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© Giacomo Abbruzzese

Franz Rogowski tanzt sich frei: Disco Boy

Ein belarussischer Geflüchteter landet in der französischen Fremdenlegion. Und mit dieser in einem metaphysischen Rollenspiel mit geballter visueller Kraft.

Text: Michael Kuratli / 29. Juni 2023
  • Regie, Buch

    Giacomo Abbruzzese

  • Kamera

    Hélène Louvart

  • Musik

    Vitalic

  • Darsteller:innen (Rolle)

    Franz Rogowski, Morr Ndiaye, Laëtitia Ky

Wenn einer mit nichts als seinen Kleidern auf der Haut illegal durch Europa irrt, dann bleibt ihm nur noch ein Ort: die Fremdenlegion. «Legio Patria Nostra!» rufen die Soldaten des französischen Eliteheers, das in Verdun genauso wie im Algerienkrieg, gegen Hitlers Armeen ebenso wie im Kosovo gekämpft hat. Wer es fünf Jahre in der «Légion étrangère» aushält, dem winkt die französische Staatsbürgerschaft. Mit neuem Namen, neuer Identität. Ein neues Leben.

Auf dem Weg zu seinem neuen Leben steht Alex, der Belarusse. Auch er ruft das Motto und nimmt dabei sein weisses Käppi vom Kopf, obwohl seine Motivation für das Kasernenleben langsam, aber sicher ihren Tiefpunkt erreicht. Statt der mondänen Transformation vom Geflüchteten zum Franzosen macht er nämlich gerade einen anderen, tiefgreifenderen Wandel durch.

Grund für die Metamorphose ist eine traumatische Mission seiner Truppe im Niger-Delta. Ein paar französische Geiseln sollten aus der Gewalt einer lokalen Rebellengruppe befreit werden. Deren Anführer Jomo starb im Nahkampf durch Alex' Hand. Der charismatische Rebellenführer hatte zuvor mit seiner Schwester das spirituelle Zentrum des Dorfes gebildet, bevor dieses von Soldaten der nigerianischen Armee niedergebrannt wurde.

Alex, die verlorene Seele in Giacomo Abbruzzeses erstem langen Spielfilm spielt Franz Rogowski. Er bringt die Zerrissenheit zwischen Hypersensibilität und Abgestumpftheit wie kein anderer auf die Leinwand – und braucht dafür nicht einmal viele Worte. Natürlich ist das Rogowskis Typ, den er in Filmen wie Transit, In den Gängen oder Luzifer bereits perfektionierte.

DISCOBOY 3

Bild: ©First Hand Films

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Bild: ©First Hand Films

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Bild: ©First Hand Films

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Bild: ©First Hand Films

Wie in letzterem geht es auch in Disco Boy bald um Mystisches. Alex wird vom toten Jomo verfolgt, und als er dessen Schwester in einem Pariser Nachtclub ihre rituellen Tänze zu den hypnotisierenden Technoklängen von Vitalic vollführen sieht, ist es um ihn geschehen. Sie begegnen sich, doch die Sphären, in denen dieses Kennenlernen geschieht, bleiben unklar. Sind es Träume? Visionen? Sicher ist nur, dass sich dieser Ruf aus einer anderen Welt nicht mit einem Soldatenleben vereinen lässt.

Giacomo Abbruzzese findet in der Geschichte eine gelungene Balance aus Zwischen- und Übermenschlichem. Wer einen Beweis dafür gesucht hat, dass das europäische Kino der Gegenwart zu eindringlichen Filmen fähig ist, findet ihn in Disco Boy. Ultimativ. Erzählerisch treffen neokoloniale Machtstrukturen auf das soziale Gefälle des reichen Kontinents, Individualismus auf den Zwang der Gruppe, Materialismus auf Mystik. Die Bilder sind experimentelle Avantgarde mit Punch, das Gitarrenriff im Titelsong kratzt am Hypothalamus.

Alex verkörpert die Widersprüchlichkeit der postmodernen Gesellschaft: Er bestellt Bordeaux im Technoclub und leert das Glas in einem Zug. In der Armee wird er zum austauschbaren Soldaten, um sich das Recht zu erkämpfen, ein Individuum zu werden. Im pragmatischen Kampfeinsatz sucht ihn die Seelenwanderung heim.

Diese Kontraste sind in umwerfenden Bildern perfekt erzählt. Die Kampfszene, die Alex' seelische Verwirrung begründet, ist komplett in Wärmebildern gefilmt und gehört zu den eindringlichsten Momenten des Films. Hélène Louvart wurde für die Kameraführung in Berlin mit einem Silbernen Bären belohnt. Der Film hätte geradeso gut den Hauptpreis verdient.

 

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2023 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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