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Genet à Chatila

Richard Dindo operiert anhaltend aus einem Blickwinkel, der so sehr helvetisch wie international anmutet: so sehr provinziell wie kosmopolitisch. Seit dreissig Jahren verrichtet er seine Sache stetig, hartnäckig, integer, mit unbeirrbarem Nachdruck: mit engagierter kritischer (und selbstkritischer) Haltung und mit Verstandeskraft und Gefühlsstärke obendrein.

Text: Pierre Lachat / 01. Okt. 1999

Sein Diskurs im Spannungsfeld von Leben und Arbeiten reisst nicht ab, und er schreitet voran entlang dem Dreieck von Literatur, Film und Politik. Inne hält er am liebsten dort, wo die deutsche und die französische Sprache und Kultur aneinander grenzen. Richard Dindo operiert anhaltend aus einem Blickwinkel, der so sehr helvetisch wie international anmutet: so sehr provinziell wie kosmopolitisch. Seit dreissig Jahren verrichtet er seine Sache stetig, hartnäckig, integer, mit unbeirrbarem Nachdruck: mit engagierter kritischer (und selbstkritischer) Haltung und mit Verstandeskraft und Gefühlsstärke obendrein. So wenig wie Literatur und Film wird bei ihm die Politik zu einer Sache, die einzig den Intellekt anginge.

Die Dimension, die da allmählich sichtbar wird, erschliesst sich einem Dokumentaristen höchstens in Ausnahmefällen. Kinoerzähler wie Ford, Hitchcock, Truffaut, Godard, Chabrol und Fassbinder haben es so weit gebracht. Dindo gehört jetzt zu den Wenigen, die etwas Ähnliches in seiner Disziplin zu erreichen scheinen. Am Ende von gut zwanzig verschiedenen Arbeiten ist er zu dem Punkt gelangt, wo das Ganze anfängt, mehr darzustellen als die Summe seiner Teile: und das erst noch jenseits der Gefahr, sich zu wiederholen und die Themen gleichsam abzugrasen oder abzuhaken.

Was für so viele seiner Generation eine fruchtbare Durchlaufphase war, über die sie dann Schritt um Schritt hinauszugehen hatten – jene aufrührerisch-humanistische Militanz der Jahre 1965 bis 1985 –, das ist ihm inzwischen zur zweiten Natur geworden. Aber es geschah – als dann der allgemeine Umsturz auf sich warten liess –, ohne dass er ein leer laufender Möchtegern–Revoluzzer und endlos übersiedender Heisssporn geblieben wäre: jemand, dem entgangen wäre, wie ihn die Welt mitleidlos hinter sich liess und wie sie sich unheldisch nach der Gegenrichtung hin aus dem Staub machte.

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Eine unentschiedene historische Realität

Er wollte die Welt verändern, aber als sie den Spiess umdrehte und statt dessen daran ging, ihn zu verändern, da hat er sich ihr nicht entzogen. Indessen erweisen sich die Triumphe von heute leicht einmal als die Desaster von morgen und umgekehrt. Im ersten Moment scheinen Siege und Niederlagen alles zu besiegeln, aber sie gelten dann oft nur auf Zusehen hin. Gewiss, die Tatsachen sind unverrückbar, hingegen bleibt mindestens ihre Interpretation (zum Glück) veränderlich.

Nach dieser Erfahrung und Erwartung – indem er über die Wechselfälle der Gegenwart hinaus nach vorne schaut –, lebt und filmt, wer wie Dindo wahrhaftig seine Existenz als Autor zu beschliessen gedenkt. Vorausgesetzt ist dabei, dass er sich sehr genau an die verschlungenen Wendungen erinnert, die die Dinge jeweils genommen haben.

Denn wohl wurde das Dritte Reich etwa niedergerungen, doch bewahrt es sich gerade auch in den Dokumentationen Dindos wie Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S., Charlotte, Leben oder Theater und Grüningers Fall eine höchst ungemütliche Präsenz. Jahrzehnte nach dem Tod des endgültig geschlagenen Adolf Hitler sind jene zwölf überschatteten Jahre (in die der Autor hinein geboren wurde) aus der Erinnerung der im zwanzigsten Jahrhundert Aufgewachsenen keinesfalls zu löschen.

Die Revolution der (nicht etwa nur schwarzen) Südafrikaner, von der Une saison au paradis erzählt, hat ihre Ziele überwiegend erreicht, aber sie hat noch bei weitem nicht alle Fragen beantwortet, und ihr ultimater Erfolg steht dahin. Umgekehrt ist der Titelheld von Ernesto «Che» Guevara, das bolivianische Tagebuch, den im Dschungel ein eher unrühmliches Ende ereilte, in die Legende eingegangen; dabei ist der Umsturz in ganz Lateinamerika, wie er ihn betrieb, Projekt geblieben.

Der Widerstand der Palästinenser, mit dem sich jetzt der jüdische Schweizer Dindo in Genet à Chatila befasst, hat in über fünfzig Jahren seine wesentlichen Ziele verfehlt. Trotzdem hat er sich leidlich gehalten: als eine unentschiedene historische Realität, mit der heute und morgen noch zu rechnen ist.

