Nicolas Steiner sitzt noch beim Frühstück, als ich mich zu ihm an den Tisch setze. Tags zuvor ist der aktuelle Dokumentarfilm [art:above-and-below:Above and Below] des Schweizer Regisseurs (Ich bin’s Helmut, 2009; [art:kampf-der-koniginnen:Kampf der Koeniginnen], 2011) am Filmfestival Locarno 2015 gezeigt worden. Im Gespräch entpuppt sich Steiner als beinahe rebellischer Filmemacher, der keine Kompromisse eingeht, die ihm nicht einleuchten. Wenn Steiner etwas nicht mag, dann sind es Regelwerke. Mit seinem Abschlussfilm Above and Below hat er einige Gesetze gebrochen, die ihm während seines vierjährigen Regiestudiums eingetrichtert wurden. International erhält der Film grosse Aufmerksamkeit, läuft an zahlreichen Festivals im internationalen Wettbewerb und räumt Preise ab.
Filmbulletin In einem Text von dir stand, dass man im Filmgeschäft «gegen alle Regeln und Gesetze verstossen darf und muss». Welche Gesetze, welche Regeln, hast du damit gemeint?
Nicolas Steiner Dadurch, dass in Europa kulturelle Förderung fast ausschliesslich über Staats- und Stiftungsgelder funktioniert, wird gleichzeitig ein Regelwerk mitgeliefert, von dem gewisse Parameter erfüllt werden müssen. Für den Filmemacher sind starre Regeln das Schlimmste, sie schränken ihn im Denken und in der Kreativität ein. Mir wurde zum Beispiel geraten: Eher keine Musik in einem Dokfilm, die emotionale Überspitzung sei gefährlich. Weil Dokfilm Realität sei – was ja schon mal absoluter Schwachsinn ist –, dürfe man die Wirkung nicht mit Musik unterstützen. Ich empfinde das anders. Auch bei der Struktur der Geschichte: drei Akte, drei Welten, drei Protagonisten. Ich habe keine Lust, Filme zu machen, in denen die Theorie auf dem Papier funktioniert. Bei der ersten Sichtung im Kino, sie dauerte über sechs Stunden, empfahlen mir Mentoren und Fernsehleute: Du hast drei Welten, also mache drei Protagonisten. Ich habe meinem Instinkt vertraut und die vierte Figur zugespitzt und anders behandelt als die übrigen Protagonisten. Diese vierte Figur hat vielleicht acht Minuten Screentime auf zwei Stunden. Aber ich wollte den «Godfather» und Geist unbedingt im Film haben. Er ist ganz wichtig und funktioniert auf einer Ebene, die schwierig zu beschreiben ist. Ich stehe voll dazu, einen zweistündigen Film gemacht zu haben, weil für mich so alles gepasst hat.
Wie ausgearbeitet war das Drehbuch, bevor ihr zu drehen begonnen habt?
Es gab kein Drehbuch. Es gab eine Art «Annahmetreatment», was man als Dokumentarfilmer braucht, um das Projekt zu verkaufen. Eine Art Einreichdummy, der sehr präzise an die Vorstellung des Filmemachers (möglicher Ablauf, Protagonisten etc.) herankommt. Diese Notizen und Gedanken basieren auf meiner Recherche. Anhand dieser bestimme ich mit dem Kameramann die visuellen Stimmungen und technischen Parameter, wie Format oder Art der Kamera. Die Komponisten beginnen aufgrund meiner Recherchefotos und gesammelten Töne zu komponieren. Damit gehe ich dann zurück auf den Dreh. Es ist eher unwahrscheinlich, dass man in der Recherchephase bereits die Lebensgeschichte der Protagonisten kennen kann. Da erfindet man etwas fürs Papier, sonst gibt einem niemand Geld.
