Andrei Plachow Was war der erste innere Anstoss für Elena?
Andrei Swiaginzew Da die Geschichte von Elena als Bestellung eines ausländischen Produzenten begann, war es wohl der Wunsch, eine von aussen an mich herangetragene Herausforderung anzunehmen – falls man dies als innerlich bezeichnen kann. Aber das ist natürlich eine ungenügende Antwort. Der innere Impuls wirkt im Verborgenen, über ziemlich lange Zeit. Es kann sein, dass er sich nie in eine Äusserung verwandelt, oder es reift etwas heran, und es wird ein Film daraus.
Ich kann mich gut an den Moment erinnern, als ich – bereits mit dem Drehbuch in der Hand – am Flughafen die Meldung von einem Verbrechen über einen Monitor laufen sah: «Eine Unternehmerin aus dem Grossraum Moskau liess für 40 000 Rubel ihren Ehemann ermorden.» In diesem Moment spürte ich plötzlich sehr deutlich, dass Elenas Geschichte die Geschichte einer ganzen Gesellschaft war, der Auflösung ihrer Bindungen, der Zerstörung ihrer grundlegenden Struktur.
Wie kam das Projekt praktisch zustande? Und wie veränderte es sich? Am Anfang war ja ein englischsprachiger Film geplant.
Ja, alles begann mit dem grosszügigen Angebot eines englischen Produzenten. Er wollte ein grosses Projekt realisieren, das vier englischsprachige Langfilme von vier unterschiedlichen Regisseuren aus allen Ecken der Welt vereinen sollte. Er nannte das Projekt «Apokalypse» und plante in grossem Stil, nicht nur bezüglich der Finanzen, sondern auch auf der künstlerischen Ebene. Mein Freund und Co-Autor Oleg Negin und ich nahmen sein Angebot an und begriffen ziemlich bald, dass dies kein Katastrophenfilm werden sollte, nicht irgendeine Riesengeschichte, in der Tausende Menschen sterben, sondern eine lokale, intime Geschichte – mit einem Wort: eine Geschichte über die innere Apokalypse einer Seele, die sich unbemerkt von ihrer Umgebung vollzieht. Oleg schrieb das Drehbuch in Rekordzeit, buchstäblich innerhalb von zehn Tagen. Da das englische Projekt dann aus verschiedenen Gründen doch nicht zustande kam, begann ich, in Russland nach Finanzierungsmöglichkeiten zu suchen. Sehr bald trafen wir auf den Produzenten Aleksandr Rodnjanskij, mit dem wir ebensobald eine gemeinsame Sprache fanden. Man kann sagen, dass wir uns einen Tag, nachdem er das Drehbuch gelesen hatte, an die Arbeit machten. Bei der Übertragung des Drehbuchs auf die russischen Verhältnisse änderte sich am Text praktisch nichts. Nur die Namen wurden russisch, es kamen russische Realien dazu, einige Nuancierungen des sozialen Milieus, Slang …
Worin unterscheidet sich Elena Ihrer Meinung nach von Ihren früheren Filmen? Einige Kritiker betonten den Bezug des Films auf die konkreten Verhältnisse unserer Zeit und unseres Landes und entdeckten darin viel Sozialkritik. Ist Ihr jüngster Film dennoch eine Parabel?
Ich möchte glauben, dass unsere Geschichte trotz ihrer offenkundigen Verankerung in der russischen Realität alle Bedingungen einer universellen Geschichte erfüllt und das heisst: einer Geschichte, die zur Parabel neigt. Dafür gibt es nicht wenige Hinweise. Ich kann mich nicht erinnern, dass mich ausserhalb Russlands jemand aus dem Publikum je erstaunt gefragt hätte: «Stehen die Dinge bei euch in Russland wirklich so?» Mir scheint, dass Elena für alle verständlich, also nicht irgendwie spezifisch national ist. Das zum einen.
Der Unterschied zu meinen früheren Filmen besteht in meinen Augen einzig darin, dass die Handlung in der heutigen Zeit spielt: hier und jetzt, Moskau im Jahr 2011, wiedererkennbare Typen und so weiter. Wegen seiner Situierung in der zeitgenössischen Realität benötigte der Film auch keinerlei symbolische Sprache. Ich mag diese Terminologie nicht, muss sie aber in Anlehnung an meine Kritiker benutzen. Meiner Meinung nach ist der Film klar, durchsichtig und einfach.
Welche Aufgaben stellen sich Ihnen und dem Kameramann Michail Krichman bei der visuellen Umsetzung?
Es sind immer dieselben Aufgaben: sich für die grundlegende visuelle Erscheinung und den dazu passenden Rhythmus zu entscheiden. Und es ist immer dieselbe Sorge: es so hinzubekommen, dass kein Teil aus dem Ganzen herausragt, sondern dass alles im Einklang ist, dass kein Element das andere dominiert; die Suche nach einem harmonischen Ganzen, die Konzentration in einem einheitlichen Ausdruck. Wir stellen uns keine Aufgaben, sie – die “Aufgaben” selbst – stellen an uns die Anforderung, sie bestmöglich zu erfüllen.
