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Filmbulletin 350 2015
© Der Will-Busch-Report (Niklaus Schilling 1979)

Filmbulletin Nr. 350, 2015: Filmkontingente

In unserer Jubiläumsausgabe zieht Silvia Posavec ein Fazit über Gesetzgebung und Schweizer Filmschaffen. Im 350-Ausgaben-Jubiläum erschien ein Text von Martin Girod, der sich mit den Einfuhrkontingenten für Spielfilme befasste und ebenfalls über die aufkommenden Probleme nachdachte. Hier können Sie den Originaltext von 2015 nachlesen.

Es war einmal: Einfuhrkontingente für Spielfilme - Von der Auslandsabhängigkeit zur Angebotsvielfalt

Seit den dreissiger Jahren bewegte sich die Debatte über «Auslandsunabhängigkeit» im Schnittpunkt von Politik, Wirtschaft und Kultur. Die Einfuhrkontingentierung für Spielfilme sollte die Unabhängigkeit gewährleisten. 50 Jahre später wurde dieses Regime abgelöst durch das Ziel der «Angebotsvielfalt» und durch Fördermassnahmen. Ein Rückblick auf eine Entwicklung, die kaum abgeschlossen sein dürfte.

Im Nachhinein erzählte man uns gerne, es sei ein Akt der «geistigen Landesverteidigung» gewesen, dass der Bundesrat in den späten dreissiger Jahren die Kontingentierung der Filmeinfuhr verfügte. Ein Blick in die Akten der Schweizerischen Filmkammer zeigt: Das ist weitgehend eine Legende – wie so manche über jene Zeit tradierte Darstellung. Die ausschlaggebenden Motive waren wirtschaftlicher Natur.

Zwar wurde 1937/38 in den Parlamentsdebatten über die Einrichtung einer «Schweizerischen Filmkammer» die Abwehr fremder Ideologien als Argument für den «Schweizerfilm» und die Schaffung einer eigenen Wochenschau ins Feld geführt. Doch zur Regelung der Filmimporte hatten die eidgenössischen Räte nichts zu sagen. Es war die als Konsultativgremium berufene, von der Filmwirtschaft geprägte Filmkammer, die die Neuerung vorbereitete. Auf ihren Antrag hin verordnete der Bundesrat am 26. September 1938 die Bewilligungspflicht für die «Einfuhr belichteter kinematographischer Filme» und schuf damit die Voraussetzung für die im folgenden Jahr etablierte Kontingentierung. Er stützte sich dabei auf den Bundesbeschluss vom 14. Oktober 1933 über «wirtschaftliche Massnahmen gegenüber dem Ausland».

Der Filmverleiher Werner Sautter (Columbus Film), der zu den treibenden Kräften für diese staatlichen Eingriffe gehört hatte, zog im Rückblick ein differenzierendes, zwischen ursprünglicher Absicht und späterer Wirkung unterscheidendes Fazit: «Mit dem Beginn der weltweiten Feindseligkeiten erwies sich die Einfuhrkontrolle und Kontingentierung als unentbehrliches Werkzeug der geistigen Landesverteidigung.» («Film und Filmwirtschaft in der Schweiz», Zürich 1968)

Wirtschaftliche statt kulturpolitische Ziele

Als die Filmeinfuhr 1939 kontingentiert wurde, war das Ziel nicht, den Import zu beschränken, sondern «den unabhängigen Filmverleihern eine Existenzbasis zu schaffen und die Entwicklung der Konzentration des Filmverleihs zugunsten der ausländischen Agenturen einzudämmen», wie es in einem Exposé der Schweizerischen Filmkammer vom 13. Oktober 1941 heisst. Zu diesem Zweck erteilte der Bund den einzelnen Verleihfirmen je ein individuelles, nicht übertrag- und handelbares Einfuhrkontingent für Spielfilme, berechnet auf der Basis der vom Verleiher in den Vorjahren eingeführten Menge. Anders als etwa bei der 1926 in Österreich verfügten Kontingentierung bestand kein Bezug zur eigenen Produktion, die 1939 mit nur vier zur Kinopremiere gelangten Spielfilmen wirtschaftlich unbedeutend war.

