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The Descendants

Der Archipel Hawaii, obwohl der fünfzigste Bundesstaat der USA, pflegt immer noch ein vom Kontinent unabhängiges Image, das viel mit Blumenketten, Palmwedeln und Folklore, aber wenig mit Alltag und Business zu tun hat. Auf diesen Widerspruch macht The Descendants beiläufig aufmerksam, der jüngste Film des für soziale Beobachtungen besonders begabten Regisseurs Alexander Payne. Wie schon in About Schmidt (2002) und Sideways (2004) interessiert ihn auch hier vor allem die Verfasstheit des männlichen Gemüts, und da er nicht zum Dramatisieren neigt, wirken seine Filme authentisch und plausibel.

Text: Daniela Sannwald / 11. Jan. 2012

Der Archipel Hawaii, obwohl der fünfzigste Bundesstaat der USA, pflegt immer noch ein vom Kontinent unabhängiges Image, das viel mit Blumenketten, Palmwedeln und Folklore, aber wenig mit Alltag und Business zu tun hat. Auf diesen Widerspruch macht The Descendants beiläufig aufmerksam, der jüngste Film des für soziale Beobachtungen besonders begabten Regisseurs Alexander Payne. Wie schon in About Schmidt (2002) und Sideways (2004) interessiert ihn auch hier vor allem die Verfasstheit des männlichen Gemüts, und da er nicht zum Dramatisieren neigt, wirken seine Filme authentisch und plausibel.

Der mit dem Eintritt in sein sechstes Lebensjahrzehnt noch einmal soignierter gewordene George Clooney ist der Hauptdarsteller von The Descendants; meist in Shorts und sehr unansehnlich gemusterte Hemden gekleidet, die Haare etwas zu lang, wirkt er bieder und beinahe unattraktiv. Diese Charakteristika unterstreicht er durch eine physische Unbeholfenheit, eine leichte Steifheit, die sich insgesamt als tiefe emotionale Verunsicherung auswirkt. Das ist keine Glamour-Rolle, und man kann gerade deswegen nicht umhin, das grosse schauspielerische Talent Clooneys zu bewundern.

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Er verkörpert den Anwalt Matt King, der in Geschäften auf eine der Nachbarinseln gefahren ist, als seine Frau nach einem Rennboot-Unfall ins Krankenhaus eingeliefert wird. Sie liegt im Koma, und Matt sieht sich plötzlich mit zwei Töchtern konfrontiert, um die er sich bisher wenig gekümmert hat, und mit Details aus dem Leben seiner Frau, von denen er keine Ahnung hatte. Schliesslich macht ihn sein Schwiegervater sogar für den Unfall seiner Tochter verantwortlich. Für den bis dahin ständig abwesenden Vater und Ehemann beginnt eine Zeit der Umorientierung; er muss feststellen, dass die neunjährige Scottie mit verbalen Obszönitäten Lehrer und die Eltern ihrer Mitschülerinnen verärgert. Und als er deren acht Jahre ältere Schwester Alexandra zu seiner Unterstützung aus dem Internat abholt, hat die nicht viel Lust, sich mit ihrem Vater auseinanderzusetzen, sondern holt einen alten Freund ins Haus, den Matt zunächst nicht leiden kann. Ausserdem hat Matt den Verdacht, dass sie Drogen konsumiert, auch das ein Zeichen dafür, wie wenig er seine Tochter kennt, die wesentlich pragmatischer und realitätstüchtiger ist als er selbst. Erst ganz allmählich entdecken alle vier, was sie aneinander haben.

Alexander Payne hat auf jede Rührseligkeit verzichtet und eindringliche Szenen geschaffen: Da streitet sich der Vater lautstark mit seinen Töchtern am Bett der im Koma liegenden Mutter, ein anderes Mal beschimpft er seine Frau, was angesichts ihres hilf- und wehrlosen Zustands fast wie eine physische Aggression wirkt. Eine Freundin kommt ans Bett und schminkt die Patientin, weil diese sich angeblich nie ohne Make-up in der Öffentlichkeit gezeigt habe. «Du hast eine Leiche geschminkt», wird Matt King später zu dieser Freundin sagen. Nichts von Pietät und gesenkten Stimmen am Bett der Koma-Patientin, stattdessen wird sie nach wie vor als Familienmitglied behandelt und von Matt möglicherweise so intensiv wahrgenommen wie seit Jahren nicht. Dass es um seine Ehe nicht gut stand, begreift er erst jetzt – auch die eigene Schuld daran.

Die zweite Erzählebene ist die spezifisch hawaiianische. Gleich zu Beginn des Films, der stellenweise von Matts innerem Monolog als Voice-over begleitet wird, heisst es, dass Hawaii immer mit dem Paradies assoziiert würde, obwohl dort doch ganz normales Leben herrsche, während die Kamera Strassenszenen einfängt: Obdachlose, Behinderte, Bettler, Arme, Alte, Hilflose, ein geschäftiges Marktviertel, Bürotürme aus Glas und Stahl. Später sieht man eine Versammlung der einflussreichsten Leute in Hawaii, die sich durch extrem legere Kleidung und insgesamt durch ein beinahe ungepflegt wirkendes Äusseres auszeichnen. «Lassen Sie sich nicht irritieren», wendet sich die Stimme Matt Kings im Off direkt an die Zuschauer, «die mächtigsten Leute hier sehen aus wie Stadtstreicher und Vertreter.»

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Die Versammlung besteht im Wesentlichen aus Matts Cousins, die darauf warten, dass ein riesiges Stück Land an einen Trust verkauft wird, der darauf ein Ferienresort errichten will. Das würde die ohnehin gut Betuchten schwerreich machen, und das hätten sie gern. Aber Matt als Treuhänder muss zustimmen. Ganz am Rande wird also noch ein Konflikt gestreift: der ethnische zwischen den ehemaligen weissen Kolonisatoren und den polynesischen Ureinwohnern, den es bei aller Völkervermischung und der kruden Aneignung des «Aloha Spirit» durch Werbung und Massenmedien natürlich trotzdem gibt.

Am Ende des Films ist Matt King ein bisschen besser geworden, und dass man diesem Prozess gern folgt, liegt wiederum an der Darstellung George Clooneys: Ein Zucken im Gesicht, ein Blick, eine angedeutete Bewegung, mehr braucht er nicht, um eine existentielle emotionale Verstörung glaubhaft zu machen. Wenn er zum ersten Mal hört, dass seine Frau fremdging und in einem Anfall von Atavismus die Schultern rollt und zum Sprung ansetzt. Wenn er am Strand dem vermeintlichen Liebhaber seiner Frau hinterherjoggt und feststellen muss, dass er ihn nicht einholen kann. Wenn er Trost bei dem von ihm eigentlich verachteten Freund seiner Tochter sucht. Und Alexander Payne ist wieder einmal ein grossartiges Porträt eines Mannes in der Krise gelungen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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