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Fai bei sogni 1

Fai bei sogni

Das Kindheitstrauma und dessen jahrzehnte­lange Bewältigung verknüpfen sich mit der kollektiven Geschichte, wie hier auch Fiktion und Zeitkritik im Dialog stehen. Bellocchio kehrt damit auch zu den Hauptthemen seiner Filmografie zurück.

Text: Patrick Straumann / 20. Juni 2017

«Eyes wide shut» oder «Die Kunst des Sehens» hätten sich ebenfalls als Titel angeboten. Massimo ist neun Jahre alt, als er um die Weihnachtstage 1969 seine Mutter verliert, und er wird drei Jahrzehnte brauchen, um das Schweigen, das die Umstände ihres Todes umgibt, in einem eigentlichen Befreiungsakt zu brechen. Dass es sich hierbei um ein vom Vater und der Gesellschaft gleichermassen gehütetes «Familiengeheimnis» handelt, das erst am Ende der Handlung von einer Tante gelüftet wird, ist allenfalls von anekdotischer Bedeutung. Wichtiger als die finale Kenntnis der Fakten ist der schmerzhaft empfundene Prozess der Selbstfindung, den Massimo durchläuft; es ist die Spannung zwischen (individueller) Erinnerung und (kollektiver) Verdrängung, die Bellocchios Bildsprache Kohärenz und Kanten verleiht.

Hatte der analytisch geschärfte Blick des Regisseurs in seinem spektakulären I pugni in tasca (1965) zu paroxystischen Gefühlsexplosionen geführt, so ist der Grundton von Fai bei sogni eher mezza voce gehalten. In der Schlüsselszene tritt Massimos Mutter, nachdem sie ihrem Sohn in der fatalen Nacht «schöne Träume» gewünscht hat, lautlos aus dem dunklen Zimmer, und als der Junge, von einem Schrei aufgeweckt, in den Gang stürzt, sieht er seinen Vater, von zwei Männern begleitet, in einem Raum verschwinden; auch die anderen Türen des Korridors werden sich dem Kind sukzessive verschliessen.

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Die anschliessende Suche nach Halt und Erklärung wird für Massimo ähnlich fruchtlos verlaufen: die Vertreter der Kirche (dies ein Topos in Bellocchios Filmografie) sind psychologisch impotent und erklären ihm, die offiziell an einem Herzinfarkt verstorbene Mutter sei nun zu seinem Schutzengel geworden; der Vater, der jede Wärme vermissen lässt, wird sich jahrelang ins Schweigen flüchten. Auch der wissenschaftliche Unterricht, von dem sich Massimo Antworten auf seine metaphysischen Fragen verspricht, bietet keine Hilfe: Das Sonnenlicht könne nicht mit dem «Licht Gottes» gleichgestellt werden, wird ihm der Lehrer darlegen, als der Junge im Andenken an die Seele der Toten das Kirchenschiff nach der Schulstunde mittels Kerzen erleuchten will. Einzig Belphégor, die mysteriöse Phantomfigur der gleichnamigen Fernsehserie, die Massimo zusammen mit seiner Mutter mit Leidenschaft am Bildschirm zu verfolgen pflegte, wird dem Halbwaisen in seiner Einsamkeit zum imaginären Gesprächspartner und Ratgeber in Notsituationen.

