Auf der Vulkaninsel Fogo, die zu Cabo Verde gehört, bricht der Abend herein. Nana und ihre Verwandten sitzen im Innenhof. Die Luft ist erfüllt von Gelächter und einander ins Wort fallenden Stimmen. Es werden Teller rumgereicht, Bemerkungen über den Appetit einzelner Anwesender fallen, und der Onkel erzählt enthusiastisch von seinen Plänen, eine eigene Bäckerei zu eröffnen. Abseits vom Esstisch sitzt die sechsjährige Nana mit Walkman und Kopfhörern auf den Ohren und beobachtet stillschweigend das Treiben.
Diese Szene stammt aus dem Film Hanami von Regisseurin Denise Fernandes. Er soll nächstes Jahr im Kino erscheinen. Selin Dettwiler kennt die Szene in- und auswendig. Sie hat sie schon x-fach gesehen und wird sie auch heute wieder rauf- und runterspielen. Denn: Dettwiler ist die Editorin dieses Filmes.
Treffpunkt ist der Schnittraum in Bern. Regisseurin Denise Fernandes wird im Verlauf des Mittags dazustossen. Es ist ein bescheidener Raum mit Tisch, Sofa und dem Equipment zum Schneiden: zwei Computer-, ein Fernsehbildschirm und ein Videomonitor.
«Und dann, irgendwann passiert von allein ein Zauber, und der Film beginnt sich zu verselbstständigen.»
Dettwiler, 1990 geboren, ist jung und erfolgreich. 2023 gewann sie am Festival für Filmschnitt und Montagekunst in Köln den Preis «The Edit Space Förderpreis Schnitt» für ihre Arbeit an Ours von Morgane Frund. Der Kurzfilm handelt von der Macht des männlichen Blicks und seiner voyeuristischen Gewalt. Dettwiler war im Schnitt nicht zimperlich, aber vorsichtig. Vor allem aber war sie nicht wertend. Dies fiel auch der Jury auf: «Der Schnitt zeigt manches und entscheidet sich bewusst, anderes nicht zu zeigen. Er nutzt die Irritation produktiv, um ‹the Gaze›, das Anschauen, die Vereinnahmung, das Zum-Objekt-Machen, in einen offenen Dialog zu überführen.» Der Schweizer Kurzfilm schaffte es auf die Shortlist für die Oscars 2024.
Eine unsichtbare Kunst
Dettwiler muss sich um Aufträge nie bewerben. Die Projekte werden über Mundpropaganda oder durch das Netzwerk aus ihrer Studienzeit an sie herangetragen. Für dieses Jahr ist sie mit Projekten bereits eingedeckt, diesen August erscheint etwa der von ihr editierte Schweizer Dokumentarfilm Brunaupark. Zu ihrem Repertoire zählen: Trailer, Musikvideos, Kurz-, Dokumentar- und nun ihr erster langer Spielfilm. Für die Editorin beginnt ihre Arbeit, wenn alle Szenen abgedreht und das Set abgebaut wurden.
Auf der Vulkaninsel Fogo bricht wieder der Abend herein. Dieses Mal bekommt Nana keinen Teller überreicht. Sie hält ihn bereits in den Händen, als die Kamera auf sie schwenkt. Im Schnelldurchlauf spielt Dettwiler die Sequenz nochmals ab. Denise Fernandes gibt mit einem Kopfnicken ihr OK.
Zweifel, Ängste, Druck
Hat Dettwiler das zugeschickte Drehbuch gelesen, sucht sie zunächst das Gespräch mit der Regie. «Mir geht es in erster Linie um die Person hinter dem Werk. Darum, wie sie funktioniert, wofür sie brennt und welche Haltung sie vertritt.» Regie und Schnitt arbeiten eng zusammen. Im Verlauf eines Films werden Zweifel, Ängste, Druck und Unsicherheiten gemeinsam ausgehalten. Da sei es von Vorteil, wenn die Chemie stimmt.
Kommt es zum Auftrag, geht es gemeinsam ans Sichten des Filmmaterials. Die Herausforderung für die Editorin besteht darin, aus Unmengen Material einen Film zu konstruieren. Bei Hanami waren es gerade einmal 35 Stunden. Dettwiler hatte aber auch schon einen Dokumentarfilm mit 120 Stunden Material vor sich.
Zuerst geht es darum, eine erste Auswahl zu treffen und unbrauchbare Takes auszusortieren. Bewertet werden unter anderem das Schauspiel, die Dialoge und das Bild. Dettwiler hat derweil die einzelnen Filmszenen, die nach Drehbuch aufgelistet sind, auf einem Monitor geöffnet. Was auffällt, sind die Kolorierungen. «Grün markierte Clips», schlüsselt sie auf, «stehen für die Lieblingstakes vom Set. Rot kann wegen Textpatzern oder anderweitiger Fehler nicht verwendet werden, und die blauen sind meine Lieblingsaufnahmen.» Im Idealfall ist die Schnittmenge aus blauen und grünen Takes möglichst gross.
Zum dritten Mal bricht über der Vulkaninsel Fogo der Abend herein. Nana und ihre Verwandten essen im Innenhof zu Abend. Teller werden rumgereicht. Der Onkel erzählt von seinem Traum einer eigenen Bäckerei. Und Cut.
