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Alejandro Jodorowsky

Der chilenische Regisseur Alejandro Jodorowsky erhält dieses Jahr am 69. Festival del film Locarno den Pardo d’onore Swisscom. Jodorowsky sprach mit uns über das Therapeutische an der Kunst, über Spiritualität und Starallüren.

Text: Frank Arnold / 19. Juli 2016

Sein Name schien zu einer anderen, längst vergangenen Epoche des Kinos zu gehören: den «Midnight Movies», die Mitte der siebziger Jahre in nächtlichen Vorführungen ein treues Publikum jenseits des Mainstreams fanden. In der Filmdokumentation Midnight Movies – From the Margin to the Mainstream von Stuart Samuels (2005) war Alejandro Jodorowsky einer der zentralen Gesprächspartner, der mit El Topo (1970) und Montana Sacra (1974) gleich zwei Filme beisteuerte, die er beide nicht nur geschrieben und inszeniert hatte, sondern in denen er auch die Hauptrolle verkörperte: eine bizarre Mischung aus Italowestern, Surrealismus und Schamanentum – Trips, die auch ohne die Einnahme von Drogen funktionierten.

Es schienen ihm alle Türen offen zu stehen; John Lennon hatte die Produktion von Montana Sacra finanziell unterstützt, Dennis Hopper ihn bei The Last Movie als spirituellen Berater hinzugezogen. Jodorowsky ergriff die Chance und plante sein Opus magnum, die Leinwandadaption von Frank Herberts Science-Fiction-Epos «Dune» als überlanges Werk. Nach dessen Scheitern konnte er nur noch wenige Spielfilme drehen, wandte sich stattdessen der bande dessinée zu, so wie er zuvor auch schon Theaterstücke geschrieben hatte. Die Liste seiner Buchveröffentlichungen ist lang, die meisten sind nur auf Spanisch erschienen, auf Deutsch liegen allerdings mehrere erzählerische Werke vor, ebenso «Das Praxisbuch der Psychomagie» und «Der Weg des Tarot».

Mit der Premiere von La Danza de la Realidad beim Filmfestival von Cannes im Mai 2013 kehrte Jodorowsky ins Licht der Öffentlichkeit zurück. Er begeisterte im Sommer das Publikum bei der deutschen Premiere im Rahmen des Filmfests München, das ihm zudem eine Werkschau widmete, und im Herbst beim Festival «Around the World in 14 Films» in Berlin. Nun wird La Danza de la Realidad auch in der Deutschschweiz im Rahmen des Wettbewerbs «Cutting Edge» von «Bildrausch – Filmfest Basel» vom 28. Mai bis 1. Juni zu sehen sein. Brontis, einer der Söhne von Alejandro Jodorowsky und Hauptdarsteller, wird in Basel anwesend sein.

Gerade sind auch seine drei Filme El Topo, Montana Sacra und Fando y Lis (1968) von dem rührigen DVD-Label «Bildstörung» auf DVD und Blu-ray veröffentlicht worden, die hochwertige Edition bietet sie in einer Box an mit Audiokommentaren von Jodorowsky, der abendfüllenden Dokumentation La Constellation Jodorowsky von Louis Mouchet (Schweiz, 1994) sowie seinem wiederentdeckten Regiedebüt, dem Kurzfilm La Cravate (1957), und weiterem Bonusmaterial (etwa dem Gespräch zwischen Jodorowsky und Nicolas Winding Refn im Rahmen des Münchner Filmfests).

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Filmbulletin Im Vorwort zu Ihrem Roman «Donde mejor canta un pajaro» (1992; deutsch: «Wo ein Vogel am schönsten singt», 1996) schreiben Sie, dass die Geschichte Ihrer Grosseltern, die Sie dort erzählen, vielleicht nicht unbedingt wahr ist, dass Sie auch etwas erfinden würden. Fühlten Sie sich bei der Geschichte Ihres Vaters, die Sie in La Danza de la Realidad erzählen, mehr an die Realität gebunden?

