Mindestens das Kino, wenn nicht der Film überhaupt hat von seinen Ursprüngen her mit der Stadt einiges zu schaffen; und zwar wird die fragliche Beziehung spätestens von dem Zeitpunkt an historisch wirksam, wo sich das neue Verbreitungsmittel – sowie es über seine allererste Periode als fahrende Jahrmarkts-Attraktion hinausgewachsen ist – zur sesshaften Einrichtung entwickelt. Denn es findet seine erste Niederlassung naheliegenderweise in den Städten, das heisst dort, wo das Kino noch heute, tief in seiner nachklassischen Periode, als Flaggschiff der Fernseh- und Videoindustrie sein Dasein fristet.
In kleineren Ortschaften ist es somit nicht länger als im Zeitraum zwischen 1920 und 1970, also während seiner fünf klassischen Jahrzehnte präsent gewesen, was etwa der halben Dauer seiner bald hundertjährigen Existenz entspricht. Übrigens eröffnen wie anderswo in der Welt auch in der Schweiz die ersten ortsfesten Kinos zwischen 1905 und 1910 in den führenden Städten.
Bewegung der Bewegung
Anfangs neigt das neuartige Medium paradoxerweise dazu, sein Publikum auf imaginärem Weg sogleich wieder aus den Städten hinweg zu entführen, und zwar wenn möglich an Orte, wo es noch nie gewesen ist, und zeigt ihm zu diesem Zweck besonders gern Ansichten ländlich-exotischen Charakters. Erst auf einer folgenden Stufe wendet sich dann das Kino dem Abbilden eigentlicher Stadtschaften zu. Dabei gehorcht es nicht etwa dem Publikumsgeschmack, sondern schreitet nur ganz logisch vom Einfacheren zum Schwierigeren. Denn intakte rurale Perspektiven lassen sich bekanntlich um einiges leichter wiedergeben, sprich filmen als urban verbaute.
Erst mittels der Montage gelingt es nämlich, die volle Vielfalt der Stadt in Bildsequenzen zu fassen; es bedarf dazu der entwickelten Sprache des ausgewachsenen eigentlichen Films, heisst das, welcher eben mehr als eine Folge lebender Fotografien ist und demnach ein Ganzes, mehr als die Summe seiner Teile. Wie man sieht, ergeben sich da qualitativ neue Beschreibungen – oder eben jetzt Befilmungen – offensichtlich erst aus vorgegebenen Realitäten von der nämlichen Art heraus.
Gemeint ist, dass das organisierte Nacheinander der bewegten Bilder – gewissermassen die Bewegung der Bewegung – den Raum auf eine Weise erschliesst, die es gestattet, gleichsam von allen Seiten her zu verdeutlichen, wie dicht und durchdacht sich das städtische Kontinuum darstellt. Dem Betrachter vermittelt die Montage das Gefühl, er sei mitten ins volle Treiben und Geschehen hineinversetzt.
Und Vergleichbares lässt sich von der starren, mechanisch-objektiv gemessenen urbanen Zeit sagen, selbst wenn nun diese zweite und etwas weniger evident schlüssige Analogie ihre volle Gültigkeit erst nach 1927 mit der Einführung des Tons erlangt. Der Film muss nämlich von dieser Wendemarke an aus technischen Gründen mit unverrückbaren 24 Bildern in der Sekunde arbeiten, in einem gleichmässigen Rhythmus, heisst das, der sich mit der absoluten, diktatorischen Uhrzeit der Stadt durchaus vergleichen lässt. Bis dahin hat der Stummfilm noch die exotische relative Freiheit genossen, zwischen verschiedenen Bildgeschwindigkeiten zu wählen. Das Kurbeln von Hand erlaubte es sogar, das Tempo während der Aufnahme wie auch während der Wiedergabe stufenlos dem jeweiligen Motiv anzupassen.
(Bild: Musketeers of Pig Alley)
So erweist sich der Film in einem gewissen Sinn als ein Spiegel und Doppel der Stadt. Seine Schnitte zum Beispiel könnte man leicht als Entsprechungen zu ihren äusseren und inneren Mauern interpretieren, und seine Schnittkadenzen scheinen sich dem urbanen Rhythmus anzuschmiegen. Und insofern wir die Stadt als eine rapide Aufeinanderfolge von drängenden Einzelbildern wahrnehmen, kann sie im übertragenen Sinn von sich aus, also noch ehe auch wirklich gefilmt wird, als eine Art von Montage gelten. Wo Landschaft Raum und Zeit hat und gibt, da raubt und verschlingt die Stadtschaft sozusagen die ursprünglichen Dimensionen. Ihre gemalten und fotografierten Ansichten liessen sich noch beliebig lange betrachten. Jetzt messen die gefilmten und montierten Bilder jede Sekunde aus und schreiben vor, wie manchen Augenblick jede einzelne Ansicht dem Zuschauer wert zu sein hat. Vom Verweilen ist der schöne Augenblick weiter entfernt denn je.
