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Hoehle 04

Die Höhle der vergessenen Träume

Die Hobbyforscher unter der Führung von Jean-Marie Chauvet stiessen im südfranzösischen Tal der Ardèche auf einen schmalen Spalt in der Wand, konnten aber zunächst nichts weiter Aussergewöhnliches erkennen, wie Werner Herzog zu Beginn des Films in seinem Kommentar erzählt. «Aber dann, tief im Inneren, fanden sie das hier.» Und nun sieht man zum ersten Mal nicht nur die ältesten derzeit bekannten Höhlenmalereien der Welt, sondern mit Die Höhle der vergessenen Träume einen der aussergewöhnlichsten Dokumentarfilme der letzten Monate.

Text: Michael Pekler / 11. Jan. 2012

Bevor die Kamera in das Dunkel eintaucht, geniesst sie noch einmal das Licht. Zwischen Weinstöcken hindurch nähert sie sich einer steil aufragenden Felswand, um schliesslich selbst in luftige Höhen aufzusteigen. Im nächsten Augenblick fliegt sie durch das südfranzösische Tal der Ardèche, vorbei am berühmten Felsdurchbruch Pont d’Arc, jener natürlichen steinernen Brücke, die sich über den Fluss spannt. Vielleicht ist die Gruppe von Höhlenforschern, die ganz in der Nähe dieses malerischen Naturschauspiels im Jahr 1994 nach einem Eingang in das Innere des Berges suchte, hier vorbeigekommen.

Die Hobbyforscher unter der Führung von Jean-Marie Chauvet stiessen wirklich auf einen schmalen Spalt in der Wand, konnten aber zunächst nichts weiter Aussergewöhnliches erkennen, wie Werner Herzog zu Beginn des Films in seinem Kommentar erzählt. «Aber dann, tief im Inneren, fanden sie das hier.» Und nun sieht man zum ersten Mal nicht nur die ältesten derzeit bekannten Höhlenmalereien der Welt, sondern mit Die Höhle der vergessenen Träume einen der aussergewöhnlichsten Dokumentarfilme der letzten Monate.

Eine «perfekte Zeitkapsel» nennt Herzog die nach ihrem Entdecker benannte Chauvet-Höhle, die neben 30 000 Jahre alten Darstellungen verschiedener eiszeitlicher Tierarten auch die älteste datierbare Fussspur eines Menschen offenbart. Und tatsächlich scheint es, als ob in der durch einen Felssturz versiegelten Höhle für Jahrtausende die Zeit stillgestanden wäre. Die über vierhundert Wandbilder von Höhlenlöwen, Mammuts, Wollnashörnern, Hyänen und Bisons stellen Momentaufnahmen dar, die eine verlorene Vergangenheit festhalten – und zugleich auf die Zukunft und somit unsere Gegenwart verweisen.

Doch wie nähert man sich mit einem aus nur vier Personen bestehenden Filmteam, das nur eine Woche lang jeweils für wenige Stunden am Tag auf einem schmalen Metallsteg die Höhle betreten darf, einem solchen Erbe? Wie kann man allen logistischen und technischen Schwierigkeiten zum Trotz – die Höhle wurde nach ihrer Entdeckung umgehend für die Öffentlichkeit gesperrt – von diesen einmaligen Zeichnungen ihnen gerecht werdende Filmbilder schaffen? Mit Respekt und Demut? Natürlich, aber wenn man Werner Herzog heisst, dann in erster Linie mit grosser Neugierde.

Und so sind es einerseits selbstverständlich die Aufnahmen aus der Höhle selbst, die diesen Film so bemerkenswert machen – immer wieder gleitet die Kamera von Peter Zeitlinger langsam den Felswänden mit den Malereien entlang und saugt sich an exquisiten Tropfsteinformationen fest. Und seit Langem erscheint endlich auch die 3D-Technik als sinnvolles Verfahren, wenn sie die Unebenheiten der Felsen spürbar macht und durch die Raumtiefe die den Malereien inhärente Bewegung – etwa einen galoppierenden Bison mit acht Beinen – erfasst. In gleicher Weise liegt das Bemerkenswerte dieses Films aber auch an Werner Herzogs einzigartigem filmischem Zugang, der seit einigen Jahren seine dokumentarischen Arbeiten kennzeichnet. Es ist, wie der amerikanische Kritiker Roger Ebert sinngemäss einmal meinte, Herzogs visionärer und unnachgiebiger Forscherdrang, mit jedem neuen Film auch für den Zuschauer neue Erfahrungen zuzulassen.