Alejandro Jodorowsky Ja – alles ist wahr, aber in Kunst verwandelt. Mein Vater hat nie ein Attentat auf den Diktator verübt, aber meine ganze Kindheit über davon geredet. Meine Mutter wollte immer Opernsängerin werden, das war zeit ihres Lebens ihr Traum – aber ihr Vater hat sie mit dem Stock geschlagen und hat aus ihr eine Verkäuferin gemacht, sie konnte ihren Traum also nie in die Tat umsetzen. Auch dass die Fische aus dem Wasser an den Strand gekommen sind, habe ich selbst gesehen. Das Meer war voller Gift und die armen Menschen sammelten die Fische ein, assen sie und wurden davon krank. Als ich jetzt den Film drehte, wies ich die Menschen darauf hin, wie es schliesslich Wirklichkeit geworden ist, die Umweltverschmutzung ist wahrscheinlich für das Fischsterben verantwortlich. Für mich ist dieser Film zu Beginn vollkommen real, dann verwandelt sich die Wirklichkeit in Kunst. Die Szene mit den Fischen und den Vögeln, die in einer eigenartigen Formation fliegen, ist übrigens der einzige digitale Effekt im ganzen Film.

La Danza de la Realidad ist nicht Ihre erste künstlerische Auseinandersetzung mit der Figur Ihres Vaters …

In El Topo gibt es die Figur des Generals, den ich töte, der kleine Sohn – das bin ich; in Montana Sacra gibt es den weisen Mann. Mein Vater war immer anwesend, aber erst jetzt habe ich mich entschlossen, zur Realität zurückzukehren und diese nicht metaphorisch zu behandeln.

Sie brauchten dafür eine lange Zeit …

Mein Verstand war nicht bereit dafür! Ich konnte meinen Vater nicht kritisch erfassen, wohl aber spirituell. Das ist ja nicht dasselbe. Nach so vielen Jahren geht das jetzt besser.

Haben Sie mit Ihren eigenen Söhnen schon vorher über dieses Thema gesprochen oder haben die davon erst durch die Arbeit an diesem Film erfahren?

Nein, das hatten wir schon besprochen. Aber dadurch, dass wir diesen Film gemacht haben, haben sie begriffen, wie schrecklich ich als Vater wirklich war. Unser Verhältnis hat sich geändert, wir sind mittlerweile gute Freunde geworden.

Sie haben erwähnt, dass Sie Ihrem ersten Sohn Brontis nach seiner Geburt kein guter Vater waren …

Ich war ein ziemlich distanzierter Vater, ich war noch nicht darauf vorbereitet, Vater zu sein. Als mein erster Sohn zur Welt kam, habe ich nicht geglaubt, dass er mein Sohn ist. Etwas fehlte in unserer Beziehung. Also sagte ich zu ihm: «Ich liebe dich, aber ich habe das Gefühl, dass du nicht mein Sohn bist.» – «Ja, das spüre ich», erwiderte er. Also machten wir einen Vaterschaftstest, der mit neunundneunzig Prozent Sicherheit ergab, dass er mein Sohn ist. Daraufhin hat sich die Beziehung geändert. Wir haben keine Angst, uns diesen Problemen zu stellen. Immer, wenn es in unserer Familie ein Problem gibt, machen wir ein Familientreffen und sprechen darüber.

Als Brontis dann in La Danza de la Realidad die Rolle seines Grossvaters gespielt hat, hat er geweint, weil er plötzlich komplett in diesen Familienstammbaum eingetreten ist. Mein Vater zu sein, hat ihm das gegeben, was ich ihm damals nicht geben konnte. Am Schluss sind wir wie Brüder gewesen, plötzlich war der ganze Generationenkonflikt nicht mehr da.

Verstehen Sie den Film auch als einen Akt der Psychomagie?

