenerzähler und Filme­macher, meinen ersten Spielfilm machen wollte. Für die Produzenten und Verleiher war ich etwas Anderes, Neues gegenüber der sich allmählich auslaufenden Nouvelle vague, als ich mit einem, ja bien foutu, soliden, durchgearbeiteten, durchziselierten Drehbuch kam.

Die Nouvelle vague hat aber grossartige, neue Dinge gebracht. Bitte, ob man Godard mag oder nicht, wir alle müssten à plat ventre liegen und Godard danken, dass er die Filmsyntax neu erfunden hat. Er hat uns wirklich alle von Zwängen befreit, die im Erzählen der Stories völlig unnötig sind. Der Zwischen-schnitt etwa. Godard fragte: Wenn jemand auf der Strasse läuft, weshalb brauche ich einen Zwischenschnitt, bevor er im 24. Stock steht. Im Roman ist dies auch nicht der Fall. Er hat es gemacht und alle staunten. Belmondo auf der Strasse, und Cut, er ist im Zimmer. Heute macht das jeder, nicht nur Tarantino, auch Sidney Pollack und alle Traditionalisten. Wir alle benutzen Godards Filmsprache. Ich bin mit meinen Filmen völlig antipod zu ihm, aber ich bin immer wieder dankbar für das, was er uns in den sechziger Jahren geschenkt hat.

Was die Nouvelle vague aber vernachlässigte, weil sie sich nicht dafür interessierte, war die dramatische Struktur. Das Konzept von Howard Hawks, Character triggers action und Action reveals character. Howard Hawks wurde von der Nouvelle vague nicht mit einem grossen H geschrieben. Um die berühmten fünf faulknerschen Forderungen – a likeable hero/up against overwhelming odds/in a life and death situation and with a time-lock/fighting for a cause beyond his own interest – haben sie sich nie gekümmert. Sie haben alle Hitchcock verehrt, aber das Wesent-liche bei Hitchcock, nämlich, dass der Zuschauer mehr weiss als der Held, ihm voraus sein muss, hat Chabrol eigentlich nie angewendet, Truffaut und Godard auch nicht.

Ich bin ein sehr drehbuchgläubiger Regisseur. Ich brauche «dramaturgische Effizienz». Mich interessieren Geschichten von «Helden» (oder Anti-Helden), denen eine Unge-rechtigkeit widerfährt, die in eine Falle geraten, die gegen mächtige Gegenspieler kämpfen müssen, dies alles in grösster Dringlichkeit und mit einer Zielsetzung, die wichtiger ist als bloss ihr eigenes Interesse.

Um den Zuschauer zu berühren, zu bewegen, muss ich ihn stets fühlen lassen, was er befürchten oder erhoffen muss. Dem Zuschauer muss klar sein, worum es geht.

Besonders genüsslich und wirksam ist es, wenn der Zuschauer dem Helden voraus ist, wenn er mehr weiss als der Held.

Ich misstraue den erzählerischen Strukturen, wo die Ereignisse der Reihe nach erzählt werden: Biographien, Familiengeschichten, die meisten Stories in Ich-Form (wie soll der Zuschauer dem Helden voraus sein, wenn der Held der Erzähler ist?), auch Geschichten von Ermittlungen (ausser wenn der Ermittler zum Opfer wird). Oft werden Romane als «bildhaft» und «optisch» gepriesen; das genügt zwar dem Leser, der in unterhaltender Weise die Worte des Autors in Bilder umwandelt. Der Zuschauer jedoch, dem wir bereits fixfertige Bilder liefern, der verlangt mehr von uns.

Ich bevorzuge Geschichten mit dramatischer Struktur, in denen die Ereignisse durch den Zusammenprall der Personen, ihrer entgegen­gesetzten Charaktere und Motivationen voran­getrieben werden, wo die Charaktere die Aktion auslösen und die Aktionen die Charaktere enthüllen.

Truffaut benötigte keine solche «Krücken», Buñuel auch nicht, Woody Allen vergisst sie manchmal. Die Mozarte brauchen sie nicht, die Salieris hingegen sollten sie kennen und benutzen. Wenn Howard Hawks, Chaplin, Lubitsch, Hitchcock, Sidney Pollack, Tarantino sie verwenden, warum sollen wir darauf verzichten?

It rained all night

(Bild: It Rained All Night the Day I Left)

FILMBULLETIN Was ist ein guter Regisseur?

NICOLAS GESSNER Die Schwierigkeit liegt darin, dass wir Widersprüchliches liefern müssen: extrem Erstaunliches, Originelles, und gleich­zeitig Glaubhaftes, Humanes, Nachvollziehbares. Dazu muss man Talente haben, die sich völlig widersprechen. Man muss eine Bulldozer-Mentalität haben, damit ein Film zustande kommt und bis man ihn durchgeboxt hat. Damit dieser Film aber lebendig und glaubwürdig wird, muss man wiederum auch über die feinste Sensibilität verfügen. Die Bulldozer-Mentalität und die Sensibilität müssen gleichzeitig vorhanden sein. David Lean sagte, man sei als Regisseur gleichzeitig Psychiater und Ingenieur.

Das Wichtigste der Regie ist nicht zu sagen: Die Kamera kommt hierher, Brennweite 50, und du, der Schauspieler, du kratzt dich am linken Ohr, sondern eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Kamera wie traumwandlerisch an den richtigen Ort kommt, mit der richtigen Brenn­weite, und der Schauspieler von sich aus am richtigen Ohr kratzt.

Ein guter Regisseur verbreitet auf seinem Set eine Atmosphäre, in der alle von sich aus das Beste und Richtige machen.

Das Gespräch mit Nicolas Gessner führte Walt R. Vian

(Titelbild: Nicolas Gessner bei den Dreharbeiten zu Un milliard dans un billard; letztes Bild: Das andere Leben)

Das andere leben

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2001 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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