Die Dialoge am Esstisch sind der Editorin zu ausschweifend. Gegen den Willen der Regisseurin will sie sie kürzen. Dettwiler hat ein Gespür für das, was der Regie wichtig ist, und das, was der Film braucht. Es liegt an ihr, das grosse Ganze vor Augen zu halten. Der Schnitt steht sowohl im Dienst der Regie als auch in jenem des Films. Die beiden Frauen tauschen Argumente dafür und dagegen aus. Denise Fernandes willigt dieses Mal in die Kürzungen ein.
Selin Dettwiler behauptet von sich, sie könne mit fast jedem Typ Mensch. Ein Muss, denn ohne Empathie lässt sich schwer rausspüren, was für einen Film sich die Regie wünscht. Ihre einfühlsame und unvoreingenommene Art zeichnete sie bereits im Studium aus und lässt sie als Editorin brillieren.
Dettwilers Arbeitsalltag ist nebst Teamwork geprägt von Stunden, in denen sie allein im Schnittraum sitzt, Szene für Szene scannt, Sequenzen umschneidet, austauscht oder weglässt, um dann wieder von vorne zu beginnen. Wozu diese Strapazen?

Diese Frage stellt sich Dettwiler nicht. Das Immer-wieder-von-Neuem-Durchgehen der Aufnahmen zählt zu ihren Lieblingsaufgaben. «Jede Szene hat ihren eigenen Rhythmus. Es ist wie beim Komponieren von Musik», sagt sie. Und sie muss es wissen: Vor ihrem Studium mit Schwerpunkt Schnitt absolvierte sie an der Jazzschule in Bern einen einjährigen Vorkurs in Gesang und Klavier. Heute geht sie dieser Leidenschaft als Sängerin in ihrer Band «Çiçek Taksi» nach.
Aber auch beim Film gehe es um Improvisation, darum, eine Balance zu finden. Dettwiler sagt: «Wenn ich das Gefühl habe, die Szene funktioniert noch nicht, habe ich gelernt, es auszuhalten, weiterzumachen und meiner Intuition zu vertrauen. Und dann, irgendwann passiert von allein der Zauber, und der Film beginnt sich zu verselbstständigen.»
Über Fogo bricht heute ein letztes Mal der Abend herein. Nana und ihre Verwandten sitzen beim Abendbrot. Der Innenhof ist erfüllt von Gelächter und einander ins Wort fallenden Stimmen. Der Onkel erzählt enthusiastisch von seinen Plänen, eine eigene Bäckerei zu eröffnen. Leicht abseits sitzt Nana mit Kopfhörern, Walkman und einem Teller in den Händen und beobachtet die gesellige Runde. Ob diese Version nochmals geändert wird, werden wir dann im Kino sehen. Für heute bleibt die Szene, wie sie ist.
«Dieser Gleichzeitigkeit von verschiedenen Realitäten und Wahrheiten versuche ich in meiner Arbeit Raum zu verschaffen.»
Rec. und Stop
In Dettwilers Arbeit fliessen nebst ihrem musikalischen Hintergrund auch die Prägungen aus ihrer Kindheit mit ein. Dettwiler wächst als Tochter eines Schweizer Vaters und einer türkisch-kurdischen Mutter in zwei unterschiedlichen Kulturen auf. «Für mich war es schon immer selbstverständlich, mich in verschiedenen Sichtweisen, Sprachen und Gewohnheiten zu bewegen. Dieser Gleichzeitigkeit von verschiedenen Realitäten und Wahrheiten versuche ich in meiner Arbeit Raum zu verschaffen.»
Dass es Familienmitglieder im Ausland gab, brachte Dettwiler überhaupt zum Film. Die Familie besass eine Videokamera, mit der die Eltern Familienmomente festhielten und das Heranwachsen der drei Kinder dokumentierten. Die Kassetten schickten sie als Videogrüsse an die Verwandtschaft in die Türkei. Ein Inspirationsquell für die damals erst zwölfjährige Selin Dettwiler.
Zum Geburtstag ihrer besten Freundin beschliesst sie kurzerhand, ihr einen selbstgedrehten Film zu schenken. Die Handlung: Eine Nachrichtenmoderatorin, sie selbst, die live aus dem Studio Glückwünsche sendet. «Zurückblickend war das mein erster geschnittener Film. Die einfachste Form von Schneiden: Rec. und Stop.»
Dettwiler schloss die Videokamera mit dem selbstgedrehten Band an den Fernseher an und legte eine leere Videokassette ein. Bei Szenen, die sie eingeblendet haben wollte, drückte sie auf die Rec.-Taste, stoppte und spulte vor, bis wieder eine passende Szene gesichtet wurde.
Die Aufnahme gibt es heute nicht mehr. Selin Dettwilers jüngerer Bruder überspielte die Kassette vor vielen Jahren. In den Köpfen der beiden Freundinnen existiere der Film bis heute, sagt Dettwiler.
Dann bricht der Abend über Bern herein.
- (In der gedruckten Version dieses Beitrags in der Filmbulletin-Ausgabe 4.24 sind zwei fehlerhafte Passagen im Lauftext zu finden. Für diese Online-Version und das E-Paper wurde der Text redigiert.)