Ja. Zuerst geht es um mich, aber danach auch um meine Kinder. Denn als sie gesehen haben, woher ich komme, haben sie einen Schock bekommen. Und schliesslich geht es auch um den Ort, wo die Geschichte spielt, denn der ist eigentlich auf der Landkarte vergessen worden. Es hat sich in Tocapilla kaum etwas verändert, seit ich damals fortgegangen bin. Für die Einwohner ist es purer Wahnsinn, dass man dank des Films überall auf der Welt plötzlich ihre Stadt sieht, die sie so sehr lieben. Sie wissen, dass sie alle mit grosser Wahrscheinlichkeit an Krebs sterben werden, weil es da eine Fabrik gibt, die alles vergiftet hat. Ich glaube auch, dass die Kunst etwas Therapeutisches ist. Das Kino ist ein Kino der Unterhaltung, man entspannt sich zwei Stunden lang. In den zwanzig Jahren, in denen ich keine Filme gemacht habe, habe ich sehr viel gelitten, ich habe jeden Tag zwei Filme gesehen – keiner von denen hat mein Leben verändert. Ich habe mir gesagt, die Kunst muss doch irgendetwas verändern, sie muss dir doch irgendetwas geben. Wenn ich die Welt verändern möchte, muss ich anfangen, mich zu verändern. Und was passiert, wenn ich mich verändere? Dann bereichere ich die Welt! Ich gebe ihr das, was man
mir gegeben hat.

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Ihre Familiengeschichte war immer sehr wichtig für Sie. In «Donde mejor canta un pajaro» erzählen Sie von Ihren Grosseltern: Was war dafür die faktische Basis? Die Erzählungen Ihrer Mutter?

Das war nur eine der Quellen. Ich habe meine Informationen aus vielen Quellen bezogen: aus Briefen, Fotos, aus dem, was die Grosseltern mir selbst erzählt hatten. Es war ein Familiengeheimnis, denn mein Vater schämte sich für den Namen Jodorowsky. Er wollte immer nur bei seinem Vornamen Jaime / Jimi genannt werden, Jodorowsky existierte für ihn nicht. Er stellte sich immer als Russe vor, ich wusste nicht, dass er jüdisch war, das erfuhr ich erst, als ich dreizehn Jahre alt war. Halb Chile stand damals aufseiten der Nazis, die andere Hälfte war für die Amerikaner. Er brachte mich damals in ­eine Schule, die von Deutschen geleitet wurde. Da konnte ich mich mit niemandem anfreunden, ich führte vielmehr Krieg gegen alle. Sechs Jahre später war ich der Beste in meiner Klasse, erst da akzeptierten sie mich. Meine Mutter erzählte immer, dass ihr Vater ein Tänzer war. Tatsächlich wurde ihre Mutter in Russland vergewaltigt, sie war das Kind einer Vergewaltigung, die Tochter eines Kosaken. Dafür schämte sich die Familie.

Der Antisemitismus, den Sie im Film zeigen, ist sehr ausgeprägt. Haben Sie selber, als Sie später nach Mexiko kamen, dort etwas Ähnliches erlebt?

Nein, nie! Aber in Chile war der damals wirklich stark.

Es gibt die grossartige Szene spät im Film, wo die Hauptfigur auf der Strasse einer Gruppe Nazis begegnet und sich wie ein Superman verhält – auf dem Soundtrack haben Sie das mit Toneffekten unterlegt, die etwas Comichaftes haben …

Ja, und die Nazis schreien wie Babys. In Chile hatten sie etwas sehr Unwirkliches, es war wie ein Spiel, wie Karneval.

Hegte Ihr Vater in späteren Jahren Zweifel an Stalin?

Am Ende seines Lebens war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Die Polizei verhaftete und folterte ihn. Dadurch vergass er alles. Vielleicht hat er unter der Folter einiges verraten, denn als er zurückkam, hat er sich nicht mehr für die Kommunistische Partei engagiert. Er war kreidebleich und sprach mit niemandem, ich war damals dreizehn, vierzehn Jahre alt.

