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Nachbeben 01

«Das ist eine Schweiz, die sonst kaum sichtbar wird»

«Wir haben mit einer Videokamera gedreht, haben oft mit Autofocus gearbeitet und dabei bewusst in Kauf genommen, dass die Kamera den Focuspunkt sucht. Oder die Kamera hatte Mühe mit dem Kontrastumfang, so dass die Schauspieler vom Gegenlicht überstrahlt werden.»

Text: Kathrin Halter / 01. März 2006

FILMBULLETIN Sie haben Nachbeben Ihrem Vater gewidmet. Weshalb?

STINA WERENFELS Er ist eine zentrale Figur in meinem Leben, auch wenn es darum geht, die Dinge zu betrachten: den Humor im Tragischen zu erkennen und das Tragische im Humor, dafür hat er mir die Augen geschärft.

FILMBULLETIN Die Figuren von Nachbeben sind ja wenig sympathisch. Sahen Sie eine Gefahr darin, dass die Zuschauer eine allzu distanzierte Haltung gegenüber den Figuren entwickeln und dabei quasi eine bequeme moralische Position einnehmen könnten?

STINA WERENFELS Es gibt da ein Tabu: Ich kenne jedenfalls keinen Schweizer Film, von Snow White mal abgesehen, der eine so privilegierte Schicht in den Mittelpunkt rückt. Das weckt Ressentiments. Ich versuchte, diesen mit Humor entgegenzusteuern. Dass die Figuren an der Party irgendwann zu «Gofen» werden und die Sau rauslassen, hat ja etwas Lustvolles; als Zuschauerin geniesse ich es immer, wenn Figuren an meiner Stelle alle Hemmungen und Fesseln fallen lassen. Mein Wunsch wäre es, dass man sich auf diese Welt einlässt, ohne gleich die Zensurschere anzusetzen und sich zu fragen: «Was habe ich mit diesen reichen Pinkeln zu tun?» Denn eigentlich haben sie viel mehr mit uns zu tun, als uns lieb ist. Hinzu kommt das puritanische Element, das verbietet, seinen Reichtum offen zu zeigen. Daraus entsteht eine Art doppeltes Tabu, an das ich bewusst gerührt habe.

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FILMBULLETIN Welches Verhältnis haben Sie denn persönlich zu Ihren Figuren?

STINA WERENFELS Dass jede der Figuren unsympathische Seiten hat, hat mit dem Thema Geld zu tun. Dieses bringt, einem Katalysator ähnlich, die Schattenseiten eines Charakters ans Tageslicht, und das ist dramatisch interessant. Ich fühle mich als Anwältin jeder Figur, insofern habe ich ein gutes Verhältnis zu ihnen. Anwältin heisst: ich muss eine Figur von innen heraus verstehen, ich darf sie nicht von aussen beurteilen. Vor allem HP, die kontroverseste Figur, ist mir sehr ans Herz gewachsen. HP verkörpert eine tragische Form von Männlichkeit. Er ist dem Ruf des Geldes gefolgt, weil er nicht mehr der kleine Bub aus der Unterklasse sein wollte, der auf den «Grind» kriegt. Dabei muss er stark sein – und scheitert. Michael Neuenschwander spielt diese Verschmelzung von Täter und Opfer in einer Person wunderbar. Den ursprünglichen Underdog erkennt man bei ihm an seiner Körpersprache, seiner Sprache überhaupt, die etwas Vulgäres hat; in den Codes der Banker erkennt man überdies den ehemaligen Händler. Händler sind ja überwiegend Jungs aus einfachen Verhältnissen, diejenigen, die zuunterst anfangen und am härtesten rangehen müssen: In der Hierarchie der Banker sind sie die Boxer im Ring.

FILMBULLETIN Und wie ist Ihr Verhältnis zu den weiblichen Figuren?

STINA WERENFELS Karin verkörpert quasi meine Angstvorstellungen vor einem Schicksal, das mich als Frau unter gewissen Umständen hätte ereilen können. Es gibt auch Ressentiments: ich identifiziere mich zwar stark mit Karins Ohnmacht, gleichzeitig macht sie mich wütend; unter dem feministischen Aspekt ist ihr Leben eine Katastrophe. Eine selbst gewählte Katastrophe, wohlgemerkt. Karin ist ja eine intelligente Frau, aber sie beklagt sich nur und gibt den andern Schuld. Das ist eine Haltung, die unter Frauen bestens bekannt ist und die Susanne-Marie Wrage in ihrem Spiel so hervorragend sichtbar macht.

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FILMBULLETIN Max wiederum, der Junge, wirkt wie eine Leerstelle des Films, die auch als Projektionsfläche funktioniert. Weshalb?

STINA WERENFELS Max ist ein Fragezeichen: Ist das unsere Zukunft? Er ist der Beobachter der Erwachsenenwelt, er steht an ihrer Schwelle. Und was er sieht, ist nicht schön. Wir leben in einer manisch-depressiven Zeit. Die Manischen sind ja die Motoren unserer Gesellschaft: Sie brauchen wenig Schlaf, sind schnell und leistungsstark und nehmen gerne Risiken auf sich. Und dann gibt es auf ihrer Kehrseite, zum Beispiel innerhalb des Systems Familie, die Depressiven, die Gelähmten. Max ist der Inbegriff dieser Lähmung, er verharrt in der Regression, kriecht der Mutter ins Bett.