Die Hollywoodstudios Fox, M.G.M., Warner und United Artists verliehen bereits in den dreissiger Jahren ihre Filme – rund ein Fünftel des Imports – über ihre eigenen Schweizer Filialen und kassierten so den Zwischenhändlerverdienst des Verleihs gleich mit. Die Paramount-Filme wurden über die unabhängige Basler Firma Eos-Film vertrieben, während Werner Sautters Columbus-Film primär Produktionen der Columbia anbot. Was Hollywood konnte, wollten auch die deutschen Filmproduzenten: Tobis-Film eröffnete Mitte der dreissiger Jahre eine Filiale in Zürich. Ausländische Konzerne kauften zudem in die Krise geratene unabhängige Schweizer Verleihfirmen auf; so erwarb die deutsche UFA/Terra-Gruppe im Mai 1938 das traditionsreiche, vorübergehend aber inaktive Verleihhaus Nordisk-Film.

Kulturpolitische Gründe hätten für die Kontingentierung angesichts der hohen geografischen Diversifizierung des Angebots kaum angeführt werden können: Während 1934 in Deutschland 211 Spielfilme ins Kino kamen und in Frankreich 436, importierte die Schweiz im selben Jahr die erstaunliche Menge von 578 Spielfilmen. Bis 1938 stieg diese Zahl noch bis 710 an. Neben den Hauptlieferanten USA, Deutschland und Frankreich waren auch Italien und Grossbritannien gut vertreten; aber auch Ungarn, die UdSSR, Polen, Schweden, die Niederlande, Japan und Australien. Konnte das Publikum oder zumindest die Kinobesitzer also aus einem breiten Angebot auswählen, beklagten sich die unabhängigen Filmverleiher über die Knappheit an frei gehandelten Filmen auf dem internationalen Markt und die daraus resultierenden «Wucherpreise».

Die «Neue Zürcher Zeitung» kommentierte im Juli 1939 die Bekanntgabe der Einfuhrkontingentierung mit der Erwähnung «kultureller wie wirtschaftlicher Gründe» und kam zum Schluss: «Es braucht nicht näher ausgeführt zu werden, dass die Überhandnahme des ausländischen Einflusses in der schweizerischen Filmwirtschaft schwerwiegende Folgen für das Land haben kann.» (NZZ, 12. 7. 1939) Im Ausland sah man, je nach Standort, die Sache etwas anders: Die «New York Herald Tribune» machte schon aufgrund der – offenbar nur bedingt vertraulichen – Beschlüsse der Filmkammer Stimmung gegen eine «Massnahme, die auf den Prinzipien des italienischen Filmmonopols beruht und dort die Ausschaltung amerikanischer Filme zur Folge hatte» (European Edition, 6. 7. 1939). Dagegen kommentierte das deutsche Branchenblatt «Film Kurier»: «Unseres Erachtens bedeutet diese Regelung eine Verewigung der Vormachtstellung, die in diesen Jahren die grossen amerikanischen Firmen auf dem Schweizer Markt errungen haben.» (14.7. 1939)

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Ich klage an (Wolfgang Liebeneiner 1941)

Starke Präsenz nationalsozialistischer Filme

Die Schweiz war in den dreissiger Jahren ein «Land, das zu Deutschlands besten und zahlungskräftigsten Filmabnehmern zählte» (Ernest Prodolliet). Sogar Gustav Ucickys Das Mädchen Johanna (1935), eine von Goebbels angeregte, «unter dem persönlichen Protektorat des Propagandaministers» (Armin Loacker) hergestellte Version des Jeanne-d’Arc-Stoffs, kam ebenso in die Schweizer Kinos wie Karl Ritters Unternehmen Michael (1937), der «das Führerprinzip, den militärischen Gehorsam und den Opfertod glorifiziert» (Ernest Prodolliet). Auch Veit Harlans Der Herrscher (1937) konnte unter dem Deckmantel einer Gerhart-Hauptmann-Verfilmung ideologische Kernsätze verbreiten, wie: «Wer zum Führer geboren ist, braucht keinen Lehrer als sein eigenes Genie.»

Im November 1938 drückte die Tobis-Film Zürich in einem langen Schreiben an die Filmkammer ihre Befürchtung aus, es sei «ein besonderes Ziel der kommenden Kontingentierung, insbesondere der Einfuhr und Verbreitung des deutschen Films wirksamen Einhalt zu gebieten». Da die Tobis, wie alle grossen deutschen Filmtrusts, 1937/38 de facto verstaatlicht worden war, dürfte ihre Zürcher Filiale in direktem Auftrag aus Berlin gehandelt haben. Werner Sautter – wohl in seiner Eigenschaft als Mitglied der Schweizerischen Filmkammer und des Ausschusses für Filmmarktregelung – versuchte in Berlin in einem von der Schweizer Gesandtschaft vermittelten Treffen den Präsidenten der Reichsfilmkammer zu beruhigen: Es schwebe «den Befürwortern der in Frage stehenden Kontingentierung weder eine Beschränkung der deutschen Filmeinfuhr noch die Zuteilung von Länder-Kontingenten vor» (Aktennotiz W. Sautter vom 25. 1. 1939). Es gehe vielmehr um «die Lage der auf den deutschen Grossfilm angewiesenen unabhängigen Verleiher».

