RICHARD DINDO Wenn man Ihre Filme anschaut, stellt man fest, dass viele Ihrer Hauptfiguren immer schon tot sind. Sie machen eigentlich Filme über Tote?
RICHARD DINDO Es gibt diesen berühmten Satz von Jean Cocteau, dass der Film den Tod bei der Arbeit zeigt, das heisst, das Vergehen der Zeit zeigt, unsere Sterblichkeit. Ich würde dem hinzufügen, dass der Film auch fähig sein kann, Tote wieder zum Leben zu erwecken, wenigstens für einen Augenblick lang, wie in einem Traum. Oft träume ich von meinen toten Brüdern. In meinen Träumen leben sie wieder für einen Augenblick, weil der Traum ein fotografisches Gedächtnis ist. So hat Marcel Proust, mein Lehrmeister, auch sein grosses Buch geschrieben: er hat sich die Vergangenheit, wie er einmal gesagt hat, wie eine Fotografie vorgestellt und dann diese Fotografie beschrieben und wieder zum Leben erweckt. Der Film, wie die Kultur überhaupt, hat immer auch mit Erinnerung zu tun, und Erinnerung ist immer auch Erinnerung an Tote, denn die Toten sind erst wirklich tot, wenn wir sie vergessen haben.
RICHARD DINDO Warum haben Sie überhaupt angefangen, Filme zu drehen?
RICHARD DINDO Ich weiss nicht mehr genau, wann ich entschieden habe, Filme zu drehen, aber ich erinnere mich noch sehr genau an einen Besuch im Museum von Bagdad vor fast vierzig Jahren, als junger Mann. Beim Anblick dieser wunderbaren, weissen Alabasterfiguren der sumerischen Kunst habe ich verstanden, dass Kultur nicht nur Gegenstand von Schönheit ist, sondern auch von Erinnerung. Was wüssten wir von den Sumerern, den Babyloniern, den Assyrern, den Ägyptern, den indianischen Völkern in Süd-Amerika, wenn sie keine Kultur hervorgebracht hätten? Das schlimmste Ereignis der letzten Jahre auf der Welt ist meiner Meinung nach die Zerstörung des Museums von Bagdad, dieses Museums, in dem ich vielleicht Filmemacher geworden bin. Dies ist auch ein historischer und ein politischer Wendepunkt in der Geschichte unserer Zeit. Die Amerikaner schützen das Erdöl-Ministerium, aber sie schützen nicht die Museen. Das heisst, die Vergangenheit und damit die Kultur finden sie nicht schützenswert. Diese Zerstörung des Museums von Bagdad ist wie eine Metapher unserer Zeit, für das, was man heute die «Globalisierung» nennt. Diese Globalisierung ist ja eigentlich die Amerikanisierung der Welt. Die Ausweitung und das Aufzwingen des amerikanischen Modells auf die ganze Welt.
Dabei scheint es vor allem darum zu gehen, aus den Bürgern und Bürgerinnen der ganzen Welt gewöhnliche Konsumenten zu machen und keine Kulturmenschen. Das heisst, es liegt in der Natur der Globalisierung, dass sie die Kultur der Völker, die immer eine nationale und eine regionale Kultur ist, dass sie diese Kultur zerstört. Deshalb glaube ich, dass wir weiter Widerstand leisten müssen, und Widerstand heisst immer auch, unsere Kultur schützen und weiter unsere eigene Kultur herstellen.
RICHARD DINDO Wie würden Sie den Gegenstand Ihrer Arbeit definieren?
RICHARD DINDO Ich arbeite eigentlich an zwei Dingen, zum einen am Prinzip Erinnerung. Ich versuche, Filme herzustellen, die den Mechanismus der Erinnerung reproduzieren. Meine Filme fragen: Wie stellt man Erinnerung her mit einem Dokumentarfilm? Der Zuschauer wird zum Augenzeugen gemacht, wie der Film Erinnerung herstellt. Und Erinnerung hat immer auch mit Emotion zu tun, denn die Erinnerung ist grundsätzlich etwas Bewegendes. Und als zweites würde ich sagen, dass ich über die Kunst der Biografie arbeite. Ich versuche mit meinen biografischen Filmen, die Wahrheit eines Menschen zu ergründen.
