Es stimmt nicht, dass in der Schweiz keine Filme mehr gemacht werden, aber immer weniger Zuschauerinnen nehmen sie zur Kenntnis, trotz weiterhin wohlwollender Unterstützung der einheimischen Produktion durch die Presse. International versinkt der Schweizer Film wieder in der Bedeutungslosigkeit; das Land verschwindet von der Weltkarte. Ein geradezu gespenstisches Bild des allmählichen Verstummens nach dreissig Jahren direkter Rede hat dieses Jahr der (kostspielige) Auftritt des Schweizerischen Filmzentrums am Festival von Cannes abgegeben. Die vier Mitarbeiter Innen des Filmzentrums hatten schlicht und einfach nichts, nicht einmal minoritäre Koproduktionen, zu vertreten. Sie verkörperten gerade noch zur Not den Wunsch, mit Filmen am internationalen Austausch von Bildern und Tönen (und von dem, was sie repräsentieren) teilnehmen zu können. Ihr Messestand war von geradezu monumentaler Bedeutungslosigkeit und Leere; nicht einmal mehr gut gestaltete Plakate wiesen auf Filme hin, die von der internationalen Kulturindustrie zu Unrecht übergangen worden waren und die doch ihre Aufmerksamkeit verdienten. Wenn ich mich richtig erinnere, hingen zwei A2-Plakate von Christoph Schaubs Rendez-vous im Zoo und von Fritz Kappelers Ballade vom Schreiben aus. Das Filmzentrum hielt nur noch den Platz warm für spätere, bessere Zeiten; es behauptete mit einem Empfang und einem bescheidenen Informationsdesk in einem Strandrestaurant, dass es die Schweiz filmisch noch gibt. Aus Kostengründen hat es sich mit Oesterreich weniger glücklosen Festivaldelegation zu ammengetan. Da stand man dann und erzählte sich von neuen Filmen aus dem Iran und aus Taiwan, aus Kanada und Norwegen. Kinofilm ist erneut zu etwas geworden, was die anderen haben, was wir für unsere Festivals und für die Kinoauswertung brauchen können und einladen oder kaufen müssen; es ist wieder wie mit den Autos, mit den Flugzeugen und mit den Südfrüchten.
Das Produktionsvolumen ist zwar von 1993 auf 1994 drastisch gesunken, von 39,6 Mio. Schweizer Franken auf 20,7 Mio., doch entsprechen diese 20 Millionen noch immer fünfzehn Spielfilmen (35mm), neun Dokumentarfilmen (16mm) und drei grösseren Videoproduktionen.
Die kleinen Filme sind in der Statistik nicht berücksichtigt. Sie rechnet im wesentlichen ausschliesslich mit den «professionellen Produktionen». Hätten sie alle etwas zu zeigen und zu sagen, gäbe es das Filmland Schweiz noch, im In- und Ausland.
Man macht es sich zu leicht, wenn man die Gründe für den Bedeutungsschwund der schweizerischen Filmproduktion ausschliesslich in infra strukturellen Mängeln sucht: der Nichtzugehörigkeit zu EU und EWR und dem damit verbundenen Ausschluss aus dem europäischen MEDIA-Programm, dem Auslaufen des Koproduktionsabkommens mit Frankreich, der liberalistischen Öffnung des schweizerischen Markts für alle Filme, die auf ihn drängen, der Reduktion des Koproduktionsbudgets und der Kürzung des Filmförderungsbudgets des Bundes, des Budgets von Pro Helvetia. Es ist nicht zu leugnen, dass verschlechterte Rahmenbedingungen, zu denen wesentlich auch die steigenden Herstellungskosten gehören, die Filmproduktion noch einmal schwieriger gemacht haben. Es ist auch nichts einzuwenden gegen alle Bemühungen, die infrastrukturellen Handicaps zu beseitigen, im Gegenteil.
