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HAWAR 2

«Es ging darum, Intimität zu portraitieren»

Acht Jahre lang haben die Filmemacher:innen an ihrem Dokumentarfilm Hawar, Our Banished Children gearbeitet. Uns erzählen Sie über den schwierigen Schaffungsprozess.

Text: Anja Jeitner / 22. Mai 2023

Man muss «Hawar» mit «Hilfe» ins Deutsche übersetzen, dabei meint es das kurdische Wort präziser: «Hawar» ist das Erflehen von Beistand in schlimmster Not. In genau dieser Art von Not befinden sich die Frauen, für die Pascale Bourgaux und Mohammad Shaikhow acht Jahre lang an ihrem Dokumentarfilm Hawar, Our Banished Children gearbeitet haben. Es geht um jene Jesidinnen, die 2014 von dschihadistischen Kämpfern entführt, versklavt, vergewaltigt wurden, in der Gefangenschaft schliesslich Kinder auf die Welt brachten. Knapp die Hälfte dieser Frauen konnte seitdem befreit werden. Doch sowohl die Mütter als auch Kinder sind bei der Rückkehr zu ihren Familien gebrandmarkt: Nach jesidischer Tradition dürfen sich die Menschen nicht mit anderen Ethnien vereinen. Für die rund 3500 jungen Frauen bedeutet das fast ausschliesslich, dass sie ihre Kinder zurücklassen und ihre Mutterschaft leugnen müssen. Obwohl in Kurdistan jede:r von diesen Kindern weiss, wird über ihre Existenz geschwiegen. Als erste der überlebenden Mütter bricht «Ana», die Protagonistin des Films, die Omertà der sogenannten «Bastarde des IS».

Nach der internationalen Premiere am Dokumentarfilmfestival Vision du Réel sprachen die belgische Regisseurin Pascale Bourgaux und der kurdische Filmemacher Mohammad Shaikhow über ihre lange Suche nach Stimmen in einer Gemeinschaft, die in kollektivem Trauma verstummt ist.

Pascale Bourgaux, als Reporterin für das französischsprachige Fernsehen haben Sie in den letzten 20 Jahren so gut wie jeden Konflikt im Nahen Osten gecovert. Das Ausmass der Gräueltaten der Dschihadisten an den Jesid:innen zeichnete sich erst mit der Zeit ab – insbesondere die Folgen für die entführten Frauen. Wie kamen Sie damals mit diesen Geschehnissen in Berührung?

PB Ich war 2014 in Kurdistan, um eine kurze Reportage über die erste Frau zu machen, der es gelungen war, aus der Gefangenschaft der Dschihadisten zu fliehen. Und da habe ich von den Vergewaltigungen, dem Menschenhandel, der Versklavung erfahren. Ich musste nicht Medizin studieren, um zu begreifen: Aus dem unbeschreiblichen Unheil, das diesen Frauen widerfährt, werden Schwangerschaften, werden Kinder folgen. Das war der Beginn meiner Recherche, die insgesamt fünf Jahre dauern sollte. Am Anfang bin ich in die Flüchtlingslager für Jesid:innen gegangen und habe ganz naiv gefragt: «Habt ihr denn keine schwangeren Frauen hier, die gerade vom IS zurückgekehrt sind?» Und die Leute dort sagten nur: «Nein, warum stellst du diese Frage?» Es war bizarr, von all den Kindern zu wissen, die um mich herum geboren werden mussten. Und natürlich etwas älter wurden, jedes Mal, wenn ich nach Kurdistan kam. Später fuhren wir zu Waisenhäusern, von denen wir über NGOs erfahren hatten, dass sie jesidisch-dschihadistische Kinder aufnehmen. Aber auch dort wurden wir zurückgewiesen; das seien Kinder von «normalen» sexuellen Missbräuchen … Es ist wirklich verrückt, von Aussen zu beobachten, wie eine Gemeinschaft so kollektiv ins Schweigen fällt. Mein Produzent in Paris meinte nur: «Wow, Pascale, du möchtest einen Film über unsichtbare Babies machen mit Müttern, die schweigen? Hast du nicht vielleicht ein anderes Projekt?»

Wie haben Sie unter diesen Umständen die Protagonistin für Ihren Film gefunden?

MS Das war sehr, sehr schwierig. Gerade die Opfer der Dschihadisten haben grosse Angst davor, zu sprechen. Viele der betroffenen Jesidinnen, die ihre Kinder bei ihrer Rückkehr nicht zurücklassen wollten, wurden von ihren Familien verstossen und kehrten teilweise zu ihren IS-«Ehemännern/Vergewaltigern» zurück. Es gibt einige NGOs in Kurdistan, die versuchen, den Kontakt zwischen den betroffenen Müttern und ihren Kindern wieder herzustellen, sie im Idealfall wieder miteinander zu vereinen. Über eine dieser NGOs bekamen wir irgendwann die Möglichkeit, eine Gruppe junger jesidischer Frauen zu treffen. Die einzige Bedingung war, sie nicht zu filmen. Hier hörten wir zum ersten Mal eine jesidische Frau offen über ihre Mutterschaft in dschihadistischer Gefangenschaft sprechen. Diese Frau war Ana. Von der ersten Minute haben wir gemerkt, wie stark sie ist, wie viel Mut und Entschlossenheit sie hat. Doch als wir anfingen, mit ihr über den Film zu reden, zog sie zurück. Es dauerte ein Jahr, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Um ihr zu zeigen, dass wir nicht irgendwelche Reporter:innen sind, die eine News-Story drehen, um diese in Europa zu verkaufen. Am Ende willigte sie ein.

