Der junge Schweizer Film ist sensibel
Was kommt Ihnen als Erstes in den Sinn, wenn Sie an Ihre Jugend denken? Bei mir sind es endlose Nachmittage am Fluss zwischen Buchen und Haselnusssträuchern, lauwarmes Bier und das Gefühl der Unsterblichkeit. Ich trug meinen Flaumschnauz und den Irokesenschnitt, den mir meine Mutter geschnitten hatte, mit Stolz. Meine Freunde und ich waren eine Clique. Wir hatten nichts zu tun, pubertäre Ausschläge im Gesicht und im Herzen. Alles war neu, alles taten wir zum ersten Mal: Wir rauchten die erste Zigarette, küssten den ersten Kuss und sprangen, das Herz in der Badehose, zum ersten Mal von der Hängebrücke ins Wasser.
Es ist dieses Gefühl, das Gefühl meiner frühen Jugend, an das mich Schweizer Filme in den letzten Jahren immer wieder erinnert haben. Zum Beispiel Der Fleck, der vergangenen Sommer in Locarno lief, oder jüngst Füür brännt in den Schweizer Kinos.
Jugendliche sitzen am Flussufer herum und verlauern ihre Zeit, so könnte die Zusammenfassung beider Filme lauten. Zwei langweilige Sonntagnachmittage am Fluss machen noch keinen Sommer und zwei Filme noch keine neue Welle. Und doch bleibt der Eindruck: Diesen Schweizer Filmen wohnt ein neues Gefühl inne. Ein Gefühl, das sich von Dene wos guet geit über Foudre zu Electric Fields und Réduit spannt. Es regt sich eine sensible, neue Art des Filmemachens. Die sensible Schweizer Welle.
Wider den Mainstream
Doch was bedeutet das genau, eine «sensible, neue Art», zu filmen? Was als Erstes auffällt, ist die Aversion gegen das ABC der Dramaturgie. Held:innen, die auf einer klassischen Reise sind, sucht man oft vergebens. und wenn sie da sind, scheint die Kamera an einem Aufmerksamkeitsdefizit zu leiden. Sie bleibt häufiger an Landschaften und Gesichtern hängen als an der Geschichte. Dialoge, insbesondere solche, die den Plot vorantreiben würden, sind rares Gut, «Kein Kommentar», scheinen die Filme zu sagen und verweisen auf ihre Bilder. Die Regeln, mit denen in diesem Land bis anhin Geschichten auf der Leinwand erzählt worden sind, scheinen ausser Kraft gesetzt.

Der Fleck von Willy Hans
Aus dieser Art, Filme zu machen, erwächst ein Widerstand gegen die Erzählformen des Mainstreams. Es ist ein grosses «I would prefer not to», das Motto des Arbeitsverweigerers Bartleby in Herman Melvilles Erzählung, das hier auf die Leinwand kommt. Michael Karrer beschreibt seine Herangehensweise für Füür brännt so: «Mein Prozess war eine Trotzreaktion gegen eine Erzählweise, die ich als dominierend empfand: Die Idee einer starken Geschichte, in der klar definierte Figuren eine bestimmte Bedeutung vermitteln.» Gerade so, als wäre Film Mathematik, führt Karrer weiter aus, und als gäbe es für einen guten Film eine Formel, der es zu folgen gilt. «Das interessierte mich nicht. Ich wollte lieber ein Gefühl erforschen, einer fragilen Idee Raum geben.» Hinter Karrers Widerstand steht eine philosophische Haltung. In seinen Augen sollte Kunst nicht unbedingt eine fertige und eindeutige Idee vermitteln, sondern einen Raum eröffnen, der zum Nachdenken und zur Selbstreflexion einlädt.
Genau so fühlte es sich damals für mich an: Nichts stand fest, mein Leben auf eigenen Beinen befand sich noch in der Probezeit, wir schufen uns Raum zur Erforschung und wussten nicht, wo es hingehen soll. Das Gefühl meiner Jugend setzt sich aber filmisch nicht nur in den Erzählungen und den Figuren fest, sondern verdichtet sich auch in den langen Einstellungen, den intimen Perspektiven und Klängen, die intradiegetisch aus dem Gezeigten kommen. Sphärische, ja mystische Filmbilder sind das Resultat, Form und Inhalt geben sich in diesen Werken vorsichtig die Hand, um allzu bekannte Erzählweisen zu überwinden, um alte Landschaften neu zu entdecken.
Als Zweites fällt auf, wie uns diese Schweizer Filme weitab des Mainstreams zur Selbstbesinnung verführen. Sie zwingen uns, uns mit ihrer Ruhe auseinanderzusetzen. Sie sind Meditationen in beiderlei Wortsinn: philosophische Betrachtungen einerseits und kontemplative Vertiefungen andererseits. Sie sind eine kollektive Achtsamkeitsübung im Kinosaal. Auf Action, schnelle Schnitte und klare Figurenentwicklungen getrimmte Kinogänger:innen beissen sich in ihnen vor Ungeduld die Nagelbetten blutig. Andere können sich danach tiefenentspannt eine Yogastunde sparen.
Aber woher kommt das Bedürfnis dieser neuen Generation Filmemacher:innen, die Antithese zum Erzählkino zu drehen? Und wann hat das alles angefangen?