The Musketeers of Pig Alley
Wie die Stadt selbst läuft denn die Montage auf eine Art totale Herrschaft hinaus. Nach dem Belieben des einzelnen wird nicht gefragt; es zählt einzig und al em das, was das geltende System aktuell wieder zu gewähren oder zu verweigern geruht. Man durfte zu Breschnjews Zeiten auf dem Roten Platz zu Moskau nicht stehenbleiben. Die Trillerpfeife eines Milizionärs hielt schrill zum Weitergehen an. Film hat die Eigentümlichkeit, so unanhaltbar zu sein, wie seinerseits der städtische Betrieb selbst des nachts nicht ruht. Auch im elektronischen Bild bricht der Film mit dem Druck auf die Anhaltetaste kläglich in sich zusammen.
Die Filmhistoriker sind sich recht und schlecht einig, in The Musketeers of Pig Alley von David Wark Griffith aus dem Jahr 1914 den ersten Film im vollen Sinn des Wortes zu erblicken, der städtisches Leben in seiner reichen optischen Bewegtheit dramatisiert, der es also mehr als nur zeigt und abbildet; und er gilt ihnen besonders auch als derjenige, der die Aufgabe vornehmlich mittels der Montage versieht, wie sie Griffith selber entwickelt hat.
«In einem seiner frühen Filme mit dem bezeichnenden Titel The Musketeers of Pig Alley» schrieb Siegfried Kracauer 1960 in seiner grundlegenden «Theorie des Films», «spielt sich die Handlung hauptsächlich in schäbigen Häusern ab, in einer von unidentifizierbaren Passanten wimmelnden Strasse der New Yorker Eastside, in einer Kaschemme und einem kleinen Hof zwischen billigen Mietskasernen, in dem von morgens bis abends Halbwüchsige herumlungern. Wichtiger noch, die Story selbst, die sich um einen Diebstahl dreht und in einer Verfolgungsjagd endet, wächst aus diesen Schauplätzen hervor. Sie begünstigen die Tätigkeit einer Verbrecherbande, der sich der Dieb angeschlossen hat, und sind wie geschaffen für die zufälligen Begegnungen und wahllosen Zusammenkünfte, die ein wesentliches Element der Handlung bilden.»
(Bild: Musketeers of Pig Alley)
Nicht zuletzt auch in einer Reihe von Schweizer Filmen sollte – allerdings nicht vor weiteren dreissig Jahren – dieses Muster wiederkehren, das zur archetypischen Konfiguration ungezählter eigentlicher Strassen- und Stadtfilme im allgemeinen und besonders der nachmaligen Gangsterfilme geworden ist. Insofern überhaupt von einer entsprechenden eigentlichen Gattung die Rede sein kann, so ist sie im Weltkino nicht nur spätestens von den zwanziger Jahren an bis zum heutigen Tag gegenwärtig und wirksam geblieben, sondern sie hat obendrein, bis hin zu den cop movies der siebziger und achtziger Jahre, eigentliche Glanzperioden erlebt; beispielsweise ist das im Deutschland der Weimarer Republik, im Hollywood der Vor-, aber auch im französischen policier der Nachkriegszeit und in den Filmen der nouvel/e vague der Fall gewesen. New York wird seit mindestens zwanzig Jahren so ausgiebig as Kulisse benutzt, dass auch schon .ersucht wurde, von den Filmproduzenten eine Gebühr zu erheben, also gerade das Gegenteil von dem zu tun, was sich Städte sonst, um gefilmt zu werden, angelegen sein lassen.
Wir und die Strasse
Bei den nicht besonders zahlreichen Stummfilmen, die nun der Historiker Herve Dumont in seiner «Histoire du cinerna suisse» aufzählt, stösst man sehr wohl unter der Jahreszahl 1916 auf einen ziemlich obskuren Dreiakter des Titels Wir und die Strasse, den eine Basler Eos-Film durch den Regisseur Richard Frei damals in Zürich drehen liess. Im Untertitel wurde «Ernstes und Heiteres, Tragik und Humor aus dem Strassenverkehr einer werdenden Schweizer Grossstadt» verheissen. Einfach restlos abwesend ist denn also das Stadtmotiv in den einheimischen Produktionen dieser vorklassischen Periode nicht, doch kommt es ausgesprochen selten vor. Im Auftrag der Sozialdemokratischen Partei entsteht 1931 zum Beispiel noch der stumm gedrehte Ein Werktag, in dem Richard Schweizer anhand der Lebensbedingungen einiger Zürcher Arbeiter darzulegen versucht, was soziale Ungerechtigkeit bedeutet.
Überblickt man die fraglichen rund fünfzehn Jahre, und was da an Filmen von mehr als einem frühen Wilhellm Tell über Das arme Dorf und Der Ruf der Berge bis zu Petronella – Das Geheimnis der Berge und zum Kampf ums Matterhorn entsteht, so wird mehr als ausreichend deutlich, wie sehr die ganze erste Begeisterung der da und dort aufbrechenden einheimischen Filmpioniere den landschaftlichen Schönheitender Heimat und zuvorderst ihren emporstrebenden Alpen und ausgreifenden Seen gilt und ganz und gar nicht etwa der Stadt.
(Bild: Jä-soo!)