Weder im Bundesratsbeschluss vom 26. September 1938 noch in der detaillierteren Verfügung des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI) vom selben Tag tauchen explizit Kriterien auf wie Selbständigkeit und Auslandsunabhängigkeit in der Auswahl der Filme. Artikel 4 der Verfügung hält le- diglich fest: «Bewilligungen werden nur an Personen und Firmen erteilt, die im schweizerischen Zollgebiet niedergelassen sind.» Bei der erstmaligen Zuteilung der Kontingentseinheiten wurde mengenmässig aufgrund eines bestehenden Handelsvertrags eine Aus- nahme zugunsten der amerikanischen Filialen ge- macht. Auch die starke Präsenz des deutschen Films via die Schweizer Tobis-Filiale und die Nordisk-Film traute man sich kaum anzutasten. (Erhellendes zum Geschäftsgebaren der deutschen Verleihfirmen in der Schweiz findet man in den Publikationen von Hervé Dumont und Thomas Pfister.)

Neben dem allgemeinen Bestreben, das Regime in Berlin nicht zu provozieren, dürfte dafür die Nachfrage der Kinos nach deutschen Filmen ausschlaggebend gewesen sein, «weil die Mehrzahl der Kinos in der deutschsprachigen Schweiz damals fast ausschliesslich deutsche Filme vorführten» (W. Sautter, «Film und Filmwirtschaft in der Schweiz»). Der Zürcher Kinovertreter Ernst Schwegler jedenfalls verband im Oktober 1940 in einer Filmkammer-Ausschuss-Sitzung den Aufruf, dass «die Interessen der Kinobesitzer unbedingt mitberücksichtigt werden müssen» mit einer Prognose, die durchscheinen lässt, wie wichtig der deutsche Film damals für die Schweizer Kinos war: «Auf alle Fälle muss der unabhängige Filmverleiher seinen Platz in Zukunft mehr und mehr auf dem deutschen Markt finden», das heisst im Geschäft mit deutschen Filmen.

Uneinheitliche Zensur während des Kriegs

Mit Kriegsbeginn führte der Bundesrat am 8. September 1939 die Zensur ein, die auch für die «belichteten kinematographischen Filme jeder Art» galt. Damit beauftragt war die Abteilung Presse und Funkspruch im Armeestab; deren Sektion Film Sautter von 1939 bis 1942 vorstand. Die Zensur sorgte dafür, dass die schlimmsten Propagandafilme wie Veit Harlans Jud Süss (1940), Herbert Selpins Carl Peters oder Ucickys Heimkehr (beide 1941) dem Schweizer Publikum erspart blieben. Streng um politische Ausgewogenheit bemüht, verbot sie aber auch US-Filme wie Charles Lamonts When Johnny Comes Marching Home oder den alliierten Dokumentarfilm Desert Victory. Sergej M. Eisensteins Alexander Newsky wurde nach anfänglichem Verbot aufgrund eines Rekurses freigegeben. Selbst zuvor in der Schweiz schon gezeigte Filme wurden aus dem Verkehr gezogen, wie Willi Forsts als antifranzösisch empfundener Bel Ami (1939) oder antimilitaristische Filme wie J’accuse von Abel Gance (1938).