Dene wos guet geit von Cyril Schäublin
Schäublins Anstoss
Es war Ende des Jahres 2017, als ein Film mit seiner unverstellten Direktheit, seiner dreisten Unaufgeregtheit und seiner kühnen Andersartigkeit mich meine Heimat mit neuen Augen sehen liess.
In Dene wos guet geit stellte Cyril Schäublin die Kamera von Silvan Hillmann an die unmöglichsten Orte und filmte Menschen, die über Filme sprachen, an die sie sich nicht erinnerten. Notabene über die Action-streifen-Held:innenepen, die so abseh- und auswechselbar durch die Säle schwappen. Dieser nur 71 Minuten kurze Film dagegen änderte meinen Blick auf diese Stadt, in der ich seit zehn Jahren wohnte. Hat er das wirklich hier ums Eck gedreht? Im Zürcher Kino Alba (R.I.P.), wo ich während meines Studiums gearbeitet habe, riss der Kinoleiter zum Ende des Films jeweils die Notausgänge zur Strasse hin auf. Im Winter verzog sich daraufhin selbst das kunstaffinste Publikum schneller, als der Abspann laufen konnte. Wie dieser eiskalte Schock, der mich in diesem goldenen Saal regelmässig traf, fuhr dieser Film durch meine Knochen: eine Erweckung.
Es wirkte, als hätte der Regisseur die Studienunterlagen aller Heldenreise-Seminare, die er mutmasslich an Filmhochschulen besucht hat, geschreddert, mit dem Laubbläser in alle Richtungen geblasen und die Kamera aus zwanzig Metern Entfernung draufgehalten. Schäublin verstand es, mit seinem Erstling auf formaler und inhaltlicher Ebene neue Pfade einzuschlagen. Bewusst und provokativ bricht er mit seinem Stakkato aus hervorgestammelten Kundennummern und hingeworfenen Plotstückchen mit einer hergebrachten Dramaturgie. Seine unmöglich platzierte Kamera lässt uns die Sichtweise einer zufälligen Überwachungskamera einnehmen und nie vergessen, dass wir eine bestimmte Sichtweise auf diese Geschichte haben. Schäublin trat damit etwas los, was seither im Schweizer Film immer wieder zu sehen ist: der Mut, Bilder (schräg/von Weitem/end- und scheinbar bedeutungslos) stehen und wirken zu lassen. Dialoge werden in verzettelten Erzählungen dekonstruiert und zerfasert, Bedeutungen erschliessen sich, wenn überhaupt, nur über Umwege oder in kleinen, abgeschlossenen Momenten. Dieser Film, so schien mir, verweigerte sich systematisch jeglicher hergebrachter Les- und Erzählweise.
Als ich ihn danach fragte, formulierte es Schäublin selbst in einem Gespräch zu seinem zweiten Film Unrueh so: «Ein Gespräch mit einem Bankangestellten ist genauso eine Fiktion wie ein unterhaltender Filmplot. Die Frage ist, wer verfügt über das Zepter, um Plots als solche zu erzeugen? Wer produziert die Fiktionen, an welchen wir uns orientieren?»
Wer also macht sich daran, Geschichten über unsere Gesellschaft zu erzählen, und wie? Natürlich werden zu jeder Zeit konventionelle Filme wie Zwingli oder Platzspitzbaby geschrieben. Aber auch kleinere Produktionen wie Von Fischen und Menschen oder Beyto, um Beispiele der letzten Jahre zu nennen, orientieren sich an den Konventionen der grossen Leinwand und den vermeintlichen Regeln des Erfolgs – und den Erwartungen der Förderstellen, für die Erfolg primär kommerziellen Erfolg bedeutet. Die Plots, die Figuren, die Konflikte und deren Lösungen sind glasklar formuliert und gefilmt. Hier entstehen keine Missverständnisse, weder bei der Filmkommission, die das Drehbuch lesen muss und über Gelder entscheidet, noch beim Publikum, das von Anfang an weiss, mit welchem Gefühl es aus dem Kino entlassen wird. Schäublin, so viel war klar, wollte es anders machen.
Horizontales Erzählen
Wohl zur gleichen Zeit, als Schäublin an Dene wos guet geit schrieb, sass ich in einem Drehbuchkurs an der Zürcher Hochschule der Künste. Mit einem Freund erarbeitete ich das Buch für seinen Abschlussfilm und erlebte hautnah, wie dominant die «Idee einer starken Geschichte», wie Karrer es nennt, an der Filmschule ist. In einer Besprechung mahnte uns der Dozent – ein arrivierter Schweizer Regisseur – dazu, die Erzählung zu straffen, ansonsten wäre es kein Spielfilm. Was es denn sonst wäre, fragte ich. Ein Experimentalfilm, lautete die Antwort. Die Logik ist einfach: Ist es keine Held:innengeschichte, ist es keine Geschichte. Sie ist, im Verständnis vieler, die Urerzählung der Menschheit, eine anthropologische Konstante.