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Und so gesellt sich auch diesmal zur Neugierde eine echte oder zumindest grossartig vorgegaukelte Naivität, mit der Herzog nicht nur staunend die «Sixtinische Kapelle der Steinzeit» durchmisst, sondern mit der er – wie schon in seinem Antarktis-Film Encounters at the End of the World – auch der sie untersuchenden Wissenschaft begegnet. Denn auch Herzog betreibt eine Art von Ausgrabung, wenn er sich jenen Frauen und Männern zuwendet, für die die ChauvetHöhle zum Lebensmittelpunkt geworden ist. Herzog ist fasziniert von dieser Leidenschaft für die Wissenschaft – in seinen Spielfilmen findet eine andere Leidenschaft der Figuren ihr Ventil – und denkt diese unmittelbar mit dem Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses zusammen. So erzählt etwa der junge Archäologe Julien Monney auf Herzogs Bitte hin von seiner Vergangenheit beim Zirkus und dass er, nachdem er zum ersten Mal in der Höhle gewesen sei, von Löwen geträumt habe. Vom ehemaligen Leiter des Forschungsprojekts, Jean Clottes, lässt sich Herzog die Kunst des prähistorischen Speerwurfs demonstrieren und kommentiert dessen klägliche Versuche mit einem «Aber die paläontologischen Jäger konnten das besser!» Und der experimentelle Archäologe Wulf Hein gibt auf einer eiszeitlichen Flöte «The Star-Spangled Banner» zum Besten.

Diese Gespräche sind weit mehr als eingestreute Interviews, die den Aufnahmen aus dem Inneren der Höhle zu Seite stehen, zu denen Herzog die sakralen Klänge des Komponisten Ernst Reijsegger anschwellen lässt. Erst die Unterredungen mit den Menschen, die an einem solchen Ort arbeiten (oder in einer Antarktis-Station wie in Encounters at the End of the World oder in einem Luftschiff über Guyana wie in white diamond), machen die exquisiten Schauplätze von Herzogs Filmen zu dem was sie sind. Denn diese Gespräche sind Tiefenbohrungen in die menschliche Seele und Kultur, die Herzog seit seinen frühen Arbeiten beschäftigt. «Es ist als ob hier die Seele des Menschen explodierte», meint er einmal in Die Höhle der vergessenen Träume, und was er immer in seinen Filmen sucht, sind die bis heute wahrnehmbaren Erschütterungen dieser Explosion in uns allen.

Es geht also um das Unverständliche und um das Nichtige angesichts des Unverständlichen. Der übermenschliche Faktor, mit dem Herzogs bekannteste Spielfilme mit Klaus Kinski nach wie vor assoziiert werden, war immer nur Ausdruck dieser Dichotomie. Und auch die beiden jüngsten Spielfilme Bad Lieutenant: Port of Call New Orleans und My Son, My Son What Have Ye Done?, mit denen Herzog unlängst auch im internationalen Festivalgeschehen wieder überraschend populär wurde, beziehen ihre eigentliche Stärke aus dieser Spannung. In Die Höhle der vergessenen Träume ist das Unverständliche das Erhabene, das die Malereien von unbekannter Hand auf uns heute ausüben. Doch welcherart ist das Überwältigende? Was lässt das Grosse überhaupt gross sein? Und haben nicht auch Zwerge einmal klein angefangen?

Herzogs späte Dokumentarfilme besitzen eine Qualität, die die österreichische Schriftstellerin Gerhild Steinbuch («Menschen in Kindergrössen») unlängst als «merkwürdiges Oszillieren zwischen Suggestion und Selbstinszenierung» beschrieb. Und tatsächlich kommt all das, was diesem Film eine philosophische Schwere bereiten könnte – die ewige Analogie von Höhlengleichnis und Kino, die Deutung der Malereien als Traumlandschaften –, mit derselben Leichtigkeit daher wie die Tanzschritte von Fred Astaire, den Herzog in einem kurzen, ironisch platzierten Filmausschnitt gegen den eigenen Schatten antanzen lässt.

Am Ende von <<Bad Lieutenant sieht man Nicolas Cage vor einem riesigen Aquarium sitzen und sich fragen, ob auch Fische träumen. In dem grossartigen Epilog von <<Die Höhle der vergessenen Träume fährt Herzog von der Chauvet-Höhle ein paar Kilometer weiter ins Rhone-Tal – und findet ein Kernkraftwerk. In einem botanischen Garten, der durch das warme Wasser des Reaktors prächtig gedeiht, gleiten Alligatoren lautlos durch die künstlich blühende Landschaft. Zwischen ihren Artgenossen tummeln sich auch Albinos, die es Herzog besonders angetan haben. Sie sind exzentrische Aussenseiter, einer Laune der Natur geschuldet oder der radioaktiven Strahlenbelastung? Was sich die dinosaurierartigen Tiere wohl denken würden, sinniert Herzog, wenn sie eines Tages durch die vom Menschen verursachte Klimaerwärmung bis zur Chauvet-Höhle kämen? Wovon würden sie träumen?

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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