Viel ausgeprägter, als es der Tonfilm jemals noch tun wird, kultiviert nun einmal der Stummfilm ganz allgemein eine Vorliebe für alles, was titanisch und monumental anmutet. Und wenn er nicht mittels gigantischer Dekorbauten die erwünschte Wirkung aufs Bild zu bannen vermag, dann sucht er sie sich eben in tiefen Naturkonspekten, an denen es gerade in diesem Land beileibe nicht mangelt.
Bünzlis Grossstadterlebnisse
Die Filme der nun folgenden klassischen Tonfilmperiode werden bis in die fünfziger Jahre hinein von dieser demonstrativen Vorliebe für das offene Land, die lieblichen Gewässer und die ragenden Gipfel und von einem spürbaren Misstrauen gegenüber den auch nur mittelgrossen Zentren bestimmt. Um nun aber ein erstes vollgültiges Beispiel für das Auftreten des Stadtmotivs namhaft zu machen, muss man bemerkenswerterweise trotzdem – egal, ob das nun ein Zufall oder vielleicht doch ein Symptom ist – ausgerechnet auf den allerersten Schweizer Tonfilm zu reden kommen. Es ist eine Dialektkomödie, die 1930 in der Regie von Robert Wohlmuth mit dem Komiker Fredy Scheim in der Hauptrolle unter dem Titel Bünzlis Grossstadt-Erlebnisse entsteht. Freilich widerfahren nun dem Helden Heiri Bünzli die angekündigten Erlebnisse vielsagenderweise anderswo als dort, wo man erwarten könnte, nämlich weder in Zürich noch in einer andern «werdenden Schweizer Grossstadt». Vielmehr sieht sich der helvetische Kleinstädter, den es nach metropolitanen Erfahrungen dürstet, ins Ausland, und zwar nach dem fernen Wien zu reisen genötigt. Zum Schluss stellt sich sogar noch heraus, dass der Erzspiesser sein trautes Heim samt schnarchender Xanthippe gar nicht wirklich, sondern nur im Traum verlassen hat; und das kann ja wiederum kaum etwas anderes heissen, als dass es zu Hause, in überschaubaren Verhältnissen, eben doch heimeliger ist als in der auswärtigen Grossstadt. Da bleibt denn wohl kein Zweifel mehr übrig, in aller Ausdrücklichkeit versucht die Schweiz um 1930 – und wohl bis in die fünfziger Jahre hinein – noch als ein Land zu posieren, in dem sich von einer Metropole bestenoder eben schlimmstenfalls Träume oder Alpträume haben lassen, während in Tat und Wahrheit die eine oder andere Grossstadt schon – oder eben noch – im Werden begriffen ist. Selbst mit der nunmehr recht zügig eingeführten Tontechnik werden die Filme, die eine Stadt zum Schauplatz haben, vorerst kaum merklich zahlreicher. Dialektkomödien in der Nachfolge von Bünzlis Grossstadt-Erlebnisse bleiben sporadisch, auch wenn dann zwischen 1933 und 1935 endlich – in den beiden Lustspielen Wie d'Warret würkt von Richard Schweizer und Walter Lesch und Jä-soo! von Lesch und Leopold Lindtberg – die werdende Grossstadt Zürich als qualifizierter Schauplatz erscheint, der nicht länger durch eindrücklichere Ballungsräume im Ausland ausgestochen wird.
Etwas von den späteren Darstellungen sieht sich da bereits vorweggenommen, die die grösste Schweizer Stadt – zwischen See und Langstrasse, lrchel und Schmiede Wiedikon samt Ableger im nördlichen Oerlikon – zu einem wiedererkennbaren eigenen kleinen Kosmos machen werden. Der Edelkleinbürger Emil Hegetschweiler, seiner Disposition nach ganz klar ein Städtebewohner, spielt seine beiden ersten einschlägigen Filmrollen. Vergeblich versucht Rene Guggenheim das, was in Zürich wenigstens ansatzweise schon eine Realität ist, 1937 mit Was isch denn i mym Harem los? auch für Basel herbeizuführen.
Nicht länger nur Provinzpossen
So kommt es, dass das Motiv der Stadt nicht vor dem Jahr 1940, da die einheimische Produktion sowieso kriegsbedingt anwächst, einigermassen regelmässig in Erscheinung tritt. Zusammen vermögen jetzt Mir lönd nöd lugg von Hermann Haller, Fräulein Huser von Leonard Steckei, Der achti Schwyzer von Oskar Wälterlin und Dilemma von Edmund Heuberger den Schauplatz Zürich wenigstens ansatzweise auf eine nächsthöhere Stufe zu heben, nämlich die eines ehr- und denkwürdigen Ortes, neuerdings auch geeignet, hie und da ein ernstes urbanes Schauspiel und nicht länger blass Provinzpossen einzurahmen.
Wieder mit dem Urphilister Hegetschweiler besetzt, folgt im Jahr darauf Emil, me mues halt rede mitenand, und zwar zusammen mit De Wyberfind des Komikers Alfred Rasser, der seinerseits den Habitus des typischen Städters pflegt und 1942 seinen Kollegen Rudolf Bernhard inspiriert, mit De Winzig simuliert gleichzuziehen. Im nämlichen und im folgenden Jahr realisiert der spätere Spezialist für Heimat- und GotthelfFilme Franz Schnyder Das Gespensterhaus bemerkenswerterweise in der Berner und Wilder Urlaub in der Zürcher Altstadt.