Es gibt mehrere Mitglieder Ihrer Familie, die am Film mitgearbeitet ­haben …

Mein Sohn Brontis spielt im Film die Rolle meines Vaters, Adan Jodorowsky spielt den Anarchisten, der sich selber tötet, zudem komponierte er die Musik für den Film, Axel (Cristobal) Jodorowsky spielt den Theosophen, meine Frau Pascale machte die Kostüme und half mir bei der Farbgestaltung, denn sie ist eigentlich Malerin. Und die kleine Frau auf dem Bild ist die Tochter der kleinen Frau aus El Topo.

Werden sie auch bei Ihren künftigen Projekten dabei sein?

Wenn es möglich ist, ja. In der Fortsetzung von Montana Sacra wird mein Sohn Brontis wieder dabei sein, auch die Musik und die Kostüme möchte ich wieder den Mitgliedern meiner Familie anvertrauen, die das bereits gemacht haben. Ich glaube nicht an Stars. Die verkaufen heute Uhren, Whisky und Kaffee.

Sie haben einen einzigen Film mit Stars gemacht, The Rainbow Thief (1990), mit Omar Sharif und Peter O’Toole …

Das war schrecklich! O’Toole erwies sich als verrückt, hielt sich für den Mittelpunkt des Universums. Viele Schauspieler halten sich selbst für am wichtigsten und den Regisseur für einen blossen Angestellten. Das habe ich nur einmal mitgemacht.

Es gibt einen zweiten Film, der bei Ihrer Werkschau in München ebenfalls fehlte, Tusk (1980).

Der wurde nie fertiggestellt. Der Produzent ist verstorben, und ich kann keine Kopie auftreiben. Das würde ich aber gerne machen, wenn sich eines Tages die Möglichkeit ergibt.

Montana Sacra und El Topo wurden lange Zeit von Allen Klein, dem ehemaligen Manager der Beatles, unter Verschluss gehalten. Er war massgeblich an der Finanzierung beteiligt, und Sie haben sich mit ihm zerstritten, als Sie einen bestimmten Auftragsfilm für ihn nicht drehen wollten. Wie haben Sie schliesslich dieses Problem ­gelöst?

Dreissig Jahre lang haben wir uns bekämpft, er hasste mich, ich hasste ihn. Eines Tages bekam ich die Information, dass in einem mexika­nischen Labor ein Negativ von Montana Sacra lag, das ich bekommen könnte. Ich erkundigte mich in London bei einem Verleiher, ob er den Film herausbringen würde. Sofort drohte Allen Klein mit einem Prozess. Daraufhin suchte ich den Rat meines Verlegers, der meine Comics herausgebracht hatte. Er ­meinte, wenn Klein mich auf zwei Millionen Dollar Schadenersatz verklagen würde und ich die nicht zahlen könne, ­würde ich im Gefängnis landen. Wenn ich den Film unbedingt herausbringen wolle, dann solle
ich das in Frankreich machen, in Paris ­hätte ich vor Gericht bessere Chancen als in Grossbritannien. Daraufhin rief ich den Sohn von Allen Klein an und meinte, statt ­unser Geld in jahrelange Prozesse zu stecken, sollten wir doch eine Einigung versuchen – mir ginge es nicht um das Geld, sondern dar­um, dass das Publikum meinen Film sehen könne, das ganze Geld könne er behalten. Er meinte, ich solle das mit seinem Vater besprechen, sie wären beide demnächst in London. Das machten wir und stellten fest, dass der andere nicht dem jahrelang aufgebauten Feindbild entsprach. Wir umarmten uns, und damit war die Sache erledigt. Der Film kam wieder heraus, drei Monate später starb Allen Klein.

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Beim Filmfestival von Cannes im Mai 2013 hatte nicht nur La Danza de la Realidad, sondern auch der Dokumentarfilm Jodorowsky’s Dune von Frank Pavich Premiere. Darin sieht man gegen Ende Bilder aus Science-Fiction-Filmen, die offensichtlich von Ihrem visuellen Konzept für «Dune» inspiriert sind. Hat sich dazu je einer von diesen Regisseuren wie Steven Spielberg oder George Lucas gegenüber Ihnen geäussert und zugegeben, dass er diese Entwürfe damals gesehen hat und davon beeinflusst wurde?

