Kunst und Politik sind bei Ken Loach untrennbar miteinander verbunden. Er macht auch mit fast 80 Jahren sozial engagierte Filme, die bewegen. Ein Interview zu I, Daniel Blake, mit dem er die Palme d'Or in Cannes gewonnen hat.
Filmbulletin Sie waren ein Pionier, gehörten zu den Ersten, die mit der Kamera aus den Studios auf die Strasse gingen. Wie kam es dazu?
Ken Loach All dies scheint mir sehr weit zurückzuliegen … Ich habe bei der BBC angefangen, als man noch mit Muskelkraft riesige elektronische Kameras rumschob. Alles wurde inszeniert, und man bewegte sich von Dekor zu Dekor, wie im Theater. Nach einiger Zeit hatte ich Lust, auf die Strasse zu gehen, wollte ganz einfach mit dem richtigen Leben in Kontakt sein. Der erste Fernsehfilm, den wir mit der Kamera auf der Schulter drehten und wo wir der Handlung hinterherrannten, wurde in vier Tagen draussen und einem Tag im Studio gedreht. Die Verantwortlichen waren wütend, weil sie grosse Mühe hatten, den Film zu montieren. Schliesslich gelang es ihnen. Das Befriedigendste daran war zweifellos das Gefühl von Freiheit, das wir während der Dreharbeiten verspürten.
Im Anschluss an Cathy Come Home (1966), der das immer prekärer werdende Leben einer Familie schildert, haben uns Regierungsbeamte empfangen und uns dafür gedankt, dass wir ihnen die Augen für eine bestimmte Wirklichkeit geöffnet hätten. Ich erinnere mich, dass ich sie ganz unschuldig und naiv gefragt habe, was sie denn für diese Art von sehr realen Fällen tun könnten. Sie haben uns nett und geduldig erklärt, was für Hindernisse zu überwinden wären, um zu einer befriedigenden Lösung zu gelangen. Da habe ich gelernt, dass Lösungen nicht von den Leuten kommen, die uns regieren. Das war eine echte Lektion.
Diese Fernsehfilme zeigten Wirkung. Könnte man heute mit einer Rückkehr zum Fernsehen ein grösseres Publikum als mit dem Kino erreichen?
Heutzutage schnappt sich das Fernsehen viele Filme und bringt sie von der Leinwand auf den kleinen Bildschirm. Was das Programm angeht, hat sich das Fernsehen sehr verändert, vor allem wegen der Kontrolle der Inhalte. Dannzumal konnte man eine Sendung machen und wurde anschliessend zensuriert. Heute verhindert eine ganze Reihe von Schranken im Prozess der Programmentwicklung, dass Sie den Film Ihrer Wahl machen können. Für mich handelt es sich dabei um eine Form von Zensur.
I, Daniel Blake zeichnet den Weg eines Mannes in den Sechzigern mit gesundheitlichen Problemen, der zum ersten Mal in seinem Leben gezwungen ist, sich an die Sozialhilfe zu wenden. Er begegnet einer alleinerziehenden Mutter in prekären Verhältnissen. Wie Sie im Film zeigen, liegt das Heil in der Solidarität zwischen den Individuen.
Ja, ich glaube sehr an diesen Wert. Das ist die Essenz des Kampfs der arbeitenden Klassen. Die Leute können aufbegehren, sich gegenseitig helfen. Und man weiss, dass diejenigen, die wenig haben, oft grosszügiger sind als die, die viel besitzen.
Bei Ihnen ist die Kunst untrennbar mit der Politik verbunden …
Ich glaube nicht, dass sich Kunst von Politik trennen lässt. Die Kunst ist eine Abstraktion, die ich nicht verstehe. Malt man eine Figur auf eine Leinwand, muss man wissen, was für eine Textur man ihrer Haut geben will. Sogar fürs Kino gilt, dass die Textur der Haut einer reichen Person nicht dieselbe ist wie die einer armen. Die Aufgabe eines Regisseurs ist, meiner Meinung nach, den Zustand der Welt einzufangen, so wie er wirklich ist. Die Idee, dass Kunst, dieser etwas abgedroschene Begriff, von der Welt getrennt wäre, scheint mir absurd. Es gibt eine Redewendung, die ich schätze: «Zeigt man die Dinge, wie sie sind, berührt man die Herzen aller.» Je mehr man an Künstlichkeit hinzufügt, desto stärker hält man die Leute fern von der Erfahrung der Schicksale, die man zeigt.