Was die Zensur andrerseits an Propagandistischem durchliess, erhellt ein Brief, den ein in Berlin als Geschäftsmann tätiger Auslandschweizer im August 1941 anlässlich einer Reise in die Schweiz und eines hiesigen Kinobesuchs an das Armeekommando schrieb. Er zeigte sich entsetzt von der im Kino gezeigten UFA-Wochenschau, «der man eine Zensurierung durch eine freie, neutrale, unverblendete Zensurbehörde der Armee (sie ist es doch noch?) nicht anmerkt». Und er fragte: «Weshalb räumt man der nationalsozialistischen Propaganda jenen Platz ein, der von der anderen kriegführenden Partei als Verzicht auf Neutralität gedeutet werden kann?» (Brief von Dr. A. Landoldt, 29. 8. 1941)

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Paracelsus (G.W. Pabst 1943)

Prekäre Beschaffungslage

Die Kontingentierung erreichte den angestrebten wirtschaftlichen Zweck nur bedingt: Einflussreiche Branchenvertreter beklagten, dass «der Einfluss der grossen [das heisst amerikanischen und deutschen] Filmtrusts steigt (...), was die unabhängigen Filmverleiher» in eine «prekäre Lage» bringe (Sitzungsprotokoll des Ausschusses für filmwirtschaftliche Fragen, 15. 10. 1940). Mit dem deutschen Einmarsch in Frankreich war eine zusätzliche Verknappung des Filmangebots in der Schweiz eingetreten. Besonders für die Kinos in der Romandie wurde die Situation dramatisch: Es fehlten nicht nur neue französische Filme, sondern auch bisher aus Frankreich bezogene Synchronversionen der US-Filme. Allerdings füllten die deutschen Firmen diese Marktlücke bald mit französischen Synchronversionen deutscher Filme. Erst durch den kriegsbedingten Produktionsrückgang wurde die starke Präsenz des deutschen Films in den Schweizer Kinos gedämpft.

Andererseits konnte auch das US-Kino nicht dominieren. Aufgrund der Zensurkriterien verzichteten die Verleiher offenbar darauf, die eigentlichen Anti-Nazi-Filme aus Hollywood in der Schweiz zu präsentieren. Ohnehin war die Einfuhr von Filmen aus den USA stark gefährdet. In den ersten Kriegsjahren wurden die Kopien nach Spanien oder Portugal verschifft, doch im August 1942 stoppte die Vichy-Regierung den Transit der Kopien. Trotzdem wurden die Schweizer Kinos weiterhin mit US-Filmen versorgt. Aufgrund der Aktenlage kaum belegbar, aber aus verlässlicher Quelle kolportiert ist die Version, dass die Schweizer Filmwirtschaft schliesslich einen Exponenten des italienischen Regimes bestochen habe, damit die Kopien via Genua in die Schweiz gelangen konnten. Erst als diese Transitroute von der deutschen Wehrmacht unterbrochen wurde, versiegte der Nachschub bis zur deutschen Kapitulation in Oberitalien, sodass 1944 nur gerade 14 neue US-Produktionen in die Schweizer Kinos kamen.

Zumindest die unabhängigen Verleiher wollten mit der Kontingentierung zudem «Zufallsimporteure» ausschalten, das heisst jede nur fallweise oder nebenbei ausgeübte Import- und Verleihtätigkeit. Ob dabei der Kampf gegen mangelnde Seriosität im Vordergrund stand oder reines Konkurrenzdenken, sei dahingestellt. Dass die staatliche Regelung den Kreis der zugelassenen Filmverleiher limitierte, bildete jedenfalls eine wesentliche Grundlage für die Etablierung einer kartellistischen «Schweizerischen Filmmarktordnung» (festgeschrieben im «Interessen-Vertrag» vom 31. 5. 1939). Indem sie die Geschäftsbeziehungen exklusiv zwischen den Mitgliedern des Filmverleiherverbandes und jenen der Kinoverbände zuliess, konnten Verleiher wie Kinobesitzer Aussenseiter und unwillkommene Eindringlinge aus ihrem Geschäftsfeld ausschliessen.

Gegen den Einfluss des Kommunismus

In der Nachkriegszeit geriet die dirigistische Politik des Bundes zur Kontrolle der wirtschaftlichen Aussenbeziehungen mehr und mehr in die Kritik. So nahmen die Stimmberechtigten am 11. September 1949 gegen den Willen des Bundesrats eine Initiative «für die Rückkehr zur direkten Demokratie» an, die dem Regime der «dringlichen Bundesbeschlüsse» ein Ende setzte. Damit war auch den Filmeinfuhrvorschriften die bisherige Rechtsbasis entzogen, und die Branchenverbände wurden erneut aktiv.

