In seinem neusten Dokumentarfilm lotet Urs Graf Grenzen aus: die körperlichen Grenzen seiner Protagonisten, seine eigenen, aber auch die des Dokumentarfilms, wenn es darum geht, die Wirklichkeit filmisch zu erfassen. Das macht diesen eher nüchternen Film so reich. Er beginnt gleich mit einer Absage: Sobald sie wieder einen guten Tag habe, werde sie sich melden, um mit den Aufnahmen anzufangen, schreibt die Malerin Cristina Fessler. Sie ist die grosse Abwesende in diesem berührenden Kollektivkünstlerporträt. Ihre schwere Krankheit wird es nicht zulassen, dass sie vor ihrem Tod nochmals vor die Kamera tritt. Eine kurze Aufnahme zu Beginn zeigt sie beim Malen, sie hat eine neue Methode gefunden, um trotz fortschreitender Lähmungen weiterhin arbeiten zu können. Der Wunsch und Drang, kreativ zu sein, verlässt auch die anderen Protagonisten nicht, obwohl die Kräfte teilweise fast ganz nachlassen und die Abhängigkeit von anderen gross wird. Sie alle hoffen auf gute Tage. Die anderen, das sind die Plastiker und Maler Boris Mlosch, Renate Flury, Daniel Pestel und Schang Hutter.
In der ersten Einstellung folgt die Kamera einem Kiesweg entlang einer Autobahn, es ist die langsame Spur, auf der man in einem Höllentempo überholt wird. Der Tag ist trüb, der Nebel hüllt die Landschaft in ein beinahe undurchdringliches Weiss. Grafs Kamera bannt diese Unwirtlichkeit jedoch in poetische Bilder, in denen die Reduktion aufs Wesentliche visuell besticht. Nur noch das Nahe ist erkennbar. In den Bildern wirkt diese Schlichtheit absichtsvoll und schafft einen fast zu schönen Echoraum für das Schicksal jener porträtierten Künstlerinnen und Künstler, für die die Reduktion unfreiwillig und schmerzlich ist.
Langsamkeit und Einschränkung bestimmen das Leben der fünf Protagonisten. Um wie früher eine kraftvolle Wölbung bei einer Plastik hinzukriegen, braucht es Körperspannung, sagt Boris Mlosch. Er leidet jedoch an Lungenhochdruck, der dazu führt, dass er sich schon nach ein paar Pinselstrichen völlig ausser Atem hinlegen muss, nicht wissend, was er an diesem Tag überhaupt noch leisten können wird. «So dauert das fünfhundert Jahre!», sagt er in seiner ironischen Art. Den sichtbarsten Schwund an Vitalität hat dabei das Werk von Daniel Pestel erfahren. Die monumentalen, tonnenschweren Ebenholzplastiken sind filigransten, zerbrechlichen Miniaturen aus trockenem Laub gewichen, die Pestel mit viel Geduld einhändig zusammensetzt. Die halbseitige Lähmung nach einer Hirnblutung lässt ihn oft verzweifeln, denn die Leidenschaft und Kreativität haben im Gegensatz zum Körper nicht an Kraft eingebüsst. Immer wieder schafft es Graf, diesen Kontrast schmerzlich einzufangen. Während dreier Jahre besuchte er seine Protagonisten, hielt schriftlichen Kontakt zu ihnen und registrierte so das Auf und Ab, die guten und die schlechten Tage. Und auch den Tod.
In der Wahl der Materialien und Methoden spiegelt sich auch in Renate Flurys Werk die zunehmende Einschränkung durch Multiple Sklerose wider. Wenn sie arbeitet, spürt sie, dass es sie gibt. Obwohl sie vor der Kamera wenig von ihrem inneren Kampf lebt und ausgeglichen wirkt, erzählt sie von Angst und Wut. Und Mlosch schreibt aus dem Krankenhaus, dass er vor allem nachts die Hölle erlebe, eigentlich müsse Graf dann vorbeikommen. In den Bildern manifestieren sich diese Abgründe nur ansatzweise. Es sind Grenzen, an die sich Graf mit seiner Kamera nicht heranwagt und respektvoll seinen Protagonisten begegnet. Dabei ist sein Film im besten Sinn empathisch und persönlich, denn er stösst beim Arbeiten selbst an körperliche Grenzen. Sie schlagen sich im Film nieder, als er sich den Daumen bricht und nicht mehr filmen, sondern nur noch fotografieren kann. Damit ist auch sein Schaffen materiell reduziert – wie das seiner Protagonisten.
Schang Hutter, der spät im Film eingeführt wird, leidet unter einer Rückenverletzung und sich wiederholenden Streifungen. Er zeigt am wenigsten von seinem Hadern. Mit einem bewundernswerten Optimismus arbeitet er weiter, halt viel langsamer. «Ich hinke gerne herum.» So fügen sich die Schicksale, die unterschiedlichen Haltungen den Schmerzen und Rückschlägen gegenüber und die guten und schlechten Tage zu einem natürlichen Zyklus. Graf spiegelt ihn in Naturaufnahmen und sich abwechselnden Jahreszeiten und vermittelt so den Mut und die grosse Lebenskraft dieser Künstler. Trotz grösster Schmerzen sagt Mlosch: «Das Leben ist immer noch reizvoll.»