Die Kriminalromane von Wolf Haas sind von einer entrückten Gegenwärtigkeit gekennzeichnet. Immer hat man das Gefühl, als wäre man als Leser mittendrin im Geschehen, und doch bleiben die Menschen unnahbar. Das hat viel mit den Figuren und Schauplätzen zu tun, die Haas in seinen Geschichten rund um den Privatdetektiv Brenner entwirft. Brenner, wegen notorischer Langsamkeit aus dem Polizeidienst entlassen, ist schon an so manchen Dingen im Leben gescheitert, und wie alle Figuren bei Wolf Haas entspricht er dem Bild des kleinen Mannes von der Strasse: bemitleidenswert und irrational.
Das erklärt natürlich noch nicht Wolf Haas’ Erfolg im deutschsprachigen Raum und einen dreifachen Deutschen Krimi-Preis, aber vielleicht die Sympathie, die man den Verfilmungen durch Wolfgang Murnberger und seinem Hauptdarsteller Josef Hader entgegenbringt. Denn die gemeinsam mit Haas entworfenen Adaptionen sind wie ihre Vorlagen im Ton unaufdringlich, nehmen ihre Figuren ernst und zeigen vor allem Verständnis für die Irrungen und Wirrungen, denen sich Brenner bei seinen widerwillig ausgeführten privaten Aufträgen ausgesetzt sieht. Und wenn sich dazu, wie bei Silentium (2005), eine tagespolitische Aktualität gesellt, tritt die unschwer zu erkennende Kritik der Filme an gesellschaftlichen Nöten umso stärker zutage: Eine bessere Werbung als der Skandal rund um pornografische Fotos und “Bubendummheiten” des Priesterseminars im niederösterreichischen St. Pölten hätte es für Silentium nicht geben können.
Nun haben sich Haas, Murnberger und Hader erneut zusammengefunden, um mit Der Knochenmann einmal mehr einen Blick in die viel zitierten Abgründe der – österreichischen – Seele zu werfen. Das schreibt sich zugegebenermassen schnell und klingt einfach, ist in Wahrheit jedoch eine komplexe und komplizierte Sache, denn wenn von nationalen Befindlichkeiten die Rede ist, braucht es zum Erkennen derselben den Blick von aussen. Deshalb sind die unterschiedlichen, fast immer ländlichen Schauplätze, in denen sich der notorische und vor allem überzeugte Wiener Brenner mit einer einheimischen Wahrheit konfrontiert sieht, mehr als Lokalkolorit und Schauwert: Sie sind ein geschlossenes System – wie etwa der Rettungsdienst in Komm, süsser Tod oder das Knabeninternat in Silentium – und Teil der Menschen selbst. Hier wohnt, arbeitet und stirbt man. Wenn man Pech hat eben vorzeitig wie in der Südsteiermark, wo Josef Bierbichler als Wirt namens Löschenkohl eine gleichnamige Backhendlstation betreibt.
In einem Provinzdorf wie diesem, an dem es eigentlich keine Geheimnisse gibt und jeder alles über den anderen weiss – nicht umsonst geht das grosse Finale von Der Knochenmann bei einem Maskenball über die Bühne –, ist Brenner der neugierige Störenfried, der das geschlossene System ins Wanken bringt. Bereits die ersten Minuten des Films wollen das verdeutlichen, wenn zum knisternden Elektrosoundtrack der «Sofa Surfers» eine Knochenmehlmaschine Hühnerfleisch verarbeitet und wieder ausspuckt: Es ist ein Räderwerk, in dem die einzelnen Teile ineinandergreifen und so genau aufeinander abgestimmt sind wie das dörfliche Leben, bis plötzlich ein Störfaktor von aussen das Getriebe zum Knirschen bringt und sich zwischen den Geflügelknochen ein menschlicher Finger findet. Spätestens nach diesem buchstäblichen Fingerzeig kann Brenner, der eigentlich für eine Kreditfirma für den Rücktransport eines unbezahlten Wagens zuständig wäre, nicht mehr zurück: Ist der unauffindbare Schuldner nur eine von mehreren Leichen, die Löschenkohl im Keller hat? Und von wem wird der bodenständige Wirt, der gelegentlich Ausflüge nach Bratislava unternimmt, erpresst?
Die sogenannte tiefe Provinz, bereits bei Wolf Haas weniger misstrauisch beäugt als verständnisvoll gezeichnet, wird bei Murnberger endgültig zur lustvoll ausbuchstabierten Seelenlandschaft. Die Backhendlstation «Löschenkohl» mag zwar am Ende der Welt liegen, aber über die Menschen erfährt man hier trotzdem oder gerade deshalb allerhand. Denn auch wenn der lakonische Unterton der Vorlage stets spürbar ist, bleibt die Erdung immer vorhanden. Und der Sympathie mit den notwendigerweise überzeichneten Figuren tut dies keinen Abbruch: Burgtheater-Schauspielerin Birgit Minichmayr als einsame, abgeklärte Schwiegertochter wirkt selbst mit steirischem Kunstdialekt authentisch, und wenn sie auf dem Rücken liegend im Rohbau ihres Hauses meint, sie würde dieses am liebsten wegsprengen, spricht sie wohl einer ganzen vergessenen Region aus der Seele.
Denn Murnberger geht es nicht um Authentizität, sondern um Aneignung: Abseits eines angestrengten Heimatdiskurses und dem Nachspüren des spezifisch “Österreichischen” geht es hier eher um das, was das Land aus den Leuten macht, was frappant an Murnbergers Regiedebüt erinnert: Himmel oder Hölle (1990) ist heute einer der wichtigsten Beiträge zum Neuen österreichischen Film. «Nur weil ich vom Land bin, heisst das noch nicht, dass ich deppert bin», meint einmal der Sohn des Hauses und glaubt, die Welt zu verstehen. Seiner Fehde mit dem Vater um Grund und Boden hilft das wenig.
Am Ende von Der Knochenmann stehen Brenner und sein Langzeitfreund Berti ohne Benzin auf der Wiener Südosttangente, einer der meist befahrenen Strassen Europas. Brenner hätte beinahe mehr als nur sein Herz in der südsteirischen Backhendlstation gelassen. Eine Autopanne so kurz vor dem Ziel, doch das macht nichts, weil es in der Stadt, wie Brenner meint, trotzdem am schönsten sei. Aber eben nicht immer am spannendsten.