(Bild: Hyènes)
Aber man muss ebenso vor falschen Hoffnungen und Behauptungen warnen. Es ist keineswegs so, dass Filme automatisch besser werden, wenn bloss einmal die Strukturen optimiert sind. Die «Assisen» des Schweizer Films im vergangenen Jahr und verschiedene Zeitungsdiskussionen in diesem Jubeljahr des Kinos sowie vor der 30. Ausgabe der Solothurner Filmtage – beispielsweise jene im TagesAnzeiger und in der Basler Zeitung – haben diesen Trugschluss mehr oder weniger verdeckt propagiert und grenzten zum Teil an Augenwischerei. Es ist anzunehmen, dass die beteiligten Filmemacherinnen aus Angst, sparwütige Parlamentarier zu ermuntern, Selbstkritik vermieden und sich noch immer als die grossen Versprechen geschildert haben, welche die öffentliche Hand nur mutig einzulösen brauche. Doch die Analyse darf eigentlich so selbstschonend nicht sein, wenn sie neue Einsichten ermöglichen soll. Sie muss beispielsweise die Praxis der Filmförderung ebenso durchleuchten wie die Filmideen und -konzepte, die in diesem Land zurzeit entstehen und sowie dem Fernsehen als auch den Förderungsanstalten vorgelegt werden.
Eine gewisse Erbarmungslosigkeit gehört zu jeder Analyse. Fragen wir uns also weiter, welche Filme in den letzten drei Jahren eine gewisse auch internationale Kinoverbreitung gefunden haben: Hyènes von Djibril Diop Mambety, Die blaue Stunde von Marcel Gisler, Hors saison von Daniel Schmid, L'homme qui a perdu son ombre von Alain Tanner, I was on Mars von Dani Levy, Il ladro di bambini von Gianni Amelio im Jahr 1992, Hélas pour moi von Jean-Luc Godard, Tectonic Plates von Peter Mettler, Un'anima divisa in due von Silvio Soldini, Le journal de Lady M. von Alain Tanner, Le petit prince a dit von Christine Pascal, Donusa von Angiliki Antoniou, Trois couleurs: Blanc und Bleu von Krysztof Kieslowski, Le val Abraham von Manoel de Oliveira im Jahr 1993, L'ecrivain public von Jean-Francois Amiguet, Lou n'a pas dit non von Anne Marie Mieville, Mouvements du désir von Lea Pool, Der Kongress der Pinguine von Hans-Ulrich Schlumpf, Grossesse nerveuse von Denis Rabaglia, J'ai pas sommeil von Claire Denis, Picture of Light von Peter Mettler, Tschäss von Daniel Helfer, Une nouvelle vie von Olivier Assayas, Il sogno della farfalla von Marco Bellocchio, Barnabo delle montagne von Mario Brenta, La naissance de l'amour von Philippe Garrel, Trois couleurs: Rouge von Kieslowski, Personne ne m'aime von Marion Vernoux im Vorjahr. Der geneigte Leser merkt etwas: Kieslowski und Garrel, Godard und Oliveira können «unseren Film» nicht machen. Wahrscheinlich fehlen in dieser Aufzählung ein paar wenige auch im engeren Sinne schweizerische Werke, aber keines von der Bedeutung von, sagen wir einmal, Caro diario (Nanni Moretti), Oublie-moi (Noernie Lvovsky) oder Regarde les hommes tomber (Jacques Audiard), La sentinelle (Antoine Deplechin) und so weiter – ich nenne nur Filme, die produktionstechnisch auch in der Schweiz möglich wären.
Es geht gar nicht darum, diesen oder jenen Film, der in den letzten Jahren in diesem Land entstanden ist, «schlecht zu machen». Doch Erfahrungen wie Holozön, Kinder der Landstrasse, Der grüne Heinrich, Geteilte Nacht, Punch, Wachtmeister Zumbühl müssten an sich auch dazu dienen, Lehren zu ziehen, die Situation grundsätzlich zu überdenken. Diese Filme mit genügendem bis komfortablem Budget haben zu wenige Zuschauerinnen interessiert und zuviele unter den wenigen enttäuscht oder gar wütend gemacht.