FILMBULLETIN Woher stammt Ihr Interesse am Thema Geld?

STINA WERENFELS Es gibt ja die Figur der Sue, die von Bettina Stucky gespielt wird. Sue ist Baslerin und stammt aus dem Basler Grossbürgertum – mein Vater stammt aus einer solch grossbürgerlichen Familie aus Basel. Ich gehe, bei aller Dramatisierung, immer von dem aus, was ich sehe. Ich selbst ging in eine Privatschule und hatte viele Klassenkameraden, die Banker oder Anwälte wurden. Ich habe fast alle aus den Augen verloren, was auch damit zu tun hat, dass ich mich aus dieser sehr engen Gesellschaft befreien musste, unter anderem indem ich Filmemacherin wurde. Mein Interesse an ihnen ist aber geblieben. In den neunziger Jahren wurde zudem klar, dass unsere Gesellschaft mehr und mehr von der Wirtschaft bestimmt wird und nicht mehr von der Politik. Eine Anregung war insbesondere «Der flexible Mensch» von Richard Sennett, der präzise beschreibt, wie der neue Kapitalismus ins Privatleben eingreift.

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FILMBULLETIN Ist es ein Zufall, dass drei von vier Hauptdarstellern vom Theater kommen? Oder finden sich dort einfach die besten Leute?

STINA WERENFELS Es sind für mich meine Wunschdarsteller, und ich habe hart gekämpft, sie alle gleichzeitig zu bekommen. Sie sind durch das Theater geprägt, was heisst, dass sie auch eine intellektuelle Auseinandersetzung gewohnt sind. Und sie haben mit guten Leuten gearbeitet: Man merkt zum Beispiel Bettina Stucky die Arbeit mit Christoph Marthaler an. Ich gab den Schauspielern klare Rahmenbedingungen, das Thema war vorgegeben. Innerhalb dessen jedoch konnten sie viel improvisieren, machten sie mir Angebote bis hin zu den Dialogen. Diese grosse Freiheit wurde bis zuletzt beibehalten.

FILMBULLETIN Die Einheit von Zeit, Ort und Handlung in Nachbeben erinnert an ein klassisches Drama. Welche Vorteile bringt eine solche Beschränkung mit sich?

STINA WERENFELS Die Vorteile sind einmal schon rein logistischer Natur: Man muss beim Dreh nicht jeden Tag umziehen, sondern befindet sich quasi in einem geschützten Raum. Durch die Kontinuität entsteht viel mehr Flexibilität und Freiheit, so kann ich auch eher auf Vorschläge der Schauspieler eingehen. Und weil alle Schauspieler anwesend waren, konnte man auch neue Formationen ausprobieren et cetera. Die räumliche Beschränkung ermöglicht auch eine hohe Konzentration.

FILMBULLETIN Es gibt Parallelen zu Thomas Vinterbergs festen, gerade in dramaturgischer Hinsicht. War das Dogmakino, bei aller Abgrenzung, auch Inspiration?

STINA WERENFELS Absolut, das Dogmakino ist sehr inspirierend. So wollte ich die Rolle des Au-pairs unbedingt mit einer Dänin besetzen. Das ist eine kleine Reverenz ans dänische Kino. Trotzdem wollte ich keinen Dogmafilm machen.

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FILMBULLETIN Gar nicht ans Dogmakino erinnert hingegen die Kameraarbeit von Piotr Jaxa. Die Bilder sind ja sehr ästhetisch.

STINA WERENFELS Ja, unbedingt, aber es waren einfache Mittel. Die Kunst bestand darin, mit einer Videokamera frei zu bleiben und doch keine Dogmaästhetik zu bekommen. Mir war das wichtig: Denn wir zeigen eine Welt schöner Oberflächen – und konstrastieren damit die Hässlichkeit menschlicher Handlungsweisen. Jaxa hat viel als Standfotograf (unter anderen bei Kieslowski) gearbeitet und ist mir durch seine Dokumentarfilme aufgefallen. Den visuellen Stil haben wir während der Proben gemeinsam entwickelt.

FILMBULLETIN Aufgefallen ist mir ein Spiel mit Schärfen und Unschärfen: ein Wechsel vom Vordergrund auf den Hintergrund etwa. Wie bewusst wurde dies eingesetzt?

STINA WERENFELS Das ist ja ein beliebtes Mittel bei 35mm. Wir haben aber mit einer Videokamera gedreht. Wir haben oft mit Autofocus gearbeitet und dabei bewusst in Kauf genommen, dass die Kamera den Focuspunkt sucht – so wurde dieser Eindruck erweckt. Oder die Kamera hatte Mühe mit dem Kontrastumfang, so dass die Schauspieler vom Gegenlicht überstrahlt werden. Also verwendeten wir die Farbe Weiss bewusst als Stilmittel. Wir haben uns somit nicht gegen das Medium Video gewehrt. Dennoch hat uns beide überrascht, welch ästhetischer Glanz dabei entstanden ist. Darin zeigt sich eben die clevere Anwendung des Mediums. Auch der Kontrast von extremen Nahaufnahmen hin zu Totalen ist ein wiederkehrendes Motiv. So wurde mit einfachen Mitteln ein guter Look erzielt.

Das Gespräch mit Stina Werenfels führte Kathrin Halter

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2006 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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