Offen zur Schau getragene Künstlichkeit und Stilisierung lieben viele Zuschauerinnen und Zuschauer im Kino nicht. Wie aber sieht es mit dem Gegenteil aus, mit Natur pur? Nach den Reaktionen an einer Pressevorführung des Internationalen Forums des Jungen Films in Berlin zu schliessen, empfinden manche sie als Zumutung, der man nur mit getuschelten Ironisierungen und einer schon nach fünfzehn Minuten einsetzenden Massenflucht begegnen kann.
Zugegeben, die “action” im Film Double Tide der amerikanischen Künstlerin und Filmemacherin Sharon Lockhart besteht einzig in der Arbeit einer Muschelsucherin, die nach Einsetzen der Ebbe am Strand einer schmalen Meeresbucht ihre von langen Gummihandschuhen nur wenig geschützten Arme in den Schlick streckt und mit einem leicht schmatzenden Geräusch wieder herauszieht. Da es in Maine, wo der Film gedreht wurde, im Sommer Tage gibt, an denen zweimal bei Tageslicht Ebbe herrscht, so dass die Sammlerin einmal am Morgen und einmal am Abend loszieht, zeigt uns Lockhart diese Tätigkeit gleich zweimal während je gut dreiviertel Stunden – so eindringlich, dass beim Zuschauen der Rücken selbst im bequemen Kinosessel schon nach kurzer Zeit zu schmerzen scheint.
Der Monotonie der Arbeitsbewegungen entspricht der fixe Kamerastandpunkt und -blickwinkel in den beiden einzigen, ungeschnittenen Einstellungen des Films. Während die Muschelsucherin zu Beginn mit ihrem Schlitten und den Körben darauf das Bild recht nahe bei der Kamera betritt und ihn am Ufer abstellt, entfernt sie sich beim Suchen im Watt immer weiter in die Tiefe des Bildes; zum Filmende kehrt sie mit der Ausbeute ihrer Arbeit zum Schlitten zurück, spült den Schlamm weg und verlässt das Bild, wie sie am Anfang gekommen ist. Gesprochen wird nichts, gelegentlich hören wir ein leichtes Hüsteln, nur einmal verrät ein unterdrückter Aufschrei, dass sie sich an einer Muschel verletzt haben muss; ein kleiner Moment, der in einem so verhaltenen Film schon dramatisch wirkt.
Diese “Handlung” vermag die Aufmerksamkeit der Zuschauenden kaum zu fesseln. Sie lässt unseren Augen und Ohren genügend Freiheit, den Rahmen wahrzunehmen, in dem sie sich abspielt, die Bilder und Töne der Natur. Da ist etwa die Veränderung des Lichts: Zu Beginn des Films ist das dunstige Bild beinahe schwarz-weiss, bis mit dem Aufgehen der Sonne zarte Farben kommen – umgekehrt zaubert in der zweiten Filmhälfte die untergehende Sonne erst die schönsten Farbeffekte auf die Wolken am Himmel und deren Spiegelungen in den Pfützen, bis nach und nach das Bild dunkler wird und die Farben verblassen. Im ersten Teil des Films ziehen zudem vorübergehend Nebelschwaden auf, lassen das Bild grau-weisslich und die Konturen unscharf werden, dann lichtet sich der Nebel wieder, und wenig später lässt die aufgehende Sonne die vorher nicht wahrnehmbaren Felsen an der Küste hervortreten.
Die Fauna macht sich während längerer Zeit vorwiegend auf der Tonebene bemerkbar, vor allem durch Vogelstimmen, ab und zu fliegt auch in der Ferne ein Vogel vorbei. Gegen Abend betritt jedoch plötzlich im Hintergrund ein Reiher die Szene und stolziert auf Futtersuche längere Zeit durchs seichte Wasser – ein diskreter, hier äusserst wirkungsvoller Gaststarauftritt. Beim Sonnenuntergang folgt dann das ebenso alltägliche wie spektakuläre Crescendo des Vogelstimmengewirrs.
Sharon Lockharts Konzept ist rigoros reduziert: keine Dialoge, kein Kunstlicht, keine Kamerabewegungen, keine Montage. Gerade dadurch erlaubt uns die Filmemacherin eine Konzentration, in der uns bewusst wird, wie viel sich ereignet, wenn «nichts passiert». Dieses Zusammenspiel des Lichts, der Farben, der Formen und der Töne, diese Reduktion und Verdichtung durch den zeitlichen und räumlichen Ausschnitt, das ist zweifellos Film, wenn auch in ungewohnter Reinkultur, und kann eigentlich nur in der Abgeschirmtheit des Kinos so intensiv erlebt werden. In der Betriebsamkeit eines Filmfestivals (selbst im für radikale Filmformen bekannten Programm des Berlinale-Forums) ist ein Film wie Double Tide eine gewagte Herausforderung; lässt man sich dennoch darauf ein, wirkt er als beglückende Oase. Es bleibt die spannende Aufgabe für risikofreudige Kinos, zu testen, wie das Publikum in der Hektik unseres Alltags reagiert.