Alsdann führt Fred Surville 1943 in Manouche Lausanne ein, während Scheim unter der Regie Heubergers mit Postlagernd 212 wiederkehrt. Ouin-ouin fait fortune von Andre-Jean Salesse-Lavergne macht 1947 mit Genf bekannt, auch wenn sich die Romandie, was die Filmproduktion betrifft, mit der deutschen Schweiz noch lange nicht messen kann.
(Bild: Vier im Jeep)
Bis 1950 ist auch der erste Nachkrieg vorbei und lässt die Ausnahmesituation entfallen, die den Schweizer Film während einigen Jahren wirksam geschützt hat. Prompt versetzt Lindtbergs Vier im Jeep noch einmal verlockend zurück ins grosse ferne Wien des Heiri Bünzli, das aber nunmehr eine geteilte Stadt ist und eines der Symbole für das Europa des auf vierzigjährige Dauer angelegten Kalten Krieges. Im Zug einer versuchten sogenannten Internationalisierung ergreifen aber die Hersteller blass für einige wenige Produktionen die Flucht nach vorn in den Kosmopolitismus der Metropolen. Schon recht bald sieht man sich wieder auf die nur allzu vertrauten heimisch-provinziellen Schauplätze samt den geläufigerweise damit verbundenen Lust-, beziehungsweise Trauerspielen zurückgeworfen.
Heimat von einst und Heimat von heute
Als entscheidend für die nunmehr anbrechende Periode bis etwa 1962 erweist sich jetzt das endqütüqe Aufbrechen jenes alten Gegensatzes, der sich bis dahin – das heisst in den ersten zwanzig Jahren der Tonfilmepoche – blass zögernd herausgebildet hat. Mit greller Schärfe steht künftig der rückw.rtsgewandte Heimatfilm, der schon nur von seiner herkömmlichen Geläufigkeit her gesehen seine heile Welt ungebrochen weiter verteidigt, gegen den scheinbar frivoleren und moderneren Stadtfilm, der das Vorhandensein von Widersprüchen in Gesellschaft, Zivilisation und Lebensweise wenigstens am Rande einräumt und der nun bald einmal gleich oft zu sehen ist wie die Beispiele der konkurrierenden Gattung.
Sehr rasch personifiziert sich der Kontrast in den Persönlichkeiten Franz Schnyders, der sich mit seiner Serie von Gotthelf-Adaptionen aus dem alten Emmental, und Kurt Frühs, der sich mit seiner Folge von Dramen und Komödien aus den Stadtkreisen von Zürich hervortut. Elfmal kommt Früh, von Polizischt Wäckerli über Bäckerei Zürrer und Hinter den sieben Gleisen bis Der Fall, in dem siebzehnjährigen Zeitraum zwischen 1955 und 1972 einschlägig zum Zug und putzt im Lauf dieser Serie seine Stadt unwiderruflich zum dauerhaften schweizerischen Kino-Topos heraus, der sogar das Ende des sogenannten alten Schweizer Films überleben sollte. Schnyder bringt es seinerseits in den vierzehn Jahren zwischen Uli der Knecht und Die sechs Kummerbuben – das heisst von 1954 bis 1968 – über Zwischen uns die Berge und Jakobli und Meyeli auf neun Epen von der Scholle und Geröllhalde; doch wird die Gattung, die er entwickelt, mehr Mühe haben, bis in die nachklassische Zeit hinüber zu strahlen.
Die auffällige Parallelität zwischen den beiden so gegensätzlichen Entwicklungen erweckt den Anschein, als versuchte jeder der beiden Regisseure, mit seiner thematischen Vorliebe dem andern den Rang abzulaufen. Weil ja alle hinterher klüger sind, streicht man indessen heute weniger oft die Unterschiede zwischen dem emmentalischen und dem stadtzürcherischen Kosmos hervor und betont hinsichtlich der fraglichen Filme häufiger das, was die heimelige alte mit der behaglichen neuen Welt verbindet. So gesehen erscheinen die beiden bald einmal als die rurale und die urbane Seite ein und derselben Sache, nämlich als die heimatliche Idylle von vorgestern und die heimatliche Idylle von gestern.
Bäckerei Zürrer
Denn keine Frage, wenn Früh in seiner Welt – auf ihrem halben Weg von der Klein- zur Grossstadt – einige Belastungen begegnen, so erscheinen sie jedesmal als lösbare Probleme, und es ist seine erklärte Absicht, das Leben in der Stadt von seiner gemütlichen und gemütvollen, also erstrebenswerten Seite zu zeigen. Wo es die frühen Heimatfilme noch verdächtigten, von Übel zu sein – währenddem das Land als gesund und heilend gepriesen wurde–, versteigt sich jetzt nicht einmal mehr Schnyder zu so viel Ausdrücklichkeit. Seine Filme weichen der Diskussion eher aus und kritisieren höchstens implizit die Stadt – und damit die modernen Zeiten überhaupt – durch idyllische Gegenentwürfe.