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Stellvertretende Figuren

Oft sind die Protagonisten, die Dindo befragt, mehr als Zeugen. Sie werden zu regelrechten personnes interposées, das heisst: zu stellvertretenden Figuren. Ohne es zu wollen geraten sie zwischen den Autor und sein Thema und helfen, den Abstand auszustecken. Sie dienen gerade nicht dazu, ihn scheinbar zu verringern, heisst das: anders, als manche meinen, wenn sie glauben, ein Autor sei dazu da, sich einer Sache (wie man gern sagt) anzunähern. Denn wer bei so manchen von den Auseinandersetzungen, die Dindo anspricht, nicht selber mit von der Partie war, der sollte sich hüten, nachträglich noch persönliche Betroffenheit herbei zu heucheln; er hat sich vielmehr zur Distanz zu bekennen, aus der er agiert.

Zum Beispiel verkörpern die Titelfiguren von Schweizer im Spanischen Bürgerkrieg, Max Frisch, Journal i-iii, Hans Staub, Fotoreporter, Max Haufler – der Stumme, Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. oder Grüningers Fall die Schweiz mit fast allem, was sie auszeichnet und brandmarkt: der vornehmen Aufgeklärtheit und exemplarischen Toleranz wie dem entmutigenden Kleingeist, der bürokratischen Unehrlichkeit, der nackten Niedertracht und der nicht eben astreinen Vergangenheit.

Arthur Rimbaud, une biographie versieht etwas Vergleichbares für das seinerseits oft recht beschränkte Frankreich, das seinen grössten Poeten ausquartiert und zum Schweigen bringt, kaum hat es ihn hervorgebracht. Der Titelheld von Ernesto «Che» Guevara, das bolivianische Tagebuch, der ein Journal führte wie Max Frisch, und dann auch Breyten Breytenbach, der sogenannte Albino-Terrorist von Une saison au paradis, zeigten den Weg nach Übersee.

Und nun ist es der Erzähler und Dramatiker Jean Genet, in mehrfacher Hinsicht der Erbe Rimbauds in unserer Zeit, der den Filmemacher nach Schatila südlich von Beirut einweist. Dort liegt eine der Märtyrerstätten der Palästinenser, und von da geht die Suche sogleich weiter zu jenen traditionellen Schlachtfeldern in der Gegend des Jordan, die Araber und Israeli einander seit Jahrzehnten streitig machen.

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Haben Sie den Mann auf diesem Foto gesehen?

Aber der 1986 verstorbene Genet, der die Leiden der Palästinenser mit lodernder Empörung und schmerzlicher Melancholie beschrieben hat und der auf der Leinwand fast nur durch seine Texte präsent wird, reicht Dindo in der Rolle der Figur dazwischen nicht aus. Es ist, als müsste die Distanz, die den Filmemacher von seinem Thema trennt, noch einmal zusätzlich herausgestrichen werden.

Weshalb eine junge Araberin aus Frankreich, die von der Geschichte des palästinensischen Widerstands wenig weiss (wie Dindo selbst), die Kamera von einem Schauplatz zum andern führt: immer auf den Spuren des französischen Schriftstellers, der hier vorbeiging. Und worüber ein Dichter geschrieben hat, das bekommt mehr historisches Gewicht als anderes, das nur von den Historikern verzeichnet wird oder (heute) von den Journalisten. Der trojanische Krieg wäre ohne Homer längst vergessen.

Einmal mehr gerät die dokumentarische Recherche Dindo zur fast detektivischen Ermittlung. Haben Sie den Mann auf diesem Foto gesehen (vor fünfzehn Jahren)? Die Spuren sind wie immer ernüchternd spärlich. Aber schliesslich sollte nicht Reichtum der Zeugnisse den Filmemacher anziehen, sondern der Eigenwert eines Themas, die Bedeutung einer Figur. Und wie oft bei Dindo sagt die Suche selbst mehr aus als das effektiv Aufgefundene. Ein erheblicher Teil von dem, was bleibt von den Kämpfen gegen das übermächtige Israel, sind Erinnerungen an die Gefallenen, Erzählungen von Vorstössen der Guerilleros. Der Aufenthalt Genets bei den Palästinensern ist einigen wenigen noch erinnerlich.

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Fatalistisch und unbezähmbar

Die Vertriebenen und die Verstreuten gehören traditionell zu den Zähesten, weltweit. Selber wissen das gerade Juden wie Dindo besser als sonst jemand. Genet hatte die gleiche Erkenntnis aus der eigenen Heimatlosigkeit gewonnen. Mit seiner Vergangenheit als zeitweise kleinkriminell gewordener Waise, der im Gefängnis zu schreiben begann, fühlte er sich den Entrechteten in Palästina näher, als Dindo ihnen je kommen konnte oder wollte.

Denn wer eigene Erfahrungen mitbringt, der erkennt sich auf der Stelle wieder in der Mischung von Fatalismus und Unbezähmbarkeit, der die Palästinenser von gestern und heute kennzeichnet. Und gerade aus ihrem Beispiel vermag er zu ersehen, wie Resignation und Auflehnung, Nachgiebigkeit und Intransigenz ohne weiteres zu zwei Seiten ein und derselben Sache werden können.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/1999 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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