Die Wohnung, in der die Mittzwanzigerinnen Frances und Erica leben, ist dafür, dass der Film im sauteuren New York spielt, unrealistisch grossartig: weitläufig, hochdeckig, licht und doch perfekt von der Grossstadthektik abgeschirmt, ein Refugium. Während sich das vor Lebenslust übersprudelnde Partygirl Erica hier von ihren Eskapaden regeneriert, neigt die introvertierte Frances, insbesondere seit dem Tod ihrer Mutter, zur Einigelung.
Damit sie überhaupt einmal ausserhalb ihrer Arbeit als Kellnerin in einem Edelrestaurant das Haus verlässt, nimmt Erica sie ins Kino mit. Es läuft irgendetwas Lautes, Hektisches, Stereoskopisches, Explosionen und Motorgeräusche sind zu hören, knallbuntes Spektakel spiegelt sich in Frances’ 3D-Brille, während die junge Frau ihren Kopf an die Schulter ihrer Sitznachbarin lehnt und sich komplett, vorbehaltlos dem Affekt hingibt. Das ist die vielleicht schönste Einstellung des Films und gleichzeitig ein Psychogramm: Das Kino ermöglicht es Frances, für einen Moment ihrem Selbst zu entkommen, mit einer anderen Geschichte, einer anderen Welt zu verschmelzen. Wenn sie wenig später im echten Leben dasselbe versucht, geht die Sache gründlich schief.
Es beginnt mit einer besitzerlosen Handtasche, die Frances in der U-Bahn entdeckt, fein säuberlich, schon das sollte ihr eigentlich zu denken geben, in der Mitte eines Sitzes platziert. Eher aus Neugier denn aus Menschenfreundlichkeit macht sie deren Besitzerin ausfindig, die sich überschwänglich bei ihr bedankt und sie zum Kaffee einlädt. Frances macht sich auf nach Brooklyn, in Gretas Reich.
Will man dieses betreten, so muss man zunächst einen archaisch anmutenden Torbogen sowie einen verschatteten Innenhof durchqueren. Dann steht man vor einem düsteren Backsteingebäude, das mit seinen sichtundurchlässigen Fenstern und seiner leicht baufälligen Anmutung fast unbewohnt ausschaut. Oder eben wie die urbane Version eines Hexenhäuschens. Als Frances nach einigem Zögern dennoch an die Tür klopft, öffnet eine kleine, schlanke Frau fortgeschrittenen Alters und bittet sie mit überschwänglichen, französisch eingefärbten Begrüssungsworten herein. Gretas Domizil ist von innen genauso aus der Zeit gefallen wie von aussen: eine enge, mit allerlei Krimskrams vollgestellte Stube, durchaus gemütlich, aber auf eine bedrückende Art. Auch ein Refugium, das aber gleichzeitig etwas von einer ewigen Ruhestätte hat.
Spätestens wenn Frances bei einem ihrer Folgebesuche – auch Ericas spöttische Bemerkungen können sie zunächst nicht davon abhalten, Zeit mit ihrer eigenwilligen neuen Bekanntschaft zu verbringen – in einem von Gretas Schränken eine Reihe von Handtaschen entdeckt, die der von ihr «gefundenen» aufs Haar gleichen, kann man sich im Grossen und Ganzen denken, wie es weitergeht: Greta ist keine harmlose Exzentrikerin, sondern eine ausgewachsene Psychopathin oder eben tatsächlich eine Art Hexe, die, um ihre Opfer in ihr Häuschen zu locken, nicht auf Süssigkeitenhunger spekuliert, sondern auf die Einsamkeit und Neugier der Grossstadtbewohnerinnen (sie jagt nur junge Frauen; Männer spielen im Film auch sonst keine grosse Rolle).
Der Ire Neil Jordan gehörte einst, dank High-Profile-Filmen wie The Crying Game (1992) oder Interview with the Vampire (1994), zu den meistdiskutierten europäischen Regisseuren. Inzwischen hat er sich auf an der Oberfläche glattere Genrestoffe spezialisiert, durch die nur noch gelegentlich der abgründige, dunkelromatische Tonfall der früheren Arbeiten durchscheint; in seinem Neusten durchaus wieder etwas deutlicher, nicht nur aufgrund der Märchenmotivik (die insbesondere an Jordans Durchbruchsfilm The Company of Wolves, 1984, anschliesst), sondern ausserdem in einer sanft derangierten Psychodynamik: Frances, von Chloë Grace Moretz mit mädchenhafter, etwas schläfriger Grazie verkörpert, erscheint zumindest zu Anfang als das nur allzu willige Opfer einer Manipulation, die via einer Mutterfiktion auf ihre eigene Entmündigung abzielt.
Dennoch ist auch Greta in erster Linie gut gemachtes, an Hitchcock und Polanski geschultes Spannungskino, das alle Ansätze von Introspektion alsbald zugunsten eines teils spielerisch ausgestalteten (siehe etwa eine dramaturgisch geschickt verdoppelte Traumszene), aber im Kern klar artikulierten Handlungsmodells aufgibt: Frances mag mit zumindest teilweise offenen Augen in die Falle geraten sein – sobald sich die Fronten geklärt haben, setzt sie alles daran, sich wieder aus ihr zu befreien. Und Greta, deren Identität sich schnell als ein Lügengewebe erweist (insbesondere, was den mütterlichen Aspekt angeht), ist vor allem anderen ein erstklassiges Filmmonster. Isabelle Huppert hat sichtlich Spass an einer Rolle, die in erster Linie auf Effekt angelegt ist und die es ihr erlaubt, für einmal eher exaltiert denn nuanciert zu spielen. Kurz vor Schluss gönnt sie sich, ganz ohne erzählerische Rechtfertigung, einen kleinen, verrückten Freudentanz.