Bäckerei Zürrer von 1957 veranschaulicht die Neigungen und Absichten Frühs am besten und illustriert auch beispielhaft, was die Stadt aufs ganze gesehen als Motiv im Schweizer Film von vor 1960 zu suchen und zu bedeuten hat. Das Arbeiterquartier an der Langstrasse gerät in der Darstellung des Zürcher Regisseurs sogar zu dem einen Schweizer Stadtteil, der ein wenig für alle andern in seiner Zeit steht.
Wiewohl auf die ominöse falsche Seite der Geleise verwiesen – nämlich unten an den Fuss der Villenviertel, die den lieblichen Zürichberg hinanstreben –, fühlen sich die Langsträssler in ihrem Bezirk noch spürbar wohl und zu Hause. Das Auftreten von Clochards, und was da sonst an kommender Verslumung herankeimt, wird noch als besonders pittoresker Aspekt des Heimeligen empfunden. Der Zerfall zufolge überhandnehmenden Verkehrs und steigender Kriminalität deutet sich erst an. Selbst in vierzig Jahren hat, mit andern Worten, die verfaulende Lower East Side – jene unvergessene Pig Alley Griffith' – das Land noch an keinem einzelnen Punkt wirklich ganz eingeholt.
(Bild: Bäckerei Zürrer)
Die Geschichte von dem Bäcker Zürrer und den Seinen leitet das Publikum an, sich doch ja recht zügig mit der markantesten aller aktuellen Veränderungen zu befreunden, nämlich mit derjenigen. die sich aus dem bald einmal zur sogenannten Überfremdung hochgespielten lebhaften Zuzug von Ausländern heraus ergibt und die allen Weltbürgertums Anfang ist. Der Titelheld, den der gealterte Hegetschweiler in seiner ganzen etwas weinerlichen Biederkeit und selbstmitleidigen Hilflosigkert wiederum ideal verkörpert, wird sanft genötigt, in den neuangesiedelten Tschinggen von nebenan, mit denen er nie etwas zu schaffen haben wollte, Mitbewohner seiner kleinen Welt und im Grenzfall veritable Mitmenschen zu erkennen.
Früh will die Fremden ermuntern, heimisch zu werden, und er möchte den Einheimischen, die sich fremd fühlen, das Gefühl des Bedrohtseins nehmen. Die sogenannte Ausländerfrage, ahnt er unbestimmt voraus, wird den heikelsten innenpolitischen Streitpunkt des kommenden Vierteljahrhunderts bilden. Doch fällt die Antwort, die da versuchsweise gegeben wird, noch reichlich naiv und idealistisch aus.
Die Romandie kommt ins Spiel
Noch während sich Frühs Zürcher Saga sozusagen zu einem einzigen zusammenhängenden Film fügt, versuchen sich in London die Schweizer Filmstudenten Alain Tanner und Claude Goretta 1957 an einem Präludium zu dem, was sich in den folgenden zwanzig Jahren zum sogenannten neuen Schweizer Film entwickeln wird. Ihre Reportage Nice Time entsteht ganz nur aus der englischen Hauptstadt heraus und hat, vom abendlichen Zeitungsverkäufer bis zur nachmitternächtlichen Prostituierten, das Treiben der Vergnügungssuchenden rund um den Piccadilly Circus zum Thema. Einen Moment lang mag es einem vorkommen, als wollte noch einmal das metropolitane Wien von Bünzli und Lindtberg widerhallen, ganz zu schweigen natürlich von der archetypischen New Yorker Allee der Schweine.
Was sich künftig im Film an Ungewohntem beidseits der Sprachgrenze regt und nach 1962 in Bewegung gerät, hat fast zwangsläufig mit der Stadt regelmässiger zu tun, und zwar darum, weil es mindestens in seiner deutschschweizerischen Variante – und ganz sicher für den Anfang – auch eine gezielte Abkehr vom Heimatfilm einschliesst. Und sicher nicht zuletzt gehen, bis mindestens Mitte der siebziger Jahre, die entscheidenden Impulse deshalb von der Romandie aus, weil sie kaum eine entsprechende volkstümelnde Vergangenheit im Film zu bewältigen hat und ihre Filmemacher ziemlich unbelastet vorgehen können. Eine wahrhaft eigene Rolle beginnt nun nämlich die französischsprachige Region, ungeachtet einer Anzahl vorausgegangener Versuche, erstmals in der Filmgeschichte des Landes zu spielen.
In der deutschen Schweiz bringen derweil die sechziger Jahre immerhin schon vereinzelte Arbeiten hervor, die nachträglich gesehen von Bedeutung sein werden. Alexander J. Seilers Dokumentarfilm Siamo italiani von 1964 profiliert sich als das realistische Gegenstück zu Bäckerei Zürrer. Bei genauerem Hinsehen, gibt er zu verstehen, besteht keinerlei Hoffnung auf simple idealistische Lösungen der sogenannten Ausländerfrage.
Rolf Lyssy seinerseits leitet 1968 mit Eugen heisst wohlgeboren seine eigene Serie von Stadtzürcher Komödien ein, die einiges von dem, was Früh vorexerziert hat, in die siebziger und achtziger Jahre, also in die nachklassische Periode des Kinos hinüber fortführen wird. Bis 1990 greift er mit Die Schweizermacher, Kassettenliebe, Teddy Bär und Leo Sunnyboy noch viermal nach, wiederholt auch um die beliebte Ausländerfrage kreisend. Ohne die ausdrückliche ldyllisierung weiterzuführen, macht er es sich in keinem Fall zur Aufgabe, das Frühsche Bild Zürichs als einer Stadt von gefälliger weltoffener Provinzialität mit passend angegliedertem interkontinentalem Flughafen entschieden in Frage zu stellen.