(Bild: Mouvements du désir)
Die Fernsehproduktion Ein klarer Fall von Rolf Lyssy, die noch vor den Ausstrahlungen auf die Leinwände kam, hat ziemlich genau tausend Kinoeintritte erzielt. Das ist ein überdeutliches Zeichen; man darf es nicht «erklären» mit dem guten Wetter (diees Jahr schon gar nicht), mit Fehlern bei der Lancierung oder mit der schlechten Presse (sie war zurückhaltend positiv) und was der anderen Ausreden noch sind.
Eine Schande sind solche Misserfolge nur, wenn niemand eine Lehre daraus zieht. Die Lehre, die verschiedene Gremien und die Suissimage Mitte der achtziger Jahre gezogen haben, betraf die mangelnde Qualität der Drehbücher. Scriptarbeit ist in den letzten zehn Jahren mit Millionen gefördert worden. Kurse sind organisiert worden, Script Doctoring finanziert, projektbezogene Subventionen ausbezahlt, von Bund, Kantonen, von Suissimage, von Städten, Stiftungen, vom Fernsehen. Aber, die Frage sei erlaubt und gestellt: Wo sind die besseren Drehbücher geblieben? Und wenn sie entstanden sind, haben sie zu besseren Filmen geführt? Oder ist der Aufschwung erst in ein paar Jahren zu erwarten? Wann greift ein Drehbuchförderungsprogramm erfahrungsgemäss? Oder gibt es gar keine Erfahrungswerte? Ist das alles hypothetisch, spekulativ?
Wahrscheinlich liegen die Ursachen der nun schon einige Jahre anhaltenden Schweizer Kinofilmkrise tiefer als bei angeblich schlecht gedachten und konstruierten Drehbüchern. Sagen wir doch einmal grob und pauschal: dem Schweizer Kinofilm fehlt es an Stoffen. Die tatsächliche oder angebliche Isolierung des Landes von der Welt hat zu einer verhängnisvollen Unsicherheit und Ratlosigkeit geführt. Anstatt sich von ihr zu befreien, in einer meinetwegen willkürlichen Welt-Schöpfung, wird die Orientierungslosigkeit zum Thema gemacht. Dabei befinden sich die FilmemacherInnen in der guten Gesellschaft eines bedeutenden Teils der zeitgenössischen Literatur, die ihre besten Momente in der skrupulösen und minuziösen Introspektion hat, in der ebenso facettenreichen wie selbstquälerischen Untersuchung des Realitätsbegriffs, des Un- und Unterbewussten sowie der Körperlichkeit als einziger Gewissheit.
Das Kino allerdings, aber das scheinen einige AutorInnen nicht begriffen oder nicht wahrhaben zu wollen, muss den «Umweg» über das Aussen machen, um ins Innen zu gelangen. Das hat vor dreissig Jahren sogar der innerlichste aller Schweizer Filmautoren, Michel Soutter nämlich, akzeptiert. Er hat sich mit einem Minimum von Welt begüngt, aber dieses Minimum ist von innen her beleuchtet worden. Genfs Stadtrand beispielsweise ist in Soutters Filmen nicht bloss ein zufälliges Dekor (weil man ja irgendwo drehen musste), sondern ist Teil des Stoffes, der nicht weniger innerlich gewesen ist als etwa jener von Pius Morgers Geteilte Nacht. Dieser (drehbuchgeförderte, drehbuchgedoktorte) Film scheint mir den Grundirrtum der verzagten KinofilmautorInnen in geradezu paradigmatischer Weise vorzuführen mit seiner gequälten Dialogen und seiner hilflosen Konzentration auf Grossaufnahmen von ganz wenigen Haupt- und keinen Nebenfiguren.