Réduit von Leon Schwitter

L'Îlot von Tizian Büchi

Foudre von Carmen Jaquier

Der Fleck von Willy Hans
Sind narrative Alternativen, die nicht im Kunstvideo enden, also überhaupt denkbar? Gibt es andere Vorbilder, Vordenker:innen? Die Sci-Fi-Autorin und feministische Denkerin Ursula K. Le Guin beschrieb im Jahr 1986 in einem kurzen, polemischen Text ihre «Carrier Bag Theory of Fiction». Sie erweiterte damit eine These der Journalistin Elizabeth Fisher, die in ihrem Buch «Women’s Creation» zum Schluss kam, dass das erste kulturelle Objekt der Menschheitsgeschichte wohl ein «recipient», das Gefäss oder die Tasche, war. Wie sonst hätte die Sammler:innengesellschaft, die hin und wieder auch jagte, ihre gesammelten Sachen oder Kinder mit sich herumtragen sollen? Le Guin denkt diese Sicht in Bezug auf die Erfindung der Erzählung weiter. Klar, jemand zog einmal aus, um ein Mammut zu erlegen, und kam zurück mit vernachlässigbaren Proteinen – und einer unschlagbaren Geschichte. Es ist diese Heldengeschichte – Gendern aus ihrer Sicht unnötig –, gegen die sie anschreibt:
«Wo ist dieses wunderbare, grosse, lange, harte Ding, ein Knochen, glaube ich, das der Affenmensch im Film zuerst auf jemanden einschlug und dann, grunzend vor Ekstase, weil er den ersten richtigen Mord begangen hatte, in den Himmel schleuderte […]? Ich weiss es nicht. Es ist mir auch egal. Ich werde diese Geschichte nicht erzählen. Wir haben sie gehört, wir haben alle von all den Stöcken und Speeren und Schwertern gehört, den Dingen zum Rammen und Stossen und Schlagen, den langen, harten Dingen, aber wir haben nicht von dem Ding gehört, in das man die Dinge steckt, dem Behälter für das, was darin enthalten ist. Das ist eine neue Geschichte.»
Ihre Geschichten also seien mehr «Anfänge ohne Enden» mit «mehr Tricks als Konflikten», dafür mit «weniger Triumphen als Fallstricken und Täuschungen». Kurzum: Aus der Tasche heraus erzählt es sich horizontaler als mit dem Messer in der Hand. Statt hierarchisch-patriarchal lässt es sich feministisch-egalitär sagen, der Held und seine dominante Geschichte verlieren an Bedeutung. Dreissig Jahre nach Le Guins Pamphlet scheinen diese Gedanken in den Köpfen einiger Schweizer Filmer:innen angekommen zu sein, heute sehen wir ihre Filme.
Natürlich haben die Schweizer:innen der Gegenwart nicht gleich das Kino neu erfunden. Diverse Strömungen wie das Slow Cinema mit Regisseur:innen wie Apichatpong Weerasethakul oder modernistische Werke aus Italien treiben in dieselbe Richtung. Nur in der Schweiz ist bisher ausser in ein paar Filmen des Jungen Schweizer Films und von Einzelfiguren wie Thomas Imbach abgesehen davon wenig hängengeblieben.
Die Welle bricht
Nach Schäublin kam erst die Pandemie, dann häuften sich die Filme, die seinem Beispiel folgten. 2022 legte er zuerst selbst mit Unrueh nach. Anarchist:innen im Jura verweigerten sich dem Plot, den ihnen der junge Bundesstaat auferlegte. Durch sattgrüne Wälder und unvermessene Landschaften schlängelten sich seine im Erstling erprobten, mäandrierenden Erzählbewegungen. Wieder platzierte er die Kamera unmöglich weit weg und liess seine Figuren in den Wald laufen. Wer hier mit wem weshalb eine Beziehung führt, interessiert diesen Film ganz im Sinne Le Guins mehr als mögliche Machtkämpfe zwischen Kapitalisten und Arbeiter:innen oder zwischen dem Staat und den Libertären.
Im gleichen Jahr erschien Drii Winter von Michael Koch. Wer hiervon nur schon die erste Einstellung gesehen hat, erkennt die Verwandtschaft auf formaler Ebene. Die Szene ist eine Geduldsprobe. Im Bild ein Felsblock, ein Stein, unverrückt an einer Passstrasse. Koch kostet dieses Bild aus, als wollte er sagen: Numä ned gsprängt, wir haben für diese Geschichte alle Zeit der Welt. Welche Geschichte denn? Tatsächlich leitet der Plot hier etwas gradliniger durch den Film. Doch die Kamera, die Dialoge, die gezeigte Natur, so scheint es, haben Anderes im Sinn. Die Figuren unterwerfen sich letztlich diesem Rhythmus; sich ergeben sich ihrem Schicksal. Held:innen sehen anders aus.

