Zum Glück ist nichts Schlimmeres passiert, denken sich Esther und John nach dem Unfall. Im Dunkel der Nacht haben sie auf einer französischen Landstrasse eine Frau angefahren. Die junge Spanierin ist mit einem Kratzer am Arm davongekommen. Aber bei dem gut situierten Ehepaar sitzen die Schuldgefühle tief. Das spürt auch Teodora, die am nächsten Tag überraschend im Ferienhaus der Familie auftaucht und nach einem Job als Haushaltshilfe fragt.
In ihrem Regiedebüt erzählt die Drehbuchautorin und Schauspielerin Nele Mueller-Stöfen, wie dicht Harmonie und Horror oft beinanderliegen und was passiert, wenn ein eingespieltes Familienleben aus den Fugen gerät. Denn kaum ist Teodora fest in den Alltag der Urlauber integriert, gerät deren vermeintlich heile Welt in eine prekäre Schieflage, was Nele Mueller-Stöfen genüsslich makaber inszeniert.
Frau Mueller-Stöfen, Delicious ist ein sozialkritisches Drama verpackt als Thriller mit zahlreichen Genre-Elementen. Welche Idee stand hinter dem Film?
Mich hat vor allem die Frage beschäftigt, was passiert, wenn ein Mensch in den Kosmos einer vermeintlich intakten Gemeinschaft eindringt und durch Manipulation die Dynamik dieser Gruppe komplett verändert. Dazu passte ein Artikel, den ich vor einiger Zeit in der «FAZ» gelesen hatte. Darin wurden junge lateinamerikanische Autorinnen vorgestellt, die in scharfen Genregeschichten die sozialen Ungerechtigkeiten der Gesellschaft ihres Landes durchleuchteten. Diese Kombination fand ich spannend.
Ist Teodora für Sie in erster Linie ein Parasit, der Unheil stiftet, oder ermöglicht ihr Erscheinen den Figuren gleichzeitig eine Art Befreiung von sich selbst?
Parasit ist vielleicht ein zu harsches Wort. Und ich möchte auch betonen, dass es mir nicht darum geht, reich und arm gegeneinander auszuspielen. Man kann ein derart globales gesellschaftliches Problem nicht auf individueller Ebene lösen. Aber es stimmt schon, Teodora setzt sich auf ihre Weise geschickt in der Familie fest – und sie hat einen Plan.

Nele Mueller-Stöfen
Sobald Sie auftaucht, liegt etwas Unheimliches, Düsteres in der Luft. Was macht für Sie den Reiz am Extremen aus?
Genre ist Gefühl. Es löst Angst aus, manchmal Ekel oder Humor. Mit anderen Worten: Genre holt die Zuschauenden auf einer emotionalen Ebene ab, ohne dass sie sich gleich angegriffen oder kritisiert fühlen. Dadurch werden Themen wie etwa die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft anders aufgenommen. Die Menschen sind offener dafür. Ich persönlich mag Filme, die sich von der Realität lösen. Filme, die unterhaltsam sind und trotzdem einen politischen Kontext haben.
Gleichzeitig verbirgt sich hinter der Geschichte ein sehr reales Generationsporträt.
Absolut. Nicht umsonst fliesst das berühmte Zitat von Antonio Gramsci in einer Szene ein: «The old world is dying, and the new world struggles to be born; now is the time of monsters.» Es ist an der Zeit, dass man der jungen Generation Raum gibt, dass man ihr vertraut, damit sie die Chance hat, aus unserer Welt eine bessere zu machen. Ich weiss, das klingt sehr idealistisch, aber für mich ist das ein sehr wichtiger Aspekt des Films.
Bei der Inszenierung fallen die kontrastreichen Farben und eine grosse Klarheit in den Einstellungen ins Auge. Worauf kam es Ihnen stilistisch an?
Frank Griebe, mein Kameramann und ich, wir haben zusammen ein Konzept entwickelt, das viel mit Zoom arbeitet, mit starken Totalen und streng symmetrischen Bildern. Nichts ist wirklich dem Zufall überlassen. Wir schauen mit einer gewissen Distanz auf die Figuren, halten Abstand. Eigentlich wie die Familienmitglieder sich zu Anfang nach aussen präsentieren. Geordnet, kontrolliert, was dann später aufbricht.
Sie arbeiten seit Jahren erfolgreich als Autorin und als Schauspielerin. Warum wollten Sie diesmal auch Regie führen?
Ich hatte schon öfter mit dem Gedanken gespielt. Irgendwann fiel mir auf, dass ich auch als Schauspielerin am Set die Filme, in denen ich mitspielte, immer mehr als Ganzes gesehen habe. Und dass mich andere Fragen beschäftigten: Wie ist die Auflösung? Was macht den Look des Films aus? Mit der Zeit wurde der Wunsch immer stärker, meine eigenen Geschichten zu erzählen, Bilder zu finden. Das Verrückte ist, dass man beim Schreiben den Film immer schon im Kopf hat. Man weiss genau: Hier würde ich schneiden, die Szene würde ich aus dieser Perspektive erzählen oder die Location stelle ich mir so vor.