(Bild: Step across the Border)
Ein äusserst labiles Gleichgewicht von vorhandenen individuellen Begabungen, kulturpolitischem Konsens, vorsichtig-zögerlicher öffentlicher Förderung, eingehender öffentlicher Auseinandersetzung und solidarischen Interesses, wie es in den siebziger Jahren existiert hat, ist seit Mitte der achtziger Jahre in sich zusammengestürzt. Weder den Produzenten, die in der Schweiz ohnehin nur öffentliche Gelder und Fernsehrechtsabgeltungen verwaltet haben, noch den verschiedenen Förderungsinstitutionen und schon gar nicht den einschlägigen Fernsehredaktionen und der schweizerischen Kulturstiftung Pro Helvetia (die ja nicht nur für den internationalen Kulturaustausch zuständig ist), auch nicht dem Schweizerischen Filmzentrum, das zu einem Dienstleistungsbetrieb verkam, ist es gelungen, die Kontinuität zu halten, als die ersten Zeichen der Krise sich abzeichneten. Allen fehlte es an einem kulturpolitischen Standpunkt; die Formel von der Notwendigkeit eines eigenen Filmschaffens ist in den Mündern der Nach-Vietnam-Generation zu einer reinen Floskel geworden, und es ist zu befürchten, dass die Parole von der Offenheit gegenüber der Welt auch schon eine ist. Der Schweizer Film ist wieder provinziell geworden. In jeder Kleinstadt werkeln Liebhabergruppen an Projekten, die mit Sicherheit nur im Horizont von Liebhaberaufführungen öffentlich werden. Und in Genf, Lausanne, Bern, Basel und Zürich gibt man sich auch schon mit wenig zufrieden.
Wenn wenigstens diese Zahlen stimmen, haben Bund, Kantone und Gemeinden 1993 zusammen 28,6 Millionen Franken in Film und Video investiert; dazu wären rund 10 Millionen Franken von SRG, von der Verwertungsgesellschaft Suissimage, von Stiftungen und Kirchen zu rechnen. Zählen wir, kühl, grob geschätzte 5 Millionen unbezahlte Löhne und 2 Millionen einmalige grossherzige Zuwendungen dazu, ist diesem Land die Filmkultur (im engeren Sinne) rund 45 Millionen Franken wert gewesen. Man darf annehmen, dass rund 60 Prozent direkt in die Filmproduktion geflossen sind; das wären 28 Millionen. Die Frage an die schweizerische Filmszene nach dem Gegenwert darf gestellt werden. (Der Verfasser hat sie sich auch selber gestellt mit 80 000 Franken SRG-, Bundes- und Spcnsorenbeitragen für die Herstellung und die Promotion eines knapp «abendfüllenden» Essayfilms, und er hat sich bei acht Festivalpräsentationen, 4300 Kinoeintritten im Inland und 300 im Ausland, 25 Clubaufführungen, drei Filmwochenbeteiligungen und drei Fernsehausstrahlungen keine beruhigende Antwort geben können. Ein schwacher Trost für ihn sind Schweizer Filme, die bei einer solchen Kosten-Nutzen-Rechnung noch wesentlich schlechter abschneiden, so schlecht, dass nun wirklich keine kulturelle Argumentation die kommerzielle mehr ins Unrecht versetzen kann. Wenn, wie die Association romande de cinema – allerdings mit zum Teil nicht über alle Zweifel erhabenem statistischem Material – errechnet hat, dass an jeder gekauften Eintrittskarte für Leo Kanemans Pierre qui brûle 3370.79 Franken und an jeder Karte für Heinz Bütlers und Manfred Eichers Holozän immerhin noch 355.93 Franken aus der Bundesfilmförderung – andere Sponsoren wurden nicht berücksichtigt – klebten, müssen sich die Produzenten ernsthafte Gedanken machen, das verlangt schon ein normal ausgebildetes soziales Gewissen.)