Von den wenigen Beispielen abgesehen kommt aber das allermeiste, was die sechziger und den grösseren Teil der siebziger Jahre bestimmen wird, aus der welschen Schweiz. Tatsächlich nimmt der eigentliche Genfer Film, der etwelches mehr als nur gerade das Gegenstück zu den Zürcher Beispielen darstellt, seine erste Gestalt noch in den späten Sechzigern an und wird sie dann in den Siebzigern ganz ausbilden.
(Bild: Haschisch)
Vier nach 1966 entstandene Titel bilden zusammen den Auftakt zu einer ausführlichen kritischen Chronik des schweizerischen Stadtalltags in den Jahren vor, aber auch nach der ominösen Wendemarke von 1968; es sind La lune avec les dents, Haschisch und La pomme von Michel Soutter sowie der eigentliche Gründerfilm der ganzen neuen Bewegung, Charles mort ou vif? von Alain Tanner, der in seiner Wirkung allein so stark ist wie die drei genannten zusammen. Eher nur am Rande hinzuzurechnen wäre die vereinzelt dastehende Krimikomödie Un milliard dans un billiard von Niklaus Gessner.
Gefängnis Genf
Anders als Bäckerei Zürrer entwikkeln die Genfer Filme ihr Thema statt aus der idyllisierenden Beschreibung des einen oder andern Quartiers aus der ambivalenten Haltung ihrer Protagonisten gegenüber der Stadt heraus. Die provinzielle Enge der Verhältnisse, die Intoleranz der Menschen, die armselige Spiessigkeit eines allzu präzis geregelten, rundum verwalteten Lebens und nicht zuletzt die nur scheinbare politische Freiheit werden wohl beklagt. Doch ein entsprechendes Abhauen – und zwar häufiger in die Fremde als aufs Land hinaus – wird dann höchstens intensiv erwogen und nur zu selten verwirklicht.
Selbst wenn die Bewohner, heisst das, nicht mehr besonders viel für ihre Stadt übrig haben, müssen sie sich darin schicken, dass gerade dieser Ort, zu dem es anscheinend keine Alternative gibt, den Schauplatz ihres weiteren Lebens bilden wird. Sicher bleibt der Gedanke lebendig, anderswo spiele sich noch wirkliches Leben ab. Doch die verschämten Träume davon, die sich Heiri Bünzli wenigstens im Bett erlaubte und die Lindtberg durchs Auswärtsproduzieren zu verwirklichen trachtete, gehen den Genfern von vor und nach 1968 aus. Und wenn sie nicht nach Philisterart zur Einsicht kommen, zu Hause sei es immer noch am schönsten, dann begreifen sie am Ende wenigstens, dass es im Dasein auf den Ort vielleicht doch etwas weniger ankommt, als sie glaubten, und dass mit dem Reflex, der für alles die ungünstig wirkende Umgebung haftbar macht, bloss das eigene Versagen maskiert werden soll. Die Folge ist ein häufiges launisches Ausweichen nicht in die Fremde, sondern ins jurassische Hinterland Gents, wo die ungeliebte, aber unverzichtbare Stadt wohl nicht mehr hinreicht, sich aber noch als nahe Ausgangsbasis empfinden lässt.
So bringt eine Zirkelbewegung die Genfer Filme an ihren Anfangspunkt zurück. L'invitation von Claude Goretta, Le retour d'Afrique und Jonas, qui aura 25 ans en l'an 2000 von Tanner heissen die entsprechenden Leitfilme der siebziger Jahre. Im Unterschied zu Frühs und Lyssys Zürcher Serien entwickeln sie kaum eine eigene ausdrückliche Ikonographie, die es darauf anlegte, die Örtlichkeiten auf Dauer wiedererkennbar zu machen. Eher schon hinterlassen die Arbeiten der Romands den Eindruck, die Confoederatio helvetica, wie sie sich in Genf darstellt – oder auch bald einmal in einer beliebigen andern Schweizer Stadt-, sei letztlich überall und nirgends zu finden.
Grauzone
Seinen ersten bewussten Ausdruck findet dieses Gefühl verschwimmender Grenzen und unbestimmt gewordener Zugehörigkeit 1979 in Tanners Messidor, der Stadt und Land unterschiedslos befährt. Mit Reisender Krieger von Christian Schacher oder Noah und der Cowboy von Felix Tissi als Nachfolgern in den achtziger Jahren, entsteht der Archetyp eines binnenschweizerischen road movie; scheint es doch nur. als müsste sich dieses Mobilität verherrlichende Subgenre, das Hollywood von Mitte der sechziger Jahre an entwickelt, so gut wie konstitutionel mit Visionen amerikanischer Weite verbinden. Die genannten Versuche zeigen, wie leicht es sich auf die notorische Engumgrenztheit helvetischer Verhältnisse übertragen lässt.