Drii Winter von Michael Koch
Ein weiteres Beispiel einer «gspürigen» Berggeschichte folgte im Jahr darauf: Foudre von Carmen Jacquier. 2023 bewegte diese Geschichte einer jungen Frau, die in der Alpenwelt des 19. Jahrhunderts ihre private sexuelle Revolution lebt, die Schweizer Leinwände. Gedankenversunken wird hier an Bachläufen gefläzt, kleinste Regungen fängt die Kamera mit feinfühliger Geduld ein, die altbekannte Schweizer Natur zwischen Maiensäss, Wald und Hühnerstall wird zur Kulisse für das, was wirklich zählt: das Zwischenmenschliche, das Geflecht der Lüste, die sensible Andersartigkeit, die Achtsamkeit der Figuren. Dieser Film stellt sie ostentativ zur Schau.
Freilich, nicht alle sensiblen Produktionen verweigern sich so stark den Konventionen wie Füür brännt oder Dene wos guet geit. Förderstellen und Ambitionen für eine Breitenwirkung oder das Bedürfnis, von der eigenen Arbeit leben zu können, tragen das Ihre dazu bei, wo man sich zwischen Le Guin und La La Land verortet. Foudre und Drii Winter finden sich wohl in der goldenen Mitte zwischen künstlerischer Eigenständigkeit und Breitenwirkung. Beide vertraten die Schweiz bei den Oscars und wurden mit Preisen eingedeckt, obwohl sie auf eine eigene, sensible Handschrift nicht verzichteten.
Leben im Fluss
Ein weiteres Beispiel ist ein Dokumentarfilm aus der Romandie. Dieser erforschte letztes Jahr die Regungen in einem Lausanner Bachtobel. L’Îlot von Tizian Büchi begleitet auf der Erzählebene zwei Sicherheitsangestellte bei ihrer Sisyphusarbeit, die Leute davon abzuhalten, den Bach und sein Beet zu betreten. Weshalb? Bah! So wichtig ist das doch auch nicht. Stattdessen lebt der Film von den langen Blicken ins Grün, von den Verflechtungen der Menschen an diesem Ort – jede Figur ein Gegenstand in der Tasche. Eine mystische Welt geht hier im Dickicht auf, in der die Gedanken wieder fliegen lernen.
Im vergangenen Jahr dann gab es kein Halten mehr. Die sensible Welle brach über das Schweizer Kino herein. Mit Electric Fields und Füür brännt stellte das Zürcher Sabotage-Kollektiv zwei Produktionen, bei Réduit von Leon Schwitter machte Füür brännt-Regisseur Michael Karrer auch den Schnitt und schrieb am Drehbuch mit. Man kennt sich. Lisa Gertsch drehte ihre Anthologie Electric Fields bewusst ausserhalb der Förderlogik. Anders wäre dieses sperrige Juwel in der Form wohl nie entstanden. Schwarz-weiss, doch mit einer verspielten Leichtigkeit, gehen lustige Einfälle über in einsame Wanderschaften durch den Wald und langgezogene Einstellungen im Niemandsland. Eine Sammlung kurzer Geschichten, mal verflochten, mal erratisch – eine bunte Tüte. In Electric Fields spielt der verwunschene Wald genauso seinen Part wie in Réduit. Die mit aller Geduld gefilmte Sturmböe am See in Gertschs Film wiederum spiegelt den in aller Stille dahinfliessenden Fluss in L'Îlot.
Zurück zum Fluss also, zum See, in den Wald, wo wir als Jugendliche unsere Tage verbrachten, wo wir erwachsen wurden und aus der Tasche lebten und erzählten. Wo ein Gefühl vorherrschte, das kein Held:innenkino je wird reproduzieren können. Das schafft nur die sensible Schweizer Welle.