FILMBULLETIN Sie sind dreimal von Zürich nach St. Gallen aufgebrochen. Muss man diese filmisch dokumentierte Wanderung als Therapie begreifen, um sich das Rauchen abzugewöhnen?
PETER LIECHTI Ich mag das Wort Therapie nicht. Das Rauchen loszuwerden – und erst noch einen Film darüber machen, heisst vor allem Arbeit.
FILMBULLETIN Sie haben sich bewegt, um etwas zu bewegen – in Ihrem Leben.
PETER LIECHTI Dieses Unternehmen sollte mich in einen Zustand versetzen, in dem ich bereit war, etwas abzugeben. Um etwas Neues zu gewinnen, muss man meist etwas anderes loswerden.
FILMBULLETIN Das Ziel heisst St. Gallen, Ihre Heimatstadt. Aber warum denn zu Fuss?
PETER LIECHTI Zu Fuss sieht man viel mehr als mit dem Fahrrad. Vor allem aber wurde dieses rituelle Abschreiten des Landes immer mehr zu einer Art Pilgermarsch. Eigentlich eine uralte Geschichte: Man könnte es auch als eine Form der Meditation sehen. Man ist sich selber ausgesetzt auf diesen Wanderungen. Das Alleinsein und die Langsamkeit sind dabei wichtige Faktoren.
FILMBULLETIN Es leuchtet aber auf den ersten Blick nicht ein, sich auf die Wanderschaft zu begeben, um sich das Rauchen abzugewöhnen.
PETER LIECHTI Mein Ziel hiess von Anfang an, das Rauchen loszuwerden. Mittels konstanter körperlicher Beschäftigung hoffte ich, dieses Ziel zu erreichen. So bin ich einmal zu einem Freund nach Basel gelaufen – ohne Kamera – und habe hinterher gedacht: Unglaublich, was ich alles erlebt habe; schade hatte ich keine Kamera, kein Notizbuch dabei. Dann bin ich wieder rückfällig geworden und habe mir vorgenommen: beim nächsten Mal mit Kamera und Tagebuch loszuziehen. Doch das ursprüngliche Ziel, das Rauchen loszuwerden, verlor mit der Zeit an Bedeutung.
FILMBULLETIN Und haben Sie Ihr Ziel erreicht?
PETER LIECHTI Nach allen drei Fussmärschen habe ich eine Zeitlang nicht mehr geraucht. Aber wichtiger wurde für mich eine andere Erfahrung: Nämlich den echten Wunsch zu spüren, nach Zürich zurückzukommen, wieder mit neuen Kräften frisch einzusteigen. Die Wanderung hat mich zu Neuem motiviert.
FILMBULLETIN Was haben Sie denn unterwegs empfunden?
PETER LIECHTI Durch das Alleinsein und den Entzug werden die Sinne empfindlich geschärft. Man ist vermehrt den eigenen Stimmungsschwankungen ausgesetzt. Mal fühlt man sich deprimiert, mal erfährt man auch euphorische Momente.
FILMBULLETIN Es fällt auf, dass Sie je nach Gegend mal als normale Erscheinung, nämlich als Wandertourist, mal als Fremdkörper empfunden wurden. Sie sprechen auch von einer filmischen Himmel- und Höllenfahrt.
PETER LIECHTI Manchenorts wurde ich als komischer Kauz betrachtet, der mitten im Februar mit Rucksack und schweren Schuhen durch die Provinz marschiert. Das muss man aushalten. Es gab natürlich auch wunderbare Momente, allein so unterwegs zu sein, vollkommen anonym, frei und niemandem Rechenschaft schuldig.
FILMBULLETIN Ihr filmisches Essay ist ein Roadmovie, eine Schweizer Reise.
PETER LIECHTI Absolut. Der Film ist ein flächendeckendes Porträt der Ostschweiz geworden. Ein Roadmovie für Fussgänger …
FILMBULLETIN Zurück zum Laufen: Das Wandern ist des Schweizers Lust …
PETER LIECHTI Ich glaube, kein Volk auf der Welt wandert so gern wie die Schweizer. Und ich gehöre ja auch dazu, obwohl ich eigentlich nicht gern wandere. Was machen wir da eigentlich, habe ich mich gefragt, wenn wir stundenlang freiwillig durch die Gegend laufen. Ich nannte es dann: vor sich hin schweizern.
FILMBULLETIN Und doch haben Sie sich nicht in eine Schweizer Kolonne eingereiht und sind einfach losmarschiert. Sie hatten anderes im Sinn …
PETER LIECHTI Diese drei Märsche nach St. Gallen bewegten sich konstant auf dem Grat zwischen Fremdsein und Dazugehören. Sie wurden zur Suche nach den eigenen Wurzeln und der Film zur Abrechnung und zur Liebeserklärung.
FILMBULLETIN An wen?
PETER LIECHTI An die Ostschweiz – ich liebe sie und habe immer an ihr gelitten. Meine Herkunft ist mir wichtig, und lange habe ich mit dieser Herkunft gehadert. Heute sehe ich die Vorteile, vor allem aber auch den Charme dieses Landes.
FILMBULLETIN Hat sich Ihr Bild der Ostschweiz nach den Wanderungen verändert?
PETER LIECHTI Es hat sich verfestigt. Die Märsche wurden zur Klärung, zur Katharsis, und ich kenne heute meine Verbundenheit zur Ostschweiz. Ich weiss heute besser, wohin ich weiterhin gehen kann oder eben nicht mehr gehen sollte, wo ich mich fremd und wo ich mich gut fühle. Man könnte auch von einem langen Abschied sprechen …
FILMBULLETIN Ihr Filmtitel Hans im Glück bezieht sich auf das Grimmsche Märchen. Was hat es damit auf sich?
PETER LIECHTI Der Bursche macht auf seiner Wanderschaft verschiedene Tauschgeschäfte, zieht den Kürzeren und bekommt immer weniger, bis er am Ende gar nichts mehr hat und ohne irgend etwas nach Hause zurückkehrt. «Buddhistisch» interpretiert, könnte man das Märchen folgendermassen lesen: Je mehr Ballast man abwirft, desto befreiter fühlt man sich. Aus typisch westlicher Sicht ist der Hans hingegen einfach ein Trottel … Diese Ambivalenz der Figur hat mich schon immer fasziniert. Noch weiss ich nicht genau, wie ich es für mich lesen soll … Immerhin: Bis heute habe ich nicht wieder angefangen zu rauchen.
FILMBULLETIN Was haben diese Märsche bewirkt, sieht man mal von einer begrenzten Entwöhnung ab? Was ist bis heute die Quintessenz dieser Unternehmung?
PETER LIECHTI Schlussendlich war der Weg das Ziel. Bleiben werden die Erinnerungen an eine intensive Zeit – und ein bisschen Hans im Glück, mein bisher komplexester Film.
Das Gespräch mit Peter Liechti führte Rolf Breiner