Die Aufnahme des Films als Artikel 27ter in die Bundesverfassung schuf am 6. Juli 1958 nicht nur eine Grundlage für die Filmförderung, der Bund erhielt auch die Kompetenz, «Vorschriften zur Förderung der Vielfalt und der Qualität des Filmangebots» zu erlassen. Mit dem Bundesgesetz über das Filmwesen vom 28. September 1962 hat er davon ganz im Sinne der Branche Gebrauch gemacht und die Filmkontingentierung ins ordentliche Recht überführt. So gelang es schliesslich, eine Massnahme fortzuschreiben, «die mittelbar zwar gewichtigen staats- und kulturpolitischen Interessen, unmittelbar jedoch den ökonomischen Interessen der unabhängigen Filmverleiher dient» (Bundesrat Philipp Etter am 24. 10. 1952 in einem Brief an den Schweizerischen Filmverleiher-Verband).

Hatte auf der politischen Ebene in den dreissiger Jahren der Einfluss der Achsenmächte als Alibi für diese Form der Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen herhalten müssen, war es in der Zeit des Kalten Kriegs die Angst vor ideologischer Unterwanderung aus dem Osten. So argumentiert etwa Prof. Hugo Sieber 1958 in einer (wohl von der Branche in Auftrag gegebenen) Studie über Auswirkungen, die bei einem Wegfall von Einfuhrkontingentierung und Filmmarktordnung zu erwarten wären. Er warnt nicht nur vor einer drohenden «Senkung der durchschnittlichen Programmqualität», sondern fügt an: «Neutralitäts- und staatspolitisch wäre eine solche Entwicklung selbst in ausgesprochenen Friedenszeiten nicht ganz unbedenklich, unter den heutigen politischen Verhältnissen jedoch geradezu gefährlich.» Ja, es könnte sogar «ein wesentlicher und zunehmender Teil des für die ideologische Massenbeeinflussung so viele Möglichkeiten bietenden Kinoparks in ausländische Hände» geraten ...

Welche Gefahr Sieber meinte, war für den zeitgenössischen Leser klar: Am 14. November 1956, eine gute Woche nach dem sowjetischen Einmarsch in Ungarn, stellte der Vorstand des Schweizerischen Lichtspieltheater-Verbandes fest, dass «dank der bestehenden privatwirtschaftlichen Ordnung des schweizerischen Filmwesens der Film kommunistischer Herkunft in der Schweiz keine Rolle spielt. Er appelliert mit Nachdruck an seine Mitglieder, auch in Zukunft dafür zu sorgen, dass überhaupt kein Meter dieser Filme mehr vorgeführt wird.» («Schweizer Film Suisse», Nr. 11/1956) Ganz anders als in den dreissiger Jahren den Achsenmächten gegenüber fand jetzt in den Kinos tatsächlich eine Abgrenzung gegen Osten statt – zumindest bis 1958 der sowjetische Film Wenn die Kraniche ziehen von Michail Kalatosow in Cannes die Goldene Palme gewann und damit kommerziell attraktiv wurde. Die Ursache der Ängste der sich ans Kontingent klammernden Branche lag ohnehin nicht im Osten, sondern bei der west-ausländischen Konkurrenz.

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Letjat schurawil / Wenn die Kraniche ziehen (Michail Kalatosow 1957)

Auf dem Weg zur totalen «Liberalisierung»

Ideologische Abwehr und das Ausschalten wirtschaftlicher Konkurrenz gingen einmal mehr Hand in Hand, als in den siebziger Jahren der «Neue Schweizer Film» erstarkte. Angesichts dieser unter pauschalem Linksverdacht stehenden Produktionen diente die Filmmarktordnung nun dazu, deren Direktverleih durch die Produzenten an die Kinos zu verhindern. Nach langwierigen Verhandlungen und ernüchternden Erfahrungen mit unbefriedigenden Zwischenlösungen reichte der Verband Schweizerischer Filmgestalter schliesslich beim Berner Handelsgericht eine Boykottklage gegen die Verbände der Verleiher und Kinos ein. Der Prozess zog sich fast vier Jahre hin, wurde phasenweise bis vor Bundesgericht ausgetragen und endete Anfang 1980 mit einem Urteil des Berner Handelsgerichts zugunsten der Kläger. Nachdem sich die Kinos schon vor dem Ende des Prozesses zurückgezogen hatten, verzichtete schliesslich auch der Verleiherverband, in dem inzwischen ein Generationenwechsel stattgefunden hatte, auf einen Weiterzug des Urteils. Der Konflikt hatte ohnehin evident gemacht, dass die kartellistische Ordnung der Branche den öffentlichen kulturpolitischen Interessen zuwiderlief und dass sie im Fall eines Rechtsstreits nicht mehr zu halten war.

