Einige der Lebensgeschichten der in seinem neuen Film auftretenden Protagonisten hätten durchaus Stoff für einen eigenen Film geboten, sagt der Oltner Bruno Moll. Wer an die lange Liste von Filmen denkt, die Moll seit Gottliebs Heimat (1978), Samba lento (1980) und Das ganze Leben (1982) geschaffen hat und von denen die meisten mit dem Thema der Erinnerung zu tun haben, zweifelt nicht daran, dass jeder einzelne dieser (möglichen) Filme in seiner Weise voll überzeugt hätte. Doch der 1948 geborene Filmemacher wollte aus gewohnten Pfaden ausbrechen, er hatte ein anderes Ziel vor Augen: Er suchte nach dem gemeinsamen Nenner der Erinnerungen verschiedener Menschen, wollte das Phänomen des Sicherinnerns grundsätzlich ergründen.
Hat Bruno Moll sein Ziel zu hoch gesteckt? Hat er vergessen, dass Erinnerung, um wirksam zu sein, vor allem eines braucht: Zeit – Zeit, die im Unbewussten des Sich-erinnernden «arbeitet» und ihm in unbeschränkter Menge zur Verfügung steht, auch wenn die Erinnerung selbst in einem einzigen Augenblick durch irgendein Ereignis, vielleicht durch einen Geruch, einen gehörten Ausspruch, ein Geräusch oder ein Musikstück ausgelöst wird? Um ein berühmtes Beispiel aus der Literatur zu nennen: Marcel Proust wurde durch den Geschmack einer in Tee getauchten «Madeleine» in einem einzigen Augenblick an die Welt seiner Kindheit erinnert. Dass wir dies als Leser heute wissen, verdanken wir jedoch nicht einer «Madeleine», sondern einem Tausende von Seiten starken Werk: Die Initialzündung, die in einem Individuum Erinnerungen auslöst, ist nicht identisch mit diesen Erinnerungen selbst – das gilt auch fürs Kino. Bruno Moll versucht, durch ein Nebeneinander unterschiedlicher Initialzündungen deren Geheimnis auf die Spur zu kommen. Kein Zweifel: Viele der dokumentarischen Szenen, die er in seinem Film nebeneinander stellt, vermögen im einzelnen zu bewegen, werden jedoch durch andere in ihrer Wirkung gehemmt. Für den Zuschauer wäre hier weniger oftmals mehr gewesen.
Wenn Bruno Moll den 82-jährigen Maschineningenieur Leo Lys, dessen Frau Richarda und deren Enkel Joshua und Noah in Leos Geburtsstadt Warschau und zur Gedenkstätte des Lagers Majdanek führt, wo Leos Eltern und seine Schwester vermutlich umgebracht wurden, befinden wir uns als Zuschauer in der Lage des jungen Joshua, der Fragen stellt und Antworten erhält, die nicht zu seinem eigenen Erinnerungsschatz gehören. Ähnlich ergeht es dem Zuschauer, wenn er im Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer des Roten Kreuzes in Bern die schrecklichen Erinnerungen der Kurdin Lilav Jan hört. Die Erlebnisse des Musiktherapeuten Otto Spirig mit an Altersdemenz leidenden Menschen sind zwar weniger dramatisch, aber ebenfalls eindrücklich. Von Gegenständen, die als Auslöser für Erinnerungen dienen, berichtet auch die als Memoirenschreiberin tätige Lucette Achermann, und ein eigentliches Globetrotter-Museum hat der inzwischen verstorbene Weltenbummler Ernst Guido Keller zusammengestellt. Anhand von Skelettresten schliesslich forscht die Anthropologin Susanne Ulrich von der Arbeitsgruppe «Historische Anthropologie» in Bern über die Lebensbedingungen längst verstorbener Menschen. So führt Bruno Molls Film von spontan ausgelösten Erinnerungen zu wissenschaftlich erarbeiteten Vorstellungen – oder, da er auf deren Inhalte nicht eintritt, gelegentlich an diesen vorbei.