In der deutschen Schweiz vom Auftreten Frühs und in der Romandie vom Hinzukommen Soutters und Tanners an führen die Entwicklungen zusammengenommen dazu, dass die Filme mit städtischer Szenerie allerspätestens nach 1970 die Mehrheit bilden, was der mittlerweile eingetretenen Verstädterung entspricht. Der Heimatfilm seinerseits verschwindet keineswegs, sondern erlebt seit 1975 intermittierende Wiederbelebungsversuche, nicht zuletzt auch in der paradoxen Form etwa von Die plötzliche Einsamkeit des Konrad Steiner.
In den Fünfzigern wäre der Film von Kurt Gloor mit der Zürcher Altstadt als Szenerie in die Nähe Frühs gerückt worden. Zwei Jahrzehnte später wirkt das Bild, das er vom Leben im historischen Quartier entwirft, in einem Mass beschönigend, dass sich, hinterher gesehen, der Vergleich mit denen Schnyders vordrängt. An seinen mittelalterlichen Gassen hängt der Titelheld Steiner mit ebensoviel Zähigkeit, wie es im vorigen Jahrhundert der emmentalische Gotthelf-Bauer mit seinem Boden tut.
(Bild: Messidor)
Zugleich aber markiert, so überraschend es klingt, gerade auch wieder der Film von Gloor zumindest im Ansatz als erster die Haltung gegenüber der Stadt, die dann im zeitgenössischen Schweizer Film vorherrschen wird. Die Genfer Beispiele verrieten weniger ein entsprechendes Unbehagen allgemeiner Art als vielmehr eines, das vom erstickend provinziellen Charakter des Daseins in der spätcalvinistischen Kleinmetropole herrührte. Nun wendet sich in Die plötzliche Einsamkeit des Konrad Steiner, wie schon der Titel nahelegt, die Stadt bedrohlich gegen einen ihrer Bewohner, der sie bis dahin als seinen vertrauten und förderlichen Lebensraum empfunden hat.
Erst beim einzelnen, bald bei vielen fügen sich Enteignet-, Ausgegrenztund Vertriebenwerden zu einer neuen Erfahrung, die kaum noch etwas mit der voreingenommenen Ablehnung alles Urbanen durch die Ruralenthusiasten früherer Jahrzehnte gemein hat. Zentimeterweise ist die Stadt zum besetzten Gebiet geworden. 1m Grenzfall frisst sie nun die Städter auf. Für seinen Spielfilm nutzt Gloor etliches von dem, was in seinem Dokumentarfilm Die grünen Kinder erarbeitet worden ist, desgleichen aber, zur selben Zeit, von Nina und Hans Stürm in einem weiteren kritischen Essay, Zur Wohnungsfrage 1972. Beide Untersuchungen gelten Ursprung, Zielen und Folgen ungemilderter freiwirtschaftlicher Zivilisierungsdynamik.
Maschine und Moloch
Die Rebellion von 1968, in ihrem Grundzug politisch, hat ihre Auswirkung auf das Filmmotiv Stadt vornehmlich in der Genfer Produktion gezeitigt, die so gern einen gewissen Überdruss am urbanen Leben demonstriert. Viel gezielter als ihre Vorgängerin stellt dagegen die Bewegung von 1980, auch wenn sie in vielen andern Dingen diffus scheint, die städtischen Verhältnisse in Frage, die mittlerweile zu den Verhältnissen überhaupt geworden sind. Dementsprechend reich ist, auf Videoschirm und Leinwand, der Niederschlag in der Deutschschweiz, und zwar setzt er nicht erst mit der eigentlichen Strassenkampfoper Züri brännt ein, sondern schon etwas vorher mit Grauzone von Fredi M. Murer; um nicht noch ein wenig früher, 1978, bei Kleine frieren auch im Sommer von Peter von Gunten einzusetzen, einem ersten Beispiel der späteren eigentlichen Berner Kinogeschichten, oder bei Kleine Freiheit, in dem Hans-Ulrich Schlumpf das Verschwinden von Schrebergärten am Stadtrand dokumentiert und als Einbusse an Lebensqualität deutet.
Doch ist es sicher die Arbeit Murers, die mit schlüssiger Sinnfälligkeit unterstellt, das unbehagliche Gefühl des Bedrohtseins und die Angst vor dem Weggewiesenwerden könnten in kollektive Auflehnung umschlagen. Meint der Titel eigentlich das Niemandsland zwischen Stadt und Nichtstadt, jenen Betongürtel, der seit dem Weltkrieg zusetzt und jetzt allmählich die älteren Quartiere stranguliert, so liesse sich sehr wohl auch an eine andere Grauzone denken, nämlich an diejenige zwischen dem Ende der stillen Unzufriedenheit und dem Beginn ausdrücklichen Widerstands, wenn nicht sogar an die zwischen individueller und gemeinschaftlicher Gegenwehr.
Am nachdrücklichsten überhaupt beschäftigt sich denn der Schweizer Film gerade in den achtziger Jahren mit dem Motiv der Stadt. Pius Morger realisiert eine eigentliche Trilogie – Zwischen Betonfahrten, Windplätze: Aufgerissen und Aus allem raus und mitten drin, die ein betoniertes, windiges, aufgerissenes Zürich zeigen, allseits geschunden und widerhallend vom Lärm geleisteten Widerstands und handfest praktizierter Repression. Mehr denn je ist es überall und nirgendwo zu finden und wird sich bis 1990 in Zürich-Bern-Basel von Thomas Imbach vollends zum blossen Angelpunkt eines zusammenhängenden Städtedreiecks und megalopolitanen Ballungsraums zergliedern.