Die Einfuhrkontingentierung kam zudem durch die technische Entwicklung ins Wanken: Die neuen elektronischen Aufzeichnungstechniken und Speichermedien machten eine gesetzliche Regelung, die sich am physischen Träger Filmmaterial orientierte, obsolet. Auch unter dem international wachsen- den Druck zur Abschaffung von Handelsbarrieren beschäftigte man sich beim EDI mehr und mehr mit einer Revision des Filmrechts: mit Diskussionen in der Eidgenössischen Filmkommission (der Nachfolgerin der einstigen Filmkammer), mit einer ad hoc eingesetzten Expertengruppe, schliesslich einer breit angelegten Vernehmlassung.

Ein konkreter Konfliktfall erwies sich als Prüf- und Stolperstein für die alte Kontingentsordnung: Der US-Konzern Disney/Touchstone hatte beschlossen, den Vertrieb seiner Produktionen weltweit der Firma Warner Bros. anzuvertrauen. In der Schweiz waren seine Filme bis dahin von der unabhängigen Verleihfirma Park-Film in Genf vertrieben worden. Da die Schweizer Warner-Filiale mit den Filmen ihres Mutterhauses bereits das ihr zugeteilte Einfuhrkontingent ausschöpfte, war sie für den Verleih der Disney-Filme auf eine Aufstockung angewiesen. Damit drohte genau jene Entwicklung, die das geltende Filmgesetz verhindern wollte.

«Die Schweiz hat sich als Bananenrepublik erwiesen. Es standen die Landerechte der Swissair in Atlanta gegen den Disney-Handel; unsere Botschaft in Washington wurde überrannt von den Amerikanern und hat getreulich nach Bern berichtet. Wie das Bundesamt für Aussenwirtschaft sich zum Anwalt von Disney/Touchstone gemacht und diese mit Argumenten gegen das EDI beliefert hat, das war ein staatspolitisches Lehrstück.» (Marc Wehrlin als abtretender Präsident des Schweizerischen Filmverleiher-Verbands im «Cinébulletin», Nr. 183/184, Dezember 1990) Mit diesem Einknicken in einem Kernpunkt war das Ende der Einfuhrkontingentierung für Film eingeläutet. (Ironie der Geschichte: Atlanta war eine der ersten Destinationen, die die Swissair, als sie in die Krise geriet, aus ihrem Flugplan strich.)

Im Zuge der internationalen Bestrebungen zum Abbau von Handelshemmnissen (OECD, GATT) war die Schweizer Filmkontingentierung ohnehin unter Beschuss vonseiten der USA geraten. Im Juli 1990 eröffnete das EDI daher eine Vernehmlasssung zur Revision des Filmrechts. Wie sehr die unterschiedlichen Interessen der Branche aufeinanderprallten, zeigte sich im Filmverleiher-Verband. Eine ausserordentliche Generalversammlung versenkte einen vom Vorstand ausgearbeiteten Vernehmlassungsentwurf, der die Interessen der unabhängigen Verleiher hätte wahren sollen, und ersetzte ihn unter Federführung der US-Majors durch eine Stellungnahme, die die ersatzlose Abschaffung der Kontingentierung und die Zulassung ausländischen Kapitals forderte – also die totale «Liberalisierung» des Handels mit der Ware Film.

Förderung von «Vielfalt und Qualität des Angebots»

Der Kinoverband war im Prinzip nicht gegen eine Deregulierung, forderte aber staatliche «Massnahmen, die geeignet sind, den Wettbewerb aufrechtzuerhalten und eine gleichmässige Versorgung aller Sprachregionen der Schweiz mit Filmen sicherzustellen». Dagegen verlangte der Schweizerische Verband der Filmjournalisten, das neue Filmrecht sei daran zu messen, ob es «bezüglich der Förderung des einheimischen Filmschaffens einerseits und bezüglich der Erhaltung der Angebotsvielfalt auf dem Filmmarkt andrerseits mindestens so viel leistet wie das bisher geltende».

In zwei Teilbereichen liessen sich wirtschaftliche und kulturpolitische Erwägungen schliesslich weitgehend zur Deckung bringen: Zum einen galt es, die Vielfalt der Filmanbieter und damit des Angebots zu erhalten. Zum anderen sollte die neue gesetzliche Regelung die Einheit des Verleihterritoriums Schweiz bewahren, das heisst verhindern, dass die Verleihrechte jeweils nach Sprachterritorien verkauft und die Schweizer Sprachregionen dadurch zu Anhängseln des deutschen, französischen oder italienischen Verleihmarkts würden.