Auch der Begutachtungsausschuss der Sektion Film im Bundesamt für Kultur muss sich einige unbequeme Fragen gefallen lassen. Wie kommt es, dass er noch immer Übungsfilme, die weder innovativ sind noch Auswertungschancen haben, zur Unterstützung vorschlägt? Dass er also seine beschränkten Mittel nicht konzentriert? Und wie kommt es, dass er, wenn er an sein Limit geht, so wenige Sicherheiten haben will über die Fertigung und Lancierung der substantiell unterstützten Filme?
Oder stehen die Dinge bei diesem Ausschuss noch schlimmer? Sind seine Mitglieder gar nicht in der Lage, Projekte kompetent zu beurteilen? Die Zusammensetzung dieses Expertengremiums ist alles andere als optimal. (Der Schreibende hat in den letzten fünf Jahren dreimal das zweifelhafte Vergnügen gehabt, Argumentationen dieses Ausschusses zu lesen. Sie waren geradezu peinlich, nicht nur, weil es Absagen waren.)
Unter den waltenden Umständen, nach dem evidenten Misserfolg der Förderung bin ich fast bereit, die «automatische Förderung» erwartungsfroh zu begrüssen – sofern ein kompetenter Begutach tungsausschuss auch die Möglichkeit hat, Projekte zur Förderung vorzuschlagen, welche die Kriterien der automatischen Förderung aus triftigen, zwingenden Gründen nicht erfüllen können. Es gilt, ein intelligentes und praxisnahes gemischtes System von Referenz- und Innovationsförderung zu formulieren... und auch transparent anzuwenden. Man wird bei der Ausarbeitung dieses Systems nicht nur auf jene hören dürfen, welche heute die automatische Förderung am lautesten fordern.
Wir sind abgekommen. Die Behauptung lautet: die Krise ist in den Köpfen der Autorlnnen, der Gremienmitglieder, der Kinobranche und des Publikums längst angekommen und daran, sich für längere Zeit niederzulassen. Aller Voraussicht nach haben vir die Talsohle des Schweizer Films noch nicht erreicht.
(Bild: Dreharbeiten zu Arthur Rimabaud – Une biographie)
Eine zeitlang – vielleicht während zehn Jahren – ist auch in der Schweiz der Kinofilm das effiziente Mittel gevesen, um sich auszudrücken. Die Budgets waren lächerlich bis bescheiden, aber erfindungsreiche Autoren haben sie optimal genützt und sind an eine nicht einmal so beschränkte Öffentlichkeit gedrungen. Der Film als Ganzes hat an Attraktivität eingebüsst, auch «dank» den medial breitgeschlagenen Klagen, Auseinandersetzungen, Skandalen, Grabenkämpfen, Händeln mit dem Fernsehen, Nöten. Nur Probleme. Jemand, der etwas zu sagen hat, und der es bald tun will, wählt den Film nicht mehr; er oder sie schreibt ein Buch, gründet eine Band oder eine Zeitschrift, wird Journalistin, oder was weiss ich. In dieser Situation sind die Schulgründungen und die Ankurbelung des, dazu noch einseitig aufs Schreiben ausgerichteten, Kurswesens keine glücklichen Massnahmen. Denn es fehlt ja eigentlich nicht am Knowhow; es fehlt an seiner «organischen» Vermittlung. Erstmals in der Filmgeschichte dieses Landes arbeiten drei Generationen gleichzeitig. Wo bleiben die Synergien? Sie würden zum Leben genügen. Es braucht keine fliegenden Professoren. Eine intensive Beobachtung des Kinos und ein generationenüberschreitender permanenter Diskurs genügen.
Und vielleicht fehlt es auch ganz schlicht an neuen starken Autorlnnen, an jungen kreativen Persönlichkeiten, die trotz schwierigen Verhältnissen ihre Sache – das heisst: ihre Stoffe und ihre Weise, ihn mitzuteilen – im Film und mit dem Film formulieren wollen und können. Wahrscheinlich ist es nicht so, dass in einem Land jederzeit und in jeder Sparte gleichviel schöpferische Potenz vorhanden ist. Zufällig ist die Konzentration einmal besonders hoch gewesen, in der Generation der heute Fünfzig- bis Fünfundsechzigj.hrigen: Soutter (der dieses Jahr 63 Jahre alt würde), Tanner, Goretta, Yersin, Reusser, Moraz, Veuve, Seiler, Murer, Dindo, von Gunten, Schmid, Imhoof, Gloor, Koerfer, Lyssy, Klopfenstein, Schlumpf, und der Pate von fast allen, Jean-Luc Godard. Sie haben Filmtechniker, die es vor ihnen gar nicht gab, mitgerissen und sogar Schau pieler gefunden und geformt, haben sich der Welt und damit auch der kleinen Welt des Kino mutig und generös, sensibel und doch selbstsicher ausgesetzt. Einige haben nicht durchgehalten, zugegeben, aber die meisten sind noch da und haben noch nicht alles gesagt.
Es kann einfach nicht, konzentriert auf eine Sparte der kulturellen Äusserungen, jederzeit so viele au erordentliche Potenzen geben. E gibt keinen kinematographischen Energiesatz; die Summe filmischer Energien in einem Land ist nicht konstant. Es war ebenso falsch, dass die nachrückenden Filmerlnnen die «Alten» als Subventionenfresser mies gemacht haben, wie dass die Filmförderung sich in ein Zahlenlotto eingelassen hat, indem sie jedem und jeder eine Chance einräumte. Natürlich hat sie keinen Einfluss auf das immense, ja inflationäre Mitteilungs- und Spielbedürfnis der er ten Videogeneration, die, pauschal gesagt, nichts vom «Gewicht der Welt» weiss, weil sie sozusagen in einer virtuellen Welt aufgewachsen ist, an der sie auf ihre Weise Anteil haben will. Trotz diesem «Druck von der Basis» wäre Konzentration auf jeden Fall besser ge wesen, Konzentration auf Substanz in Stoff und ecriture. Soll doch niemand sagen, sie manifestiere sich immer erst im nachhinein. Dass die diversen Förderer noch immer keine geeigneten Projekt-Evaluationstechniken entwickelt haben, ist unverzeihlich, besonders weil sich die Diskrepanz zwischen dem eingereichten Papier und dem abgelieferten Werk immer deutlicher zeigt.
Dokumentarfilme haben in den letzten Jahren an der Kinokasse besser abgeschnitten als die meisten Spielfilme. Das ist verständlich, denn Dokumentarfilme ohne Stoff gibt es nicht. Der Dokumentarfilm hält an einer Kraft der Welt fest, die im Spielfilm – vor allem im amerikanischen – immer weniger ins Gewicht fällt: an den tatsächlichen Widerständen, an den Gewichten, welche die körperlosen Träume auf den Boden der Wirklichkeit ziehen, auf dem jeder Kinobesucher auch steht, was ihn manchmal, ja fast immer auch schmerzt. Insofern hat der Dokumentarfilm im heutigen Kino der Illusionen und Spekulationen einen ganz spezifischen Stellenwert gewonnen. Auch in anderen Ländern, vor allem in den Grossstädten, ist das gleiche Phänomen bekannt.
So betrachtet, erstaunt es, dass Dokumentarfilme in der Regel noch immer mit so bescheidenen Budgets und Förderungen auskommen müssen. Betrachtet man die in den letzten Jahren entstandenen schweizerischen Dokumentarfilme allerdings im Hinblick auf die filmischen Innovationen, sieht die Bilanz weniger erfreulich aus. Nur wenige Dokumentarfilme – beispielsweise Richard Dindos Arthur Rimbaud – Une biographie, Peter Mettlers Picture of Light sowie Nicolas Humberts und Werner Penzels Step across the Border und Middle of the Moment – haben auf überzeugende, und das heisst in diesem Falle sanfte, Weise neue Fenster des Genres aufgestossen, indem sie versuchten, Innenwelt und Aussenwelt immer gleichzeitig aufspielen zu lassen, gleichsam von der anderen Seite her, von den Stoffen also.
(Titelbild: Die blaue Stunde)