«That's one small step for [a] man, one giant leap for mankind.» Auf diese Worte warten wir, während wir Neil Armstrongs Geschichte an der Leinwand verfolgen. Damien Chazelles Film zeigt den Astronauten im familiären und beruflichen Umfeld in den Sechzigerjahren bis zur Mondlandung am Ende des Jahrzehnts.
Fast jedes Jahr kommt ein Weltallfilm mit einem zumindest theoretischen Realitätsanspruch ins Kino: von Gravity (2013) über Interstellar (2014) und The Martian (2015) bis zu Life (2017). First Man ist nun die wahre Geschichte eines Weltraumpioniers. Und Damien Chazelle schafft es darin, das Genre zu erweitern. Er benutzt vielfach eine Handkamera und Nahaufnahmen, um klaustrophobische Gefühle zu vermitteln, die Armstrong zu Beginn des Films nach dem Tod seiner kranken Tochter fühlt. Erst als die Astronauten im Weltall sind, werden durch lange Weitaufnahmen Ruhe und Ehrfurcht evoziert.
In seinen bisherigen Filmen hat Chazelle jeweils einen starken Fokus auf Musik gelegt – [art:whiplash:Whiplash] handelt von einem jungen Jazzschlagzeuger, der sich die Hände blutig trommelt, und La La Land ist ein nostalgisches Hollywood-Musical. In seinem neuen Film sind unsere Ohren von den ersten Momenten an, nicht Musik, sondern in einem Testflugzeug den kreischenden und scheppernden Lauten der Flugmaschine ausgesetzt. Tatsächlich vermochte bisher noch kein anderer Film, die Mechanik der Raketen auditiv so eindrücklich darzustellen. Das führt zu einem immersiveren Filmerlebnis, da wir gemeinsam mit den Astronauten die drohende Gefahr der an den Fluggeräten wirkenden, immensen Kräfte spüren und – obwohl wir wissen, dass es kommen wird – an einem positiven Ende zu zweifeln beginnen. Unseren Ohren wird erst mit dem Erreichen des Weltalls das gesamte musikalische Spektrum eines Orchesters eröffnet. Chazelle ist nicht der erste, der bewegende, klassische Filmmusik mit beeindruckenden Bildern des Weltraums verbindet. Es ist zu Recht ein Stilmittel, das immer wieder eingesetzt wird: Der Pathos dieser Szenen, in denen der Mensch die ihm gesetzten Grenzen überschreitet, wird durch die Musik verstärkt.
Überhaupt ist Immersion ein wichtiges Element des Films. Die Kameraeinstellungen in den Raketen und auf dem Mond erinnern teilweise an Virtual Reality Simulationen, indem die Perspektive der Hauptfigur eingenommen wird; das subjektive Erleben des Weltraums wird dadurch unterstützt. Ein Aspekt, der nicht übersehen werden sollte, ist, wie gut es den Filmemachern gelingt, die Sechzigerjahre aufleben zu lassen. Die Aufnahmen imitieren die körnigen Bilder damaliger Filmkameras, und die Kostüme wirken leicht abgetragen, was sie greifbar und echt aussehen lässt.
Erneut hat Chazelle Ryan Gosling als Hauptdarsteller ins Boot beziehungsweise ins Raumschiff geholt. Wie in anderen Filmen zuvor – man denke an [art:drive:Drive] oder The Place Beyond the Pines – zeichnet sich seine Darbietung vor allem dadurch aus, dass er als stoische Projektionsfläche für die Gefühle der Zuschauer_innen fungiert. In First Man glückt diese Technik meistens. Es ist aber die Goslings Ehefrau spielende britische Schauspielerin Claire Foy, die dem Hauptdarsteller einige Szenen stiehlt und deren Figur sich klar als Oberhaupt der Familie etabliert.
First Man weist nebst den gelingenden filmtechnischen Experimenten einige klare Schwächen auf. Es ist keine einfache Aufgabe, eine Geschichte interessant zu erzählen, wenn das Publikum bereits über den Höhepunkt und die positive Heimkehr des Helden Bescheid weiss. Während sich Chazelle Mühe gibt, nicht allzu lange an einzelnen Stellen der Geschichte zu verweilen, kann er gewisse Längen dennoch nicht vermeiden. Das liegt vor allem daran, dass sich die Hauptfigur nur wenig emotional entwickelt. Der Film verpasst sein eigenes Ende und dauert über einen passenden Schlussmoment hinaus noch gute fünf Minuten länger. Durch die eingesetzten auditiven Mittel und die häufigen Nahaufnahmen ist First Man auch ein anstrengendes Erlebnis für die Sinne. Chazelles Film ist also kein Quantensprung für die Welt des Films, aber zumindest ein Schritt in eine neue Richtung.
Jonas Stetter ist der Gewinner des Filmkritik-Workshops, der am 7. April 2018 in Zusammenarbeit mit den Schweizer Jugendfilmtagen und der Zürcher Hochschule der Künste stattfand. Dies ist seine zweite Kritik für Filmbulletins «Junge Kritik».