Die gefrässige Tunnelfräse, die sich in Aus allem raus und mitten drin dröhnend durch den städtischen Untergrund bohrt, um Platz für neuen Massenverkehr zu schaffen, wird zum epochalen Sinnbild für die Maschine Stadt, an der da mit unbegrenztem Aufwand gebaut wird und, wie sich zeigt, mit ebensolcher Ausdehnung in die Vertikale wie in die Horizontale. Einern bösen Märchendrachen gleich, wenn nicht sogar dem eigentlichen Moloch gerade auch aus Fritz Langs Metropolis ähnlich, steht das ungeheure Gerät nicht viel anders für die neue Zeit, wie die Bäckerei Zürrer an der Langstrasse den Kleingeist und die vergleichsweise läppischen Kümmernisse der fünfziger Jahre lokalisierte.
(Bild: Züri brännt)
Um die exemplarischen Arbeiten Morgers herum gruppieren sich weitere Filme, die auf ähnliche Weise ausführen, wie sich im Alle-gegen-alle der Stadt, sei's der einzelne, sei's das Kollektiv, entweder behauptet oder aber untergehen muss. Überwiegend geben sich die fraglichen Filme problematisierend wie bei Jürg Helbling in Zum Beispiel Sonja W. oder bei Christoph Schaub in Dreissig Jahre, doch erscheinen sie auch als Komödien wie bei Sebastian C. Schroeder in O wie Oblomow oder bei Remo Legnazzi und Giemens Klopfenstein in einer weiteren Berner Kinogeschichte, E Nachtlang Füürland. In neuester Zeit haben die grellen Fixer-Tragikomödien Don't mindfuck me und Heiter von Michael Rauch ein übriges getan, um mit abschliessender Radikalität offenzulegen, was der sieggewohnte Moloch den Aufgegebenen, Unterlegenen, weniger Resistenten antun kann.
Niemals stadts genug
Dennoch, einfach allgegenwärtig wird nun im Schweizer Film von heute die fundamentale Desperatheit des bewegten Zürich auch wieder nicht, wofür zuvorderst Bernhard Giger besorgt ist. Winterstadt, Der Pendler und Tage des Zweifels beschreiben – mit Aus heiterem Himmel von Felix Tissi in ihrem Schlepptau – Bern eher wieder ähnlich, wie das Genf der Sechziger und Siebziger seinen Autoren erschien, nämlich als einen Ort zum Davonlaufen, vor dem es aber kein wirkliches Entrinnen gibt.
Und es werden überhaupt ältere Formen weitergeführt, ja der Anschluss an sie wird ausdrücklich gesucht. Samir knüpft in Filou wie in Immer & ewig, Markus lmboden in Bingo wieder bewusst bei Früh und namentlich bei Bäckerei Zürrer an, gerade um erkennen zu lassen, wie sich beidseits der Langstrasse vieles, aber denn doch nicht ganz alles zur ominösen Schweineallee degradiert hat. Im märchenhaften Konzert für Alice wagt sich Thomas Koerfer sogar an eine umsichtige Wieder-ldyllisierung der Zürcher Altstadt heran, und in der Geschichte der Nacht verzaubert Clemens Klopfenstein den Asphalt geradezu. Hammer von Bruno Moll, La nuit de l'éclusier von Franz Rickenbach und La merdienne von Jeen-Frencois Amiguet wenden sich eher wieder Unserer Kleinen Stadt zu, deren gemeinschaftsfördernder Charme mindestens in den beiden letzten Fällen neu hervorgestrichen wird.
Spätestens seit Tanners Lissabon-Exkurs Dans la ville blanche von 1982 ist aber die vielleicht dauerhafteste Fortüne im ganzen fraglichen Sektor letztlich doch Bünzlis auswärtigen Grossstadt-Erlebnissen von heutzutage beschieden. Der eigenen Städte mehr denn je überdrüssig, suchen wohl alle Filmemacher, die es sich leisten können, das Schönere und Lebhaftere, aber vielleicht auch das Desolate und bloss Schaurigschöne, wenn nicht gar die eigentliche Ur-Schweineallee – in jedem Fall aber ganz bestimmt das mindestens quantitativ Grössere – in Berlin, München, Mailand, Genua, New York oder Los Angeles.
Die Vermutung jedenfalls, die schon 1930 die Träume des unvergessenen Fredy Scheim beflügelte und noch 1950 die internationalen Aspirationen Lindtbergs animierte, gilt offenbar auch noch sechzig oder vierzig Jahre danach als unwiderlegt. Niemals, wähnt man nämlich noch immer, werden die Städte Helvetiens für einen ausgewachsenen Weltbürger stadts genug sein, und die kosmopolitischen Zentren des Landes werden wohl ewig nur im Werden begriffen bleiben.
(Titelbild: Grauzone; letztes Bild: Geschichte der Nacht)