Dieselbe Frage bezüglich der Schauspieler: Wie kam gerade diese Besetzung zustande?
Auf die übliche Art und Weise: über Proben und Fehler. Wie früher trafen wir uns während ungefähr einem halben Jahr mit unzähligen Schauspielern, mit vielen von ihnen probten wir irgendeine wichtige Szene, suchten die genau richtige Übereinstimmung mit der Figur, und, mir scheint, wir fanden sie auch. Ich freue mich über ausnahmslos alle, sogar über die Nebendarsteller. Und klar, Nadeshda Markina, Andrej Smirnov und Elena Lyadova sind die Glanzpunkte des ganzen Ensembles.
Dass es sich bei der Familie von Elena, das heisst ihrem Sohn Serjoscha und ihrem Enkel Sascha – der Linie ihres Blutes –, ganz zufällig so ergab, als ob alle aus demselben Teig geschaffen wären, darauf bin ich tatsächlich stolz, obwohl es überhaupt nicht mein Verdienst ist. Es ist erstaunlich: Wir hatten uns nicht vorgenommen, äusserlich ähnliche Schauspieler zu finden. Doch eines Tages, als das Casting schon bestätigt war, wurde ich auf diesen Aspekt aufmerksam. Sie erinnern sich an die Szene, in der Sascha mit seinem Vater am Computer spielt? Aufgrund der Ähnlichkeit ihrer Gesichtszüge stellte ich die beiden dort ins Profil. Es ist verblüffend, wie sehr sowohl Serjoscha als auch Sascha mit dem schönen Gesicht von Elena harmonieren, dieser Zufall erscheint mir wie ein Wunder, wie ein Geschenk des Schicksals.
Die Figuren des Films wurden von der Kritik unterschiedlich interpretiert, vor allem Elenas Ehemann. Ist er für Sie ein Opfer oder ein Schuldiger in diesem Drama?
Wir sind alle Opfer ein und desselben Dramas. Wir selbst sind gleichzeitig der Grund und die Konsequenz unseres Unglücks. Niemand ist per se weich gebettet. Es ist sehr schwierig, auf eine so gestellte Frage zu antworten. Sagen Sie mir, würde er denn auch zum Opfer, wenn seine Elena eine andere wäre, wenn sie eine andere Wahl getroffen hätte? Nein. Deshalb ist es eine Vereinfachung der Situation, das eine vom anderen zu trennen. Nur vor Gericht kann der Mensch entweder Kläger oder Beklagter sein, aber nie beides gleichzeitig.
Einige Leute interpretierten die Porträtierung der Lumpenproletarier-Familie als einen aus der Position der rechtsliberalen Bourgoisie gerichteten Angriff auf den Plebs. Wie kommentieren Sie das?
Ich bedaure es sehr, dass sich tatsächlich viele Leute so sehr auf dieses Kräfteverhältnis konzentrieren: Reiche und Arme, Bourgoisie und einfaches Volk. In unserer Zeit ist dies offenbar so sehr zu einem Gemeinplatz geworden, dass wir es gar nicht mehr bemerken: «Nun, sie hat ihn getötet, das ist verständlich. Aber sagen Sie mir, was halten Sie vom Zustand des Klassenkampfes in der russischen Gesellschaft?»
Mich erstaunt es, mit welcher Leichtigkeit Kommentatoren des Films gerade dies zum Hauptthema machen, ohne der Hauptlinie des Films irgendwelche Beachtung zu schenken: der Geschichte des inneren Zustands der Heldin, ihres Falls. Das steht für mich im Zentrum.
Was ist Elena Ihrer Meinung nach – eine tragische Heldin, eine Bestie oder das Opfer ihres Ehemannes, der sie zu seinem Dienstmädchen gemacht hat?
Ach, es widerstrebt mir sehr, in solchen Kategorien zu denken. Ich berufe mich darauf, dass diejenigen, die unser Gespräch lesen, sich möglicherweise morgen den Film anschauen gehen, und werde kein wertendes Urteil abgeben. Soll der Zuschauer für sich selber entscheiden, wer unsere Elena ist.
Welche Situationen und Figuren unserer Zeit, der Geschichte, der Mythologie oder der Literatur beschäftigen Sie als Künstler? Wen möchten Sie auf die Leinwand bringen?
Mich fesselt die Idee, auf der Leinwand eine bestimmte Figur zu schaffen oder sie im Leben zu suchen, keineswegs. Man kann es so sagen: Mich interessiert weniger eine Figur an sich, sondern eine Figur in einer Situation, in der sie eine schwierige Wahl treffen muss.
Heute, wo Sie sich als Künstler bewiesen haben, wer von den klassischen Regisseuren ist zu Ihrem «Stalker» geworden?
Es sind die gleichen wie früher. Ich verneige mich vor vielen Klassikern des Kinos. Ebenso sehr bewegen mich die Werke vieler Zeitgenossen. Ich denke, es macht keinen Sinn, Namen aufzuzählen. Ich liebe das Kino und brenne darauf, neue Entdeckungen zu machen. Mich treibt die Neugierde an – sie ist meine Führerin.
Mit Andrei Swiaginzew sprach Andrei Plachow
Übersetzung aus dem Russischen Lisa Heller