RICHARD DINDO Sie arbeiten oft mit Texten oder verfilmen Bücher?
RICHARD DINDO Ich bin ein untypischer, ein unreiner Dokumentarist, weil ich nicht mit der Gegenwart, sondern mit der Vergangenheit arbeite. Ich filme nicht, was es vor der Kamera zu sehen gibt, sondern das Abwesende, das Unsichtbare. Es gibt da nicht mehr viel zu zeigen, man muss sich die Vergangenheit vorstellen können. Erinnerung gibt es nur noch mit Erzählen. Ich brauche das geschriebene oder gespochene Wort, um meine Bilder zu erzählen. Ich verliebe mich in einen Text und gehe dann auf die Suche nach möglichen Bildern, um diesen Text zu erzählen. Der Text erklärt die Bilder, und die Bilder illuminieren den Text. Es stellt sich dabei immer die Frage, die Marguerite Duras einmal gestellt hat: Was kann man mit Sätzen sagen, und was kann man mit Bildern zeigen? Der Dokumentarfilm kann beides zusammen tun. Mit Sätzen und Bildern gleichzeitig arbeiten. Je mehr ich über ein Bild weiss, desto genauer schau ich es an und umso mehr entdecke ich darin – auch das, was es nicht zeigen kann. Denn mit einem Bild kann man immer nur einen kleinen Teil der Realität zeigen. Ich bin ein Lesender. Die Welt ist für mich wie ein Buch, in dem ich lesen möchte. Auch meine Filme müssen eigentlich gelesen werden. Da findet eine ständige Denkarbeit statt. Der Zuschauer muss mitdenken. Es geht beim Dokumentarfilm um die ganz einfachen Dinge des Lebens wie Reden, Hören und Schauen.
RICHARD DINDO Sie arbeiten immer über engagierte Menschen.
RICHARD DINDO Mich interessieren Poeten, Rebellen, Widerstandskämpfer; ich bin ein Achtundsechziger und den Idealen meiner Generation immer treu geblieben. Ni olvido ni perdón ist vielleicht mein letzter politischer Film, eine letzte Hommage an meine Generation. In Süd-Amerika hat meine Generation gerade in Mexiko, Argentinien und Uruguay ihre historische Mission nicht erfüllen können, weil sie mit Gewalt daran gehindert worden ist. Mit meinem letzten achtundsechziger Film möchte ich der südamerikanischen achtundsechziger Generation ein Denkmal erstellen, denn meine Filme sind auch Denkmäler, Mausoleen für die Toten und für die Lebenden, für die, die für eine gerechtere und brüderliche Gesellschaft gekämpft haben und dabei ermordet worden sind.
RICHARD DINDO Ihre Figuren sind oft Intellektuelle?
RICHARD DINDO Die achtundsechziger Generation hat sich gefragt, was ein Intellektueller ist und was für eine Aufgabe er in der Gesellschaft und in der Geschichte hat. Damals haben wir geglaubt, dass der Intellektuelle ein Rebell ist und dem Volk helfen muss, die Gesellschaft zu verändern. Che Guevara war für viele von uns dieser Intellektuelle als Rebell und daran ist er ja auch gescheitert. Er repräsentiert am besten, am würdevollsten und am tragischsten die Grösse und die Schwäche, «la grandeure et la misère», des Intellektuellen. Der wirkliche Intellektuelle ist ein Träumer, der von einer besseren Gesellschaft träumt. Der Träumer versucht, das Unmögliche möglich zu machen, daran kann er nur scheitern, aber sein Scheitern kann sich auch in einen Triumph verwandeln dank unserer Erinnerung. Und Siege können sich in Niederlagen verwandeln, wie wir anderswo gesehen haben. Was ist schon ein Sieg? Was ist eine Niederlage? Für mich als Filmemacher gibt es nur die Vergangenheit als Erinnerung, damit wir unsere Geschichte nicht vergessen, und die Utopie als Zukunft, damit wir nie aufhören, von einer besseren Welt zu träumen. Die «Globalisierung» wird nicht nur die Kultur zerstören, sie wird auch versuchen, die Intellektuellen zu zerstören, damit das Prinzip Hoffnung und die Idee der Utopie überhaupt aus der Geschichte verschwinden.
Richard Dindo stellte Fragen an Richard Dindo