Nein, denn ich ­habe nie mit ihnen gesprochen. Aber ich habe damals ja mit Jean Giraud alias Moebius und H. R. Giger zusammengearbeitet (und sie damit erst zum Film gebracht). Sie haben ihre Entwürfe für meinen «Dune»-Film später vari­iert und für andere Filme verwendet. Für Alien hat Giger das Monster entworfen und Dan O’Bannon (der für mich das Drehbuch schrieb und die Storyboards entwarf) das Drehbuch geschrieben.

Nach dem Zusammenbruch des «Dune»-Projektes haben Sie Ihre Kreativität in das Medium bande déssinée verlagert und zusammen mit Moebius ab 1981 die Reihe «John Difool – Der Incal» veröffentlicht. War das eine schwierige Neuorientierung?

Nein, das ging schnell. Ich hatte schon begonnen, mit Moebius zu arbeiten, als wir noch am Drehbuch zu «Dune» sassen. Dann habe ich gesagt: «Scheitern gibt es nicht, es ist nur ein Wechsel in der Wegesrichtung. Was wir nicht im Film machen konnten, das werden wir im Comic realisieren.»

Kann man sagen, dass Ihre spirituelle Art, das Leben zu betrachten, es Ihnen erst ermöglicht hat, mit dieser Niederlage fertig zu werden?

Ja, ich habe sehr viele spirituelle Arbeiten gemacht. In La Danza de la Realidad können Sie sehen, wie mein Vater mich unterdrückte – ich sollte nichts sein. Also musste ich mich gewissermassen selbst erschaffen, alle meine spirituellen Werte; ich hatte keine Religion, ich hatte keine Liebe zur Kunst, gar nichts, ich war sozusagen ein Waisenkind in Sachen Spiritualität. Ich hatte irrsinnige Ängste, ich hatte kein metaphysisches Aspirin. Die Probleme zum Beispiel, was den Tod betrifft, die Unmöglichkeit, sich selbst kennenzulernen, die Probleme des Seins, ich hatte auch gar keine Moral. Ich war völlig leer, ich hatte nichts, ich musste mir das alles selbst erarbeiten. Ich habe gelesen, gelesen, gelesen. Religion, Philosophie, Psychologie. Fünf Jahre habe ich mit einem japanischen Meister geübt, Zen-Buddhismus, Zen-Meditation. So habe ich meinen Geist selbst geformt, wie ein Krieger, um zu überleben. Das heisst: Was kann mir so ein Scheitern eines Projektes anhaben? Ich kämpfte eigentlich um mein Überleben, nur der Tod kann mich besiegen. Und heute sage ich: Nicht einmal der Tod kann mich besiegen, denn inzwischen gibt es ja von mir ein Werk. So habe ich den Glauben an mich entwickelt. Wie habe ich den entwickelt? Ich habe sozusagen den Glauben empfangen. Das Gleiche war mit meinen Kindern: Ich wusste nicht, was Vaterschaft bedeutet, denn mein Vater war eine absolute Null. Und ich dachte, ich werde jetzt imitieren, ich werde nachmachen, was ich so denke, was ein guter Vater ist. Und ich werde so tun, als ob ich Glauben hätte. Und ich werde so tun, wie es ist, wenn man eine grosszügige und gütige Person ist. So habe ich sozusagen immer Ideen nachgemacht und so wurde ich zu den Dingen, die ich imitierte. Ich musste erst lernen, ein sehr guter Vater zu werden; ich bin sehr gläubig, und ich glaube auch, dass ich recht grosszügig bin, weil ich eine Kunst erschaffen habe, die heilende Aspekte hat.

Wie verhält sich dieses spiri­tuelle, aufbauende, positive Element zum Surrealismus, der für Ihr Werk ja auch sehr wichtig ist und der doch eher eine ­anarchistische Komponente hat, bestrebt, die ­bürgerliche Ordnung zu attackieren?