War denn der Film von Anfang an fürs Kino gedacht?

PB Ich wusste ziemlich früh, dass ich keine 20-minütige Fernseh-Doku machen wollte, es sollte nicht irgendwie newsyoder investigativ werden. Mir ging es darum, die Intimität zwischen diesen Müttern und ihren Kindern zu portraitieren. Mithilfe einer Figur und einer narrativen Struktur. Mohammad brachte hierfür die Sprache des Kinos mit in die Filmerzählung ein.

Wie erfüllt man den Anspruch dieses Genres mit diesen doch schwierigen Umständen?

MS Das war die zweite grosse Herausforderung. Wie macht man einen Portraitfilm fürs Kino mit einer Figur, deren Gesicht und Stimme wir nicht zeigen können? Wie kann man eine emotionale Verbindung zu ihr aufbauen, wenn man ihre Augen nie sieht? Dazu kam, dass wir nicht überall mit Ana filmen konnten, sonst hätte ihre Community Verdacht geschöpft. Wir begannen 2020 mit den Dreharbeiten und mussten bei der Sichtung des Materials immer wieder feststellen, wie schwierig es ist, ein Narrativ zu finden. Dabei hatte Anas Sicherheit immer Priorität. Wir mussten sehr viele Idee aus diesem Grund wieder verwerfen. Erst mit der Zeit zeichnete es sich ab, was überhaupt möglich sein würde. Aber dann hatten wir irgendwann das Konzept: Der Film sollte diese Reise zu ihrer Tochter Marya sein, die mittlerweile bei den Eltern ihres Vaters lebt. Als diese Idee dann stand, haben wir alle Mittel aufgewandt, um einen möglichst poetischen Film zu machen und alle Mittel des Filmemachens zu nutzen, damit er auch funktioniert. Im Grunde hat dieser Film hat uns gezwungen, unseren eigenen Weg zu finden, diese Geschichte zu erzählen.

Anas Eltern wissen bis heute nichts von dem Kontakt, den Ana mit ihrer Tochter hält. Wie war es möglich, sie auf diese Reise zu nehmen?

PB Man muss wissen, unverheiratete jesidische Frauen stehen unter ständiger Obhut ihrer Eltern. Die meisten Jesidinnen verlassen ihr Heimatdorf nie. Viele der Frauen waren bei ihrer Entführung 2014 das erste Mal so weit weg von zu Hause. Damit Ana für die Dauer unserer Reise aus dem Haus verschwinden durfte, musste sie eine Ausrede erfinden, um die Mission zu decken. Zum Schutz von Anas Sicherheit darf ich an dieser Stelle leider keine weiteren Details verraten; nur dass die Eltern am Ende einwilligten. Wir hatten Glück, dass es keine konservative Familie ist, sonst wäre es nicht möglich gewesen.

Durch die Dreharbeiten für diesen Film hatte Ana die einmalige Möglichkeit, ihre Tochter nach vier Jahren wieder zu treffen. Hunderte junger Mütter in Kurdistan wissen nicht, wann und ob sie ihre Kinder wiedersehen werden. Welche Reaktionen erhoffen Sie sich auf diesen Film, der eine so fragile Community thematisiert, dessen Macher:innen aber nicht aus dieser Community stammen?

PB Unsere Hoffnung ist natürlich, dass dieser Film eine interne Debatte zwischen den gemässigteren und konservativen Familie auslösen wird. Dass er vielleicht andere Frauen dazu veranlasst, das Thema aufgreifen, darüber zu sprechen und ihre Stimmen hörbar zu machen. Es ist allerdings nicht sicher, dass sich überhaupt etwas ändern wird. Damit wir den Film im Nahen Osten zeigen können, müssen wir erst sicher sein, dass er dort angenommen und von den NGOs unterstützt wird. Es wäre schon ein grosser Erfolg, wenn die Frauen ihre Kinder behalten dürften und mit ihnen ins Ausland gehen könnten. Und das führt zum Hauptanliegen, weswegen wir diesen Film gemacht haben: Um die Debatte nach aussen zu tragen, hier im Westen darauf aufmerksam zu machen und politischen Druck auszuüben. In jedem Fall sollten die internationalen Regierungen eine Art Visum für die Frauen schaffen, die ins Ausland gehen wollen. So wie das bereits Schweden oder Australien getan haben.

MS An dieser Stelle möchte etwas sehr Wichtiges sagen: Wir haben nie daran gedacht, einen Film zu machen, der sich gegen die Jesid:innen richtet. Unser Ziel ist es nicht, etwas zu machen, das die jesidische Community schlecht darstellt oder ihnen schaden soll. Unser Ziel ist es, etwas zu bewegen. Am besten innerhalb der Gemeinschaft. Das versuchen wir, weil wir wissen, dass es eine Reaktion braucht. Und zwar gegen den Kreislauf der Gewalt, die sich sonst immer wieder selbst reproduziert.

Pascale Bourgaux

Pascale Bourgaux

Mohammad Shaikhow

Mohammad Shaikhow

Der Beitrag entstand im Rahmen einer Exkursion des MA Kulturpublizistik der ZHdK ans Filmfestival Visions du Réel in Nyon.

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