Das Filmgesetz von 1962, das «die Filmeinfuhr und den Filmverleih unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der Selbständigkeit des schweizerischen Filmwesens gegenüber dem Ausland» regelte, ermächtigte den Bundesrat, die Kontingentierung aufzuheben, sofern dieser Grundsatz «durch andere Massnahmen (...) verwirklicht werden kann». Dreissig Jahre später legte man diesen Artikel sehr grosszügig aus und setzte die Kontingentierung mit einer Neufassung der Filmverordnung (24. 6. 1992) ausser Kraft. An die Stelle der Einfuhrbewilligung trat eine generelle Verleihbewilligung und die Pflicht, alle verliehenen Filme zu melden. Eine Verleihbewilligung sollte erhalten, wer «die Unabhängigkeit des Filmverleihs und der Filmvorführung in der Schweiz weder gefährdet noch beeinträchtigt» und «eine selbständige Zusammenstellung des Verleihprogramms gewährleistet». Verleihern, die diesen Vorgaben nicht (mehr) entsprachen, konnte im Prinzip die Bewilligung entzogen werden. Konkretere Massnahmen sah die Verordnung nicht vor.

Schliesslich kam am 14. 12. 2001 eine Neufassung des Filmgesetzes zustande, die ganz von der Kontingentierungsidee Abschied nahm. Politisches Seilziehen hat wiederum einen Text hervorgebracht, der wirtschaftliche Interessen in schöne kulturelle Worte zu kleiden weiss: «Dieses Gesetz soll die Vielfalt und Qualität des Filmangebots sowie das Filmschaffen fördern und die Filmkultur stärken.»

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Ohm Krüger (Emil Jannings 1941)

US-Filme: Ein Drittel der Filme generiert zwei Drittel der Eintritte

Die Qualität des Filmangebots entgeht – weil verbindliche Massstäbe offenbar fehlen – jeder Kontrolle und statistischen Erfassung; lediglich Vielfalt in geografischer Hinsicht wird erfasst. Diese hat sich auf den ersten Blick beeindruckend entwickelt: War der Anteil der US-Produktionen an den Erstaufführungen zwischen 1982 und 1992 nach und nach auf rund 60 Prozent geklettert, betrug er im Durchschnitt der Jahre 1995 bis 2014 nur noch knapp ein Drittel (Bundesamt für Statistik, www.bfs.admin.ch). Ganz anders sieht das Bild bei den Kinoeintrittszahlen aus: Da holten sich die US-Filme in den letzten 20 Jahren fast zwei Drittel – wenn auch mit beträchtlichen jährlichen Schwankungen. Leider gibt es für den Marktanteil keine Vergleichszahlen der Jahre vor der Aufgabe der Kontingentierung. Überhaupt ist die Zahlenbasis zu lückenhaft, um verlässliche Aussagen über die Konsequenzen des Systemwechsels zu ermöglichen.

Nach Einschätzung der Verleiherin Monika Weibel (Frenetic Films) hat sich die Aufhebung der Kontingentierung nicht unmittelbar auf das Filmangebot in der Schweiz ausgewirkt. Zusammen mit der ihr folgenden Abschaffung der interverbandlichen «Filmmarktordnung» habe sie jedoch eine klare Signalwirkung gehabt: Jetzt können alle! Tatsächlich tauchten in der Folge zahlreiche kleinere Verleiher und Verleihableger von Schweizer Filmproduzenten auf dem Markt auf.

Zum Verhältnis zwischen dem Angebot der unabhängigen Verleiher und jenem der Filialbetriebe ausländischer Firmen fehlen leider Vergleichszahlen aus früheren Jahren. Zählt man für die letzten zwölf Jahre die Marktanteile der vier marktbeherrschenden Schweizer Filialen von US-Majors zusammen, ergibt sich im Schnitt ein Löwenanteil von 61,27 Prozent. Dieser Wert weicht – mal nach oben, mal nach unten – von jenem der US-Filme ab, weil einerseits auch unabhängige Verleiher US-Produktionen anbieten, andererseits die amerikanischen Filialen neben den Produktionen der Mutterhäuser auch auf dem freien Markt zugekaufte Filme verleihen. Jedenfalls gilt die Feststellung in der Botschaft des Bundesrats zum Filmgesetz (18. 9. 2000) weiterhin: Ein grosser Teil des Schweizer Markts befindet sich «in den Händen der weltweit tätigen US-amerikanischen Filmunternehmen».