Es gab das Drehtreatment, und da ich eher ein Konzepttyp bin, stand irgendwann das Konzept «Cowboys, Ghosts and Aliens» fest. Das habe ich durchgezogen. Diese drei Begriffe sind mir in meinem Studienjahr in San Francisco immer wieder aufgefallen. Für mich stehen sie gewissermassen für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Daraus resultierte auch die Reise vom Mars zurück auf die Erde und darunter … Alles in der Wüste, wo es immer ums Überleben geht.
Die Produzenten waren erstaunt, wie nah der Film am Treatment geblieben ist. Beim Dreh war es natürlich nicht möglich, mit den Obdachlosen aus dem Tunnel Meetings zu vereinbaren. Das kann man vergessen. Sie sagen einem, wann sie Zeit haben und haben wollen. Teilweise war es ein extremes Geduldspiel und hat mich manchmal an die Grenze der Verzweiflung gebracht. Du kannst nichts planen. Am einen Tag machst du einen Drehplan und eine Shotlist und am Nächsten ist alles anders. Aber wenn man als Dokumentarfilmemacher ein Talent braucht, dann ist es die Auffassungsgabe, das Recherchierte später mit einem Team im Dreh umzusetzen und im richtigen Moment die richtigen Fragen zu stellen oder die richtige Konversation anzukurbeln. So was kommt dann automatisch.
Above and Below enthält inszenierte Szenen. Die Trennung zwischen inszenieren und einfangen verschwimmt bei dieser Form des dokumentarischen Erzählens und wird auch nicht vertuscht. Im Gegenteil, es macht uns bewusst, dass selbst ein dokumentarischer Film eine Konstruktion bleibt und nicht die Realität zeigt.
Es war mir sehr wichtig, dass ich mit offenen Karten spiele und nichts zu vertuschen versuche. Im Prinzip biete ich einen Vertrag an, und man hat die Chance, ihn zu unterschreiben oder es sein zu lassen. Auch hier breche ich die Regel, indem ich den Zuschauer rausreisse, ihm bewusst mache, dass es nur ein Film ist, und beispielsweise eine Kranfahrt einbaue. So blocke ich zwar bei manchen die Emotionen, fordere aber den Zuschauer grundsätzlich auf, sich sein eigenes Bild zu machen. Das ist die Art von Filmemachen, die mir Spass macht, es ist meine Art von Ehrlichkeit, jemand anderes zeigt es anders. Auch der Inhalt gibt mir gewisse technische Spielereien vor, ganz klar.
Für Above and Below wurde eine spezielle Digitalkamera verwendet. Die Bildästhetik wirkt dadurch zeitgenössisch und erinnert eher an Spielfilme oder Quality-Serien. Warum habt ihr euch für diese Kamera entschieden?
Wir haben auf einer ARRI Alexa gedreht. Vor vier Jahren, als meine Produzenten das hörten, fanden sie, dass wir komplett spinnen, weil für einen Dokumentarfilm das neu und sehr ungewohnt war: schwere Kamera, grosses Gerät, unhandlich, umständlich, also nicht geeignet für dokumentarisches Schaffen. Ich wollte damit einen Schritt in die Zukunft machen. Wir haben einen hohen Anspruch. Mir ist das Bild wichtig, meine Inspiration kommt aus Bildern, nicht von Texten. Mit meinem Kameramann, Markus Nestroy, suchte ich eine Kamera, die auch mit der Dunkelheit im Tunnel umgehen kann. Vor vier Jahren gab es zwei Möglichkeiten, den Film auf diesem hohen Niveau zu drehen, sodass wir fast keine andere Wahl hatten: Auf 35-mm-Film zu drehen war zu teuer. Jetzt sind rund vier Jahre vergangen und praktisch jede Doku, die mit festen Brennweiten arbeitet und den Anspruch hat, visuell in eine andere Richtung zu gehen, ist mit einer Alexa gedreht. Kino bietet einem doch die grosse Leinwand und alle Boxen rundherum. Es wäre eine verpasste Chance, das nicht auszunutzen. Egal wie politisch und thematisch ein Film sein soll, es ist auch eine Form von Unterhaltung. Und ich nutze gerne das Gesamtpotenzial. Jeder Protagonist hat das Recht auf ein schönes Bild und einen guten Ton. Durch die gute Auflösung der Kamera und die Art, wie es gefilmt wurde, bekamen wir allerdings Schwierigkeiten im Schnitt, denn beispielsweise wirkten gewisse Szenen im Tunnel durch das Kerzenlicht nicht wie eine Tunnelbehausung, sondern wie ein schönes Wohnzimmer, beinahe zu romantisch. Dieser Wirkungsweise mussten wir Gegensteuer geben, und trotzdem war es mir wichtig zu zeigen, wie detailliert und liebevoll das Paar, Rick und Cindy, sich den Tunnel eingerichtet hatte.