Den Surrealismus habe ich mit zwanzig Jahren kennengelernt. Ich habe ihn zutiefst gelebt, und er hat mich auch konditioniert, gestaltet, hauptsächlich in Hinsicht auf die Akzeptanz des Unbewussten: Mach dein Unbewusstes zu deinem Verbündeten, nicht zu deinem Feind. Dieses Akzeptieren des Unbewussten hat es mir erlaubt, in die Psychoanalyse einzutreten. Ich habe Zeit mit Freud und Jung verbracht und mich auf dem Gebiet der Psychoanalyse weitergebildet. Da war der Surrealismus recht brauchbar – und als er nicht mehr brauchbar war, habe ich ihn auch zurückgelassen. Ich bin weitergegangen mit der Bewegung «Panico», die ich mit Fernando Arrabal und Topor gegründet habe. Wir sind darüber hinausgegangen. Und als mir auch «Panico» nicht mehr reichte, habe ich auch das zurückgelassen. Manche Dinge, auch wenn sie negativ sind, sind so etwas wie Stufen im Lauf der Suche.

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Dann vermute ich, Ihre Filme waren weniger die Umsetzungen sehr präziser Drehbücher als vielmehr spirituelle Reisen, bei denen Sie zu Beginn nicht wussten, wo sie enden werden?

Fando y Lis, den ich seit vierzig Jahren nicht gesehen habe, war eigentlich ein Theaterstück von Fernando Arrabal, das Drehbuch zum Film bestand aus einer einzigen Seite mit den Figurenentwürfen. Jedes Wochenende habe ich gedreht und habe mir am Set den Film ausgedacht – während ich ihn machte. Bei El Topo habe ich, um überhaupt einen Produzenten zu finden, ein Drehbuch geschrieben, das ich aber beim Drehen umgewandelt habe. Bei Montana Sacra hatte ich ebenfalls ein Drehbuch und habe beim Drehen alles geändert. Bei Santa Sangre hatte ich ein Drehbuch, das ich einem Italiener diktiert hatte, er hat mir dann das Script auf Italienisch gegeben. Ich habe nichts verstanden, dann habe ich alle Schauspieler und Techniker um mich versammelt und ihnen den Film erzählt. Und dann habe ich einzelne Sachen, die ich unterwegs sah, integriert. Das heisst, man schreibt ein Drehbuch, um die Dreharbeiten zu organisieren, zu strukturieren: Es ist eine Form, die grundsätzlich festlegt, ob eine Szene in einem Haus drinnen oder aber draussen auf der Strasse spielt, nachts oder tags. Aber innerhalb dieser Räume hast du ja Begegnungen, du kreierst etwas. Deshalb war es für mich zwanzig Jahre lang unheimlich schwierig, Produzenten zu finden. Da sie nicht Künstler sind, sondern Geschäftsleute, die ihre Arbeit machen, um Geld zu verdienen, wollen sie, dass du dein Drehbuch Buchstabe für Buchstabe umsetzest. Das kann ich nicht – wenn man mich nicht kreieren lässt, dann gibt es auch kein Kino. Meinen neuen Film konnte ich nur machen, weil ich drei Produzenten fand, die mich bewunderten und die auch tatsächlich denken, dass Film Kunst ist. Sie haben nicht einmal ein Drehbuch von mir verlangt, sondern sagten: «Mach, was du willst!»

Ihr Drehbuch zu «Dune» soll jetzt als Animationsfilm realisiert werden …

Ich werde dabeisitzen und nur ab und zu meine Meinung sagen und darauf achten, dass mein Drehbuch respektiert wird. Ich werde mich nicht überarbeiten, ich habe den Film ja schon gemacht.

… und Nicolas Winding Refn, der sich als grosser Fan geoutet hat, will Ihre Comicreihe «John Difool – Der Incal»
auf die Leinwand bringen.

Wir haben alles getan, damit er die Rechte dafür bekommt, aber es wird dauern, denn das ist ein sehr teures Projekt.