Hohes kulturelles Niveau dank Fördergeldern

Bis anhin scheint es weitgehend geglückt zu sein, ein vielfältiges Filmangebot zu bewahren und auch das Prinzip eines einheitlichen Verleihterritoriums zu verteidigen. Letzteres wurde durch die eidgenössischen Räte in der Sommersession 2015 sogar noch ausgeweitet, sodass es neu nicht nur für die Kinoauswertung, sondern auch für «die weitere Werknutzung» (VoD, DVD und so weiter) gilt.

Wurden früher die kulturpolitischen Interessen durch Vorschriften gewahrt, die die Freiheit der Marktteilnehmer einengten, sind an deren Stelle heute finanzielle Anreize getreten: Das Filmschaffen und die Auswertung von Schweizer Filmen wird unter anderem durch eine «erfolgsabhängige» Förderung unterstützt, dazu wird der Verleih von Arthousefilmen und die Angebotsvielfalt in den Kinos gefördert. Unter dem Kontingentsregime haben die privatwirtschaftlichen Verleih- und Kino- betriebe einen wesentlichen Beitrag zur Filmkultur gewissermassen nebenbei geleistet, ohne dass es die Öffentlichkeit etwas gekostet hätte. Das neue Gesetz stipuliert zwar die Angebotsvielfalt als grundsätzliches Ziel; im deregulierten Markt ist ein dem früheren Zustand entsprechender kultureller Effekt letztlich jedoch nur um den Preis erheblicher öffentlicher Mittel zu haben.

Dabei seien, meint Hélène Cardis (Pathé Films) im Gespräch, allerdings noch weitere Veränderungen zu berücksichtigen: Das Filmangebot habe sich weltweit in den letzten Jahrzehnten enorm ausgeweitet. Eine Einfuhrkontingentierung hätte sich ohnehin als Hindernis erwiesen, das gewachsene Angebot dem Schweizer Publikum zugänglich zu machen, und hätte schon deshalb nicht mehr lange Bestand haben können. Zugleich sei die Konkurrenz um die Aufmerksamkeit des Publikums härter und kostspieliger geworden. Das enge den Spielraum der Verleiher ein, sich auch einmal einen wirtschaftlich schwächeren, aber kulturell wertvollen Film im Programm zu leisten.

Monika Weibel beklagt, dass die Stellung der europäischen Produktionen auf dem europäischen Kinomarkt trotz der einschlägigen Fördermassnahmen nicht wirklich gestärkt worden sei. Das Problem sieht sie primär in der Produktion: Um die teuren Projekte zu finanzieren, brauche es viele, die Ja sagen, besonders aus den Fördergremien, den Fernsehanstalten und den Koproduktionsländern. Dass so viele Stimmen konvergieren müssen, führe zwangsläufig zu einer Nivellierung nach unten. Es würden nicht zu viele Filme produziert, sondern zu viele beliebige. Die wirklich profilierten Projekte litten dagegen oft an einer Unterfinanzierung.

Niemand kann wissen, wie die Schweizer Verleih- und Kinolandschaft ganz ohne staatliche Regeln aussähe – oder umgekehrt mit strikteren Vorgaben. Unübersehbar ist jedoch, dass jene Filmverleiher und Kinos, die «die Vielfalt und Qualität des Filmangebots» gewährleisten, in hohem Mass von Fördergeldern abhängig geworden sind.

Im Hinblick auf die Abstimmung über den EWR-Beitritt vom 6. Dezember 1992 hatte die Filmverordnung vom Juni 1992 bereits festgehalten, dass nach dem Beitritt Filme und Personen aus EWR-Mitgliedstaaten gleich zu behandeln wären wie einheimische. Dieser Schritt in Richtung Marktöffnung hat zwar nicht stattgefunden, doch ist absehbar, dass die letzten noch bestehenden Schutzmassnahmen angesichts des allgemeinen Globalisierungstrends künftig einen schweren Stand haben werden. Immer stärker tobt der Streit zwischen dem Wirtschaftsstandpunkt, der im Film primär eine frei handelbare Ware sieht, und einer kulturellen Optik, für die der Film ein vor brutalen Marktmechanismen zu schützendes geistiges und künstlerisches Werk darstellt.

Martin Girod

Text

filmbulletin.ch

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