Die Allgegenwart des Telefons auch im Kino – bemerkenswerte Ausnahme in jüngster Zeit: Simon Jaquemets Der Unschuldige, in dem nicht einmal ein Mobiltelefon vorkommt – lässt leicht übersehen, dass es noch nicht reicht, es einfach mal klingeln zu lassen. Ob verräterisch, ob erlösend – zum dramaturgischen Faktor, zum wirklichen Mitspieler braucht es mehr als ein blosses Signal. Wir erinnern uns an den dichten, atmosphärischen [art:77], in dem Steven Knight einen Bauleiter auf der nächtlichen Autofahrt von Birmingham nach London sich um Job und Ehefrau reden lässt. Hingegen spielt das Telefon etwa in Hitchcocks in diesem Zusammenhang oft genanntem Dial M for Murder eine eher untergeordnete Rolle. Bezeichnend ist aber die Einbettung in eine Krimihandlung. In Joel Schumachers Phone Booth hängt Colin Farrells angeberischer Yuppie während der gesamten Filmdauer in einer öffentlichen Telefonzelle am Draht, von einem moralisierenden Heckenschützen mit dem Tod bedroht, sollte er nicht per Telefon alle seine Verfehlungen bekennen. Und in Brad Andersons The Call steht Halle Berry als Polizistin einem entführten Mädchen im Kofferraum eines Autos über dessen Mobiltelefon bei – gepeinigt von der Erinnerung an einen ähnlichen, früheren Fall, in dem sie den Tod des Entführungsopfers verschuldete.
Während The Call zu einer dieser öden Haunted-House-Geschichten voller Leichen im Keller verkommt, gerät die dänische Produktion The Guilty (Den skyldige) bei vergleichbarer Ausgangslage geradezu zum Paradestück psychologischer Verdichtung. Das zeigt sich von der ersten (schwarzen) Einstellung an durch eine hochkonzentrierte Verbindung von Kamera, Schnitt und insbesondere Tonarbeit, die noch im Off weitere Handlungsebenen herauspräpariert. Schauplatz ist zunächst der eine Raum, in dem Kopenhagener Polizisten Telefonbereitschaftsdienst leisten; zwischendurch wird sich Asger Holm, in Erwartung eines Gerichtstermins in den Innendienst strafversetzt, in den Nebenraum zurückziehen. Zur Einheit des Ortes und der Handlung wird diejenige der Zeit gekommen sein, wenn er nach knapp anderthalb Stunden die Räumlichkeiten verlässt. Indem die Kamera bevorzugt in Gross-, ja Naheinstellungen von Gesicht und Kopfhörer des Polizisten verharrt, fordert sie dem Schauspieler ein Höchstmass an Mikrovariation, an subtiler Differenzierung von Ausdruck und Stimmlage ab. Jakob Cedergren, in Schweden geboren, in Dänemark aufgewachsen, hierzulande am ehesten bekannt als Kommissar Andreasson in der banalen schwedischen Fernsehserie Mord im Mittsommer (Morden i Sandhamn), demonstriert hier souveräne Beherrschung der Mittel. Fabelhaft ist aber auch, was die rund zwei Dutzend Sprechrollen leisten, die nur übers Telefon kommunizieren: Hörspielkunst in Vollendung.
Der Nachtdienst beginnt entspannt mit allerlei Pechvögeln, bis eine Frauenstimme bei Asger sofort sämtliche Alarmsysteme aktiviert. Bald scheint ihm – und mit ihm uns! – die Sachlage klar: Iben, die vorgibt, mit ihrer kleinen Tochter zu sprechen, sitzt gegen ihren Willen im Auto neben ihrem von der Familie getrennt lebenden Mann, einem, wie die polizeiliche Abklärung schnell ergeben haben wird, zudem bereits einmal zu Gefängnis verurteilten Gewalttäter. Höchlichst alarmiert ist Asger, als Mathilde, ein rührend tapferes kleines Mädchen, das mit dem kleinen Bruder zu Hause geblieben ist, schluchzend erzählt, dass der Vater auch «das Messer» mitgenommen habe; entsetzt erfährt er von dem zu den Kindern geschickten Kollegen, dass das Baby «zerstückelt» wurde. Gekonnt hat Asger die polizeiliche Routine in Gang gesetzt, im Gespräch mit der Entführten ebenso wie bei der Kommunikation mit andern Dienststellen. Hier allerdings muss er sich wiederholt sagen lassen, dass er gefälligst «seinen» Job zu erledigen und den andern nicht dreinzureden habe. Seine kontrollierte Fassade bekommt Risse, mehrfach rastet er aus. Dann seine – und unsere! – Bestürzung, als er erkennt, dass seine Interpretation der Situation ebenso wie seine Handlungsanweisungen falsch waren. In langen, stummen Momenten geht er in sich. Seinem unbeholfenen Partner wird er nun nahelegen, morgen vor Gericht die Wahrheit zu sagen und ihn nicht länger zu decken. Und so lassen die Autoren den Kriminalfall, der tief in soziale Misere und psychische Drangsal lotet, unaufdringlich zur Reflexion über Schuld und Sühne werden. Das geht weit über blossen Nordic Noir hinaus.