Hat die Mitarbeit an Jodorowsky’s Dune, die Gespräche mit dem Regisseur, das Wiedersehen mit dem Produzenten Michel Seydoux, dazu beigetragen, Ihr Interesse am Kino neu zu beleben?

Auf jeden Fall. Mein nächster Film befindet sich sogar schon in der Vorbereitungsphase, wieder mit Michel Seydoux als Produzenten – er hatte damals «Dune» mit mir machen wollen. Damals hat er allein für die Drehbuchrechte zwei Millionen Dollar ausgegeben, die Musik sollte Pink Floyd machen, Orson Welles und Salvador Dalí sollten vor der Kamera erscheinen. Ich wollte einen mindestens zwölfstündigen Film machen. Daraufhin hat Hollywood Panik bekommen und gesagt: «Der Mann spinnt!» Das war, bevor Star Wars eine neue Ära des Science-Fiction-Films einleitete. Gegenüber Michel Seydoux hatte ich ein schlechtes Gewissen, deswegen habe ich ihn zwanzig Jahre lang nicht angerufen, bis dann Frank Pavich, der Regisseur von Jodorowsky’s Dune, mich fragte, ob ich nicht ein Interview zusammen mit Michel Seydoux geben wolle. Ich sagte: «Oh nein, der hasst mich doch!» – «Das stimmt nicht», erwiderte Pavich, «für ihn war das das Projekt seines Lebens.» Jetzt hat er mir einfach zwei Millionen gegeben. In Mexiko habe ich eine Ausstellung gemacht, und die Direktorin des Museums fragte mich nach meinen Plänen. Ich erzählte, dass ich zwei Millionen für einen Film hätte, aber das reiche nicht aus. So kam ich an die dritte Million, die vierte fand ich bei einem chilenischen Jungen, der auf der Strasse sass. Ich gab ihm einen Geldschein und bemerkte erst danach, dass es ein Hundert-Euro-Schein war. Der Junge fing an zu weinen und erzählte, sein Vater hätte ein ganzes Ärztehaus, er sei Millionär. Der hätte ihm gesagt, es gäbe auf der Welt keine ehrlichen Menschen – aber er hätte jetzt gerade einen auf der Strasse getroffen, der ihm hundert Euro für nichts gab.

Sie haben gleich mehrere Projekte in Planung?

Ja, das teuerste würde in Paris gedreht, a mind movie, das zweite ist ein mystischer Gangsterfilm, der in Mexiko gedreht würde, das dritte die Fortsetzung von La Danza de la Realidad, betitelt «Poesia sin fin» – «Poetry without end». Der würde in Chile gedreht werden, genau wie La Danza de la Realidad. Ich habe vieles gemacht in meinem Leben, nicht zuletzt sehr viele Comics – im Augenblick möchte ich allerdings nur noch Filme machen. Bald werde ich 85 (am 17. 2. 2014), und jeder fragt mich: Ist La Danza de la Realidad ein Comeback oder ein Testament? Ich antworte: Wenn ich jetzt sterbe, dann ist es ein gutes Testament. Aber ich habe eigentlich keine Lust zu sterben – also ist es ein Comeback. Wenn ich kann, werde ich weitermachen. Schliesslich hat La Danza de la Realidad ein Echo gefunden, das wir alle nicht erwartet hatten. Ich habe den Film nicht gemacht, um ein kommerzielles Produkt zu erstellen, denn ich habe den Produzenten gesagt, ich werde einen Film machen, der Geld verlieren wird. Dass alle Filme nur gemacht werden, um Geld zu verdienen, lässt die Filme faulen, es sind kommerzielle Produkte, eine Ware. Wir haben gesagt, wir machen Kino, das Geld verliert. Das haben sie akzeptiert. Als ich nach Cannes kam, war das ein so unglaublicher Empfang, überall, egal wo ich den Film vorgestellt habe, waren die Kinos voll. Vielleicht macht mir Gott gerade ein Geschenk.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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