Das Ziel ist also aufzeichnen, zeigen und die Dinge verändern, die Sie beschäftigen?
Kino ist ein hervorragendes Medium. Alles ist drin! Aber ein Film ist keine politische Bewegung. Im Übrigen, wenn ich einen Slogan zitieren müsste, würde ich sagen: «bewegen, erziehen, organisieren». Das Kino vermag, Unruhe zu produzieren, nachher ist jedermann frei zu handeln oder nicht. Oft vergleiche ich die Kamera mit dem menschlichen Auge. Betrachtet man die Welt mit einem menschlichen Auge, reagiert man mit Menschlichkeit. Zumindest hoffe ich dies.
Dave Johns, der Darsteller von Daniel Blake, hat zugegeben, dass er das Ende des Films nicht gekannt habe, bevor es gedreht wurde …
In der Tat gebe ich den Schauspielern das Drehbuch nach und nach, damit sie dem Lauf der Entwicklung der Figuren folgen. Das macht Sinn, nicht wahr? Das entspricht dem, wie wir leben, man weiss nicht, in welchem Moment unser Leben eine Wendung nimmt oder gar, wann es aufhört (lacht).
Ich habe meine Karriere als Theaterschauspieler begonnen. Diese Erfahrung hat mich gelehrt, wie sehr Schauspieler verletzlich sind, hat mir gezeigt, was sie verängstigt oder umgekehrt, was ihnen Vertrauen einflösst. Ich erinnere mich an eine Episode aus der Zeit, als wir fürs Fernsehen Sendungen machten. Zehn Tage vor der Aufnahme organisierten wir für die Schauspieler Drehbuchlesungen. Trotz Lampenfieber waren die Auftritte hervorragend, und zwar nur, weil die Schauspieler sich gegenseitig beeindrucken wollten und alles gaben! Nach zwei Wochen Dreharbeiten führte das aber zur Katastrophe. Ich hatte die Instinkte der Schauspieler zerstört. Aus diesem Irrtum habe ich gelernt und beschlossen, nie mehr eine vollständige Drehbuchlektüre zu machen. Die instinktive Reaktion der Schauspieler ist das Kostbarste für den Regisseur. Seitdem konzentriere ich mich auf die Situation der Figuren zu Beginn des Films und auf die Gruppendynamik, um mit dem richtigen Fuss in die Geschichte, die man erzählen will, einzusteigen.
Ein Kino des Moments?
Ja. Und was die dramatischen Höhepunkte der Szenen angeht, auch hier gilt, dass die ersten Aufnahmen sehr oft die besten sind. Man kann das mit dem Schachspiel vergleichen: Ich mache einen Zug, dann überlege ich mir den nächsten und halte im Hinterkopf, dass der Krisenherd sich bewegen, der kritische Moment kommen wird.
Paul Laverty, Ihr Drehbuchautor, arbeitet seit den neunziger Jahren mit Ihnen. Wie wichtig ist sein Beitrag?
Die Antwort ist einfach, die meisten Regisseure können nicht schreiben. Der Beitrag der Drehbuchautoren scheint mir deshalb essenziell. Paul schreibt hervorragend! Es ist falsch, dem Regisseur alle Meriten zuzuschreiben, denn oft ist der Szenarist der erste kreative Meilenstein in der Arbeit. Die Realisation beginnt da, wo es bereits Wörter gibt. Zum Beispiel hat der eine Drehbuchautor etwa das Talent, eine Dialoglinie so zu schreiben, dass sie den Zustand einer Figur perfekt wiedergibt. Im Lauf meiner Karriere habe ich mit fünf oder sechs Drehbuchautoren gearbeitet, alle waren sehr verschieden. Manche beherrschen die Kommaregeln und anderes nicht. Doch gelingt es ihnen, Figuren als echte Personen zu zeichnen, sind sie Gold wert!