Die Postproduktion hat im Vergleich zum Dreh lange gedauert. Weshalb?
Wir haben circa zweieinhalb Monate gedreht und etwa vierzig Stunden Material aufgenommen. Geschnitten haben wir während ungefähr zehn Monaten. Sobald der Schnitt fertig war, haben wir das Sounddesign und die Musik schnell durchgezogen. Die Musik wurde teilweise bereits vor dem Dreh geschrieben. Während des Drehens habe ich dem Markus Nestroy auf dem iPod Musik abgespielt, damit er das richtige Tempo fand.
War dir von Anfang an klar, dass der Musik eine so grosse Bedeutung zukommen wird?
Es war mir klar, weil ich Musik mag und weil ich das auch ein bisschen provozieren wollte. Wie viel es schliesslich sein würde und dass beinahe jeder Protagonist ein Instrument spielt, war mir allerdings nicht klar. Aber ich wusste, dass sich über die Musik eine Verbindungsebene auftun würde. Schlussendlich wurde sie zu einem Mittel, beinahe zu einem eigenen Protagonisten. Ich finde es witzig, wie das Musikalische nun in manchen Ecken so amerikanisch rüberkommt. Ich bin einfach ein Schweizer, der gerne Musik hat und selber Schlagzeuger ist.
Inzwischen gibt es neben dem schweizerischen und deutschen Verleih auch einen amerikanischen. Above and Below erhielt zudem einige Preise an Festivals. Man kann bisher von einer Erfolgsgeschichte sprechen. Mit Above and Below hast du das Regiestudium an der Filmakademie Baden-Württemberg abgeschlossen. Wie reagierten deine Dozenten auf den Film?
Es war ein etwas schwieriger und unrühmlicher Abgang von der Filmakademie. Vor Above and Below hatte ich einen sehr guten Draht zur Schule und meine Filme brachten ihr recht viel zurück – auch finanziell. Ich bin’s Helmut und Kampf der Königinnen wurden gut verkauft und haben Preise gewonnen. Als ich das Diplom machte, wuchs das Projekt Above and Below, eine externe Firma kam hinzu, die Schule gab die Rechte aus der Hand. Ich geriet zwischen die Fronten. Hinzu kamen die lange Schnittzeit und natürlich unterschiedliche Meinungen, wie der richtige Weg und Zugang zu diesem Film aussehen könnten. Die Diplomprüfung ging in die Hose. Im Nachhinein darf ich sicher sagen, dass der Film zu den erfolgreicheren der Akademie gehört: Es ist der erste Film, der in Rotterdam im Wettbewerb lief, wir haben einen Verleiher in den USA, und letztens schafften wir’s in die Top-Ten-Filme des Jahres 2015 von Variety. Mein Team und ich sind sehr zufrieden. Diese Erfolge sind Motivationsspritzen, dürfen aber nicht überschätzt werden, es sind Momentaufnahmen. Trotzdem ist es gut zu wissen, dass die Rechnung schon aufgehen kann, wenn man an seine Vision glaubt. Wir haben alles gegeben und erhalten dafür Anerkennung. Der Film war eine grosse Herausforderung, und das muss Filmemachen sein, sonst kann man keine Höchstleistungen erbringen.