Man könnte Bellocchios ziselierte Regieführung wörtlich nehmen und die in den folgenden Lebensabschnitten aufgestossenen Türen und Fenster als Versuch von Massimo verstehen, die ihm verschlossenen Zonen als Heranwachsender und Erwachsener zu erkunden. So etwa als er – mittlerweile ein angehender Journalist bei «La Stampa» – von der Redaktion aufgeboten wird, einen dekadenten Börseninvestor in dessen Privatpalast zu interviewen: Die Begegnung beginnt wie ein Initiationsritus, allerdings nimmt sie ein abruptes Ende, als die Carabinieri an der Tür klingeln und dem Anleger einen Haftbefehl vorlegen. Auch die Reportage über die Kriegswirren im ehemaligen Jugoslawien wird mit einer Desillusion enden: Nachdem Massimo ins Haus einer von einem Sniper erschossenen Mutter geschleust wird, muss er zusehen, wie sein Fotograf den unter Schock stehenden Sohn des Opfers ins Bild schiebt, um die Tatszene fotogener zu gestalten. Nur seine vom Vater geerbte Leidenschaft für den Juventus Turin, dessen Stadion den Ausblick aus dem Balkonfenster dominiert, wird sich wie ein Kanon durch sein Leben ziehen. Es braucht denn auch eine Gedenkfeier für die 1949 anlässlich eines Flugzeugabsturzes umgekommenen Mannschaftsspieler, damit es zum ersten Versuch einer Aussprache zwischen ­Massi­mo und dem Vater kommen kann.

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Der Verweis auf die medialen Illusionen und Trugbilder, denen Massimo in seiner Vita begegnet, mag der literarischen Vorlage geschuldet sein (Fai bei sogni ist eine Adaption des autobiografischen Romans von Massimo Gramellini, der in Italien zum Bestseller avancierte), in inszenatorischer Hinsicht verdichtet sich der Dialog von Zeitkritik und Fiktion jedenfalls zu einer heterogenen Syntax, der Bellocchio seine gros­sen Filme der Jahre nach 2000 verdankt: Wie Vincere, der Mussolinis Aufstieg nachgezeichnet hatte, und Buongiorno, notte, der Aldo Moros Entführung im klaustrophobischen Huisclos vergegenwärtigte, bietet Fai bei sogni einen Rückblick auf eine Epoche, die sich in der Konfrontation von Dokument und Mise en Scène, in der Dialektik von intimem Gedächtnis und Geschichte zum persönlich gefärbten Kunstwerk verdichtet.

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Es ist der Twist, den Massimo in der Eröffnungsszene mit seiner Mutter tanzt, der sich als Figur und Metapher dieser Verschränkungen ausweist. Die Szene, von Bellocchio wie ein unwiederbringliches Glücksmoment inszeniert, wird zum Ausgangspunkt einer emotionalen Reise, deren diverse Stationen ebenso an die musikalische wie an die visuelle Erinnerung appellieren: Während der von Carlo Crivelli supervisierte Soundtrack des Films (mit Einlagen von Cindy Lauper, Rafaella Carrà und Deep Purple) eine akustische Zeitgeschichte komponiert, werden die Fernsehbilder – von der Neujahrssendung der RAI über Murnaus Nosferatu bis zur Liveübertragung der Olympischen Spiele von München – zum Taktgeber der öffentlichen Erinnerungen. Korreliert werden die individuellen und die kollektiven Erfahrungen etwa in der Szene, in der Massimos Freundin Elisa mit ihrem Sprung ins Schwimmbecken die Performance der Münchner Athle­ten nachexerziert.

Das Kino als (die bessere) Psychoanalyse? Massi­mo lernte Elisa kennen, nachdem er während einer Panikattacke im Spital um Hilfe gerufen hatte. Am Telefon gab die Notfallärztin ihm den Ratschlag, eine Glasscheibe anzuhauchen, um den Rhythmus seines Atems wieder unter Kontrolle zu kriegen. Dass ihre Fähigkeit, dem Unsichtbaren einen sichtbaren Ausdruck zu verleihen, schliesslich zur inneren Befreiung führt, suggeriert der darauffolgende Spitalbesuch ­Massimos, der nach einigen Verzögerungen in eine Liebesbeziehung mündet. Später, anlässlich des Familientreffens, das vier Generationen von Elisas Verwandten auf einem Landsitz vereint, kommt es erneut zu einer Tanzszene, die, wie die Coda des Films suggeriert, Massimos Kindheitserinnerungen von ihren Lasten befreit. Es war Stendhal, der den Begriff der Kristallisation der Empfindungen prägte; in filmischer Hinsicht hat Bellocchio dem Konzept hier zu neuen, stringenten Konturen verholfen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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