Ihre Filme leben von einem grossen Gespür für die Wirklichkeit. Ist naturalistisches Kino zu machen, so harte Arbeit, wie die Gebrüder Dardenne sagen?
Sicher, man ist sich dessen nicht bewusst. Für I, Daniel Blake sind wir durch das ganze Land gereist, um mit eigenen Augen die Realität des Kampfs zu sehen, den die Leute im Alltag führen. Unsere Rundreise hat dann in Newcastle geendet, das stark von der Geschichte der Arbeiterbewegung geprägt ist. Aber die Wirklichkeit, die die Leute leben, ist nicht schwierig zu finden. Jede Woche können Hunderte von Leuten ihren Hunger nicht stillen. Viele davon müssen sich zwischen Essen oder Heizen entscheiden. Als wir die Szene in der Lebensmittelabgabestelle drehten, war die Atmosphäre gedrückt, denn die Leute, die wir da filmten, arbeiteten wirklich in solchen Abgabestellen. Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass es gelingt, die Welt einer Szene auch ausserhalb des Bildrahmens zu erschaffen. Das Arbeitslosenamt wurde gleich gebaut, wie man es in der Wirklichkeit finden kann. Die Angestellten, die man sieht, waren alle an diesen Gesprächen mitbeteiligt, und die meisten haben diese Arbeit aufgegeben, weil die Leute so behandelt werden. Es wird erwartet, dass sie genügend Leute pro Woche sanktionieren, sonst werden sie gemahnt oder schlimmer, sie verlieren gar ihren Job.
Naturalismus heisst auch, den Darstellern zu gestatten, ihrer Figur so nah wie möglich zu bleiben. Sobald man den Kontext von der Figur trennt, wird alles mechanisch anstatt organisch. Die Anstrengung in diese Richtung lohnt also.
Im Film sprechen Sie von der Banalität des Bösen, der Rationalisierung eines Systems, das zum Scheitern verurteilt scheint. Was hält Sie davon ab, pessimistisch zu werden?
Ich denke, man muss die kleinen Siege feiern, denn aus ihnen zieht man Kraft. Die Art und Weise, wie unsere wirtschaftlichen Systeme sich entwickelt haben, hat immense Interessenkonflikte produziert. Jedermann kämpft für die Erhaltung seiner Privilegien, und je mehr die Leute unter Druck stehen, desto mehr tendieren sie dazu, unverschämt, ja gar grausam zu sein. So beobachtet man Missbrauch. I, Daniel Blake zeigt, was die Bürokratie mit den Werken Kafkas gemein hat. Wohin man sich auch immer wendet, überall stösst man auf ein Hindernis. Man nimmt teil an einem System, das dem Untergang geweiht ist, dem es aber in seinen subversiven Aspekten durchaus gelingt, die Leute davon zu überzeugen, sich voneinander abzukehren, indem es sie von ihrer Schuld überzeugt, indem es ihnen ihre Handlungsspielräume verbirgt.
Wo findet sich Hoffnung Ihrer Meinung nach?
Die Hoffnung liegt im Zorn. Einer der Gründe, die mich bezüglich unseres Austritts aus der Europäischen Union traurig stimmt, ist, dass man damit die Möglichkeit kappt, den Zorn in den verschiedenen Ländern miteinander zu verbinden. Ich bin überzeugt, dass Zorn konstruktiv sein kann. Wir leben in einer Welt, in der er sich sehr unterschiedlich äussert, manchmal auch ganz verstörend – ich denke dabei natürlich an den internationalen Terrorismus. Niemand will ihn rechtfertigen, aber die Welt generiert die ihr eigentümlichen Arten